Gespräch mit der „Operativgruppe“ der Arbeitsgruppe Sicherheit des „Runden Tisches“ zur Stasi-Auflösung

CILIP: Wann sind die ersten Bürgerkomitees gegen die Stasi entstanden?

Operativgruppe: So um den 4. Dezember herum. Es ging in den Südbezirken los, in Erfurt, Leipzig usw., weil dort die Repression von der Staatssicherheit am stärksten war. Wenn die Montags-Demos erst einmal etwas eingekreist haben, dann ist da nicht mehr viel zu verteidigen. Es sei denn, man greift zu den Waffen. Es kam hinzu, daß Leute, die gegen Eskalation von Gewalt waren, sich darum gekümmert haben, daß die Sachen friedlich besetzt werden.

CILIP: Wie war das in Berlin?

Operativgruppe: In Berlin war die ganze Situation anders. Hier lief alles artig weiter bis Mitte Januar. Die Stasi hatte anderenorts jeweils einige größere Objekte – die kannte man, das war die Bezirksverwaltung und die Kreisverwaltungen. In Berlin war die ganze Stadt zersetzt von Objekten, zu-sätzlich waren hier noch die zentralen Einrichtungen des MfS – da wußte man nicht, wo man anfangen konnte. Aber irgendwann, für den 15. Januar, rief das Neue Forum zu einer friedlichen Demo auf, mit Phantasie „Gegen Stasi und Nasi“. Die ist dann ein bißchen größer geworden, dann war die halbe Stadt hier, standen vor den Toren der Normannenstraße. Wir mutmaßen bis jetzt, daß die Stasi selbst die Tore aufgemacht hat. Da ist ne ganze Menge plumpes dämliches Zeug passiert, was u.E. zum Spuren verwischen diente. Z.B. sind sinnlos Gebäude gestürmt worden, Leute sind gezielt ganz konkret da oder dahin – es war recht eigenartig in dieser Situation.

CILIP: Am 15. Januar, als Modrow zum „Runden Tisch“ kam?

Operativgruppe: Die vom „Runden Tisch“ sind alle dann abends in die Normannenstr. gekommen und haben versucht, die Leute zu beruhigen, weil es wirklich drohte, zu eskalieren. Das Haus war ja bereits im Vorfeld von der Stasi im Großen und Ganzen verlassen worden, aber einige wenige Sachverwalter waren noch drin. Da wollten welche die Wände besprühen und einige hatten vor, die Tore zuzumauern, – damit haben sie auch angefangen. Bloß dann stellte sich heraus, daß die eine Seite die Tore zugemauert hatte, während andererseits die Massen weiter reinströmten. Nur war dann aber das Tor zugemauert. Eine fatale Situation eigentlich, keiner konnte vor und zurück, alles brüllte „Stasi raus“. Für mich war anfangs besonders verwunderlich, da gingen plötzlich die schweren Eisentore auf und drinnen steht die Bereitschaftspolizei. Ich dachte, nun wirds wohl losgehen. Und was machten die? Die hielten kleine Deutschlandfahnen aus ihren Kasernenfenstern raus.Das sollte wohl ein Friedensangebot sein. Das war dann diese Bereitschaftspolizei. Die sind voll akzeptiert, nicht angepöbelt worden.

CILIP: Das ist ja ein Phänomen, daß die Kritik an der Vopo in diesen Monaten sehr zurückhaltend war. War dies ein taktisches Verhalten, um zu verhindern, daß die beiden Apparate den Schulterschluß machen oder entspricht die vergleichweise geringe Kritik an der Vopo der realen Situation?

Operativgruppe: Wenn man alles kritisieren würde, was mit der Staatssicherheit zusammenhängt, dann müßte man das ganze Land auflösen. Die Vopo ist so fein-gliederig vom Stasi durchsetzt, das wußte man und man hat gesagt, irgendwo muß man eine Grenze ziehen. Und die Vopos fühlten sich in vielen Situationen selbst mißbraucht. Auch die Demonstrationen sind ja durch die Staatssicherheit selbst provoziert worden. Kritische Situationen wurden herbeigeführt von irgendwelchen Stasi-Leuten, die in der Demo mit dem Auftrag drin waren, aus einer friedlichen Demonstration eine ernstzuwerdende zu machen. Und da sind die Stasi-Leute automatisch mit der Polizei zusammengestoßen und ich glaube, daß die Vopos das mitgekriegt haben.

CILIP: War das Neue Forum am 15. Januar darauf vorbereitet, ein Bürgerkomitee zu bilden?

Operativgruppe: Nein, nur als der Sturm passierte, haben wir erklärt, wir brauchen jetzt ganz dringend Leute, die sich melden und die bereit sind, in irgendeiner Weise mitzuarbeiten. Das ist natürlich alles ohne jegliche Sicherheitsüberlegungen und -maßnahmen passiert und war schon sehr bedenklich.

CILIP: Wie hat sich das dann konsolidiert?

Operativgruppe: Das bildete sich dann Stück für Stück raus. Es wurden dann immer mehr, war nicht mehr übersichtlich. Dann bildeten sich einzelne Arbeitsgruppen, die wußten voneinander nichts, die arbeiteten im Prinzip gegeneinander, mißtrauten einander. Da waren einige wirklich sehr ungeschickt dabei, so daß dann vermutet wurde, daß die wohl eingeschleust seien. Wir hatten keine Möglichkeit zur ernsthafter Personalüberprüfung.

CILIP: Wie hat es dann das Bürgerkomitee geschafft, eine arbeitsfähige Gruppe zusammenzubekommen?

Operativgruppe: Das Problem bei solchen Sachen ist immer wieder, daß Du feststellst, daß komischerweise nur die Linken am konstruktivsten arbeiten, obwohl die meisten von denen Opfer waren – aber Randale haben am 15. wirklich nur die Rechten gemacht. Die sind mit deutsch-nationalen Fahnen hier durchs Terrain gelaufen, um jetzt hier ihr Mütchen kühlen, als es um nichts mehr ging. Auch hier in dieser Gruppe sind keine Rechten. Von der CDU ist keiner da, nicht vom Demokratischen Aufbruch, die DSU gibts überhaupt nicht.

CILIP: Und gibt es auch eine persönliche Motivation mitzuarbeiten?

Operativgruppe: Nun, irgendwie haben die einen mitgemacht und die anderen haben sich verweigert. Du hast Dich eben jahrelang zu wenig gewehrt, sagst du dir. Dann mußt du jetzt eben was machen. Es gibt jetzt viele an der Spitze der Opposition, die haben viel mehr gelitten. Ich bin nie im Knast gewesen. Ich bin zwar verhört worden, aber ich habe mir dann gesagt, du hast Frau und Kinder und so weiter, … dann hast du immer wieder den Schwanz eingezogen, hast zwar nach 14 Tagen oder nach 4 Wochen das nächste Ding gemacht, aber immer auch die Grenze beachtet.

CILIP: Wie sieht die innere Organisation des Komitees hier in Berlin aus?

Operativgruppe: Es gibt erstmal die Bürgerkomitees, die sich landesweit in allen Bezirken organisiert haben. Wir sind heute hier das „Komitee zur Auflösung des Stasi“, und das ist ja schon wieder dieses staatliche Gegenüber. Wir haben eine Zeit lang hier wirklich mit artistischen Akten diese ganze Kontroll- und Auflösungarbeit betrieben und sind einfach arbeitsmäßig nicht mehr hinterhergekommen. Da wurde nach Vereinbarungen zwischen der Regierung Modrow und dem „Runden Tisch“ ein „Komitee zur Auflösung des Stasi“ gegründet. Und das ist eigentlich in dem Sinne kein Bürgerkomitee mehr. Das ist schon wieder ein Staatsakt. Wenn man sich unsere Besetzung anguckt, dann merkt man, daß wir hier schon wieder nicht mehr die sind, die es eigentlich sein müßten. Es müßten viel mehr Leute aus den Bürgerkomitees hier reinwachsen. Es tauchen schon wieder in diesem 200 Mann-Grüppchen die alten Leute auf: die Juristen, ordentliche Beamten und viele Mitarbeiter des ehemaligen MfS.

CILIP: Wer entscheidet, welche Leute bei der Stasi-Auflösung mitarbeiten?

Operativgruppe: Eigentlich ist unser Einfluß groß. Ich werde dreimal die Woche angesprochen, ob ich nun endlich hier fest mitmachen will. Das Problem ist, die Leute, die es eigentlich machen müßten, sind grundweg irgendwelche Pa-zifisten, Leute aus irgendeiner anderen Szene, die leben ganz anders. Die sind nicht in der Lage, von früh um sieben bis fünf Uhr hier an irgendeinem Schreibtisch zu sitzen. Und die Beamten, die jetzt überall aus den Ämtern fliegen, die stehen hier Schlange, um den Job zu kriegen. Die sind überhaupt nicht motiviert, die waren nie Opfer, die haben keine Schuld abzutragen.

CILIP: Wie schätzt Ihr die Situation nach den Wahlen ein?

Operativgruppe: Ich glaube, daß es hier eine rein bürokratische Organisation wird. Das Risiko ist enorm hoch. Man weiß natürlich nicht, wie die Regierung reagiert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich hier die Macht übernehme und mir einen Sicherheitsapparat gefallen lassen würde, den ich nicht unter Kontrolle habe. Also muß die neue Regierung irgendetwas machen.

CILIP: Welche Funktionen habt ihr als Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Sicherheit des „Runden Tisches“ heute?

Operativgruppe: Die Arbeitsgruppe Sicherheit ist eine Truppe, die jetzt theoretisch landesweit agieren darf. Von der Menge her kannst du das natürlich nicht. Da ist eine Gruppe dabei, die kümmert sich um die ganzen Bunker und Nachrichtentechnik. Andere versuchen hier, die ganzen krummen Geschäfte raus-zukriegen. So wurden jetzt irgendwelche Betriebe gegründet, die praktisch ganze Stasi-Abteilungen übernommen haben. Es ist praktisch so, daß wir auf Zuruf Stichproben machen. Hier kommen auch alle möglichen Bürger hin, die sagen, da ist das und das. Von uns fahren dann Leute einfach mal raus, gucken sich die Sachen an und schreiben Protokolle, die gemeinsam ausgewertet werden.

CILIP: Wie habt Ihr konkret die Auflösung des Stasi angepackt?

Operativgruppe: Anfangs sind wir daran gegangen, die „Entwaffnung“ der Stasi zu überprüfen. Die Staatssicherheit hat ja viele Aufgaben, die woanders Polizeiarbeit sind, – bestimmte Polizeiarbeiten am Flughafen oder Personenschutz. Wenn du das komplett auflöst, dann fehlt da irgendwas. Wenn du jetzt so einen Bereich hattest, dann haben wir uns hingesetzt, nehmen wir jetzt das Ministerium für Innere Angelegenheiten, und dann wurde gesagt, die und die neuen Aufgabengebieten, die werden jetzt dem Ministerium übertragen. Und dazu müssen die natürlich auch Leute haben – und damit geht das los. Die haben dann 60 Kriminalisten beantragt, die sie ganz dringend bräuchten, nur die können die Ermittlungen machen. Die Kriminalpolizei sei technisch überhaupt nicht in der Lage dazu. Dann haben wir uns auf bestimmte Bedingungen geeinigt: z.B. dürfen die übernommenen Stasi-Leute keinerlei Leitungsfunktion übernehmen, müssen nachweislich Spezialisten sein, die bei der VP nicht vorhanden sind, sie müssen vom neuen Kollektiv akzeptiert werden usw. Auf diese Sachen haben wir uns geeinigt. Eine Forderung war übrigens auch, daß die Arbeitsgruppe Sicherheit jeweils von den Einstellungsgesprächen informiert werden muß und bestimmte Protokolle geführt werden. Nichts von alledem ist er-folgt. Irgendwann kriegten wir so einen Wisch, daß sie insgesamt 115 Objekte übernommen haben und 1.500 Fahrzeuge und 3.000 und noch mehr Spezialisten. Und da haben wir jetzt versucht, so Stichproben zu machen, und da stellte sich raus, daß es erstens weder alles Spezialisten waren, noch daß sie nicht in Leitungsfunktion eingestellt waren. Alle Bedingungen, die wir gestellt haben, wurden knallhart nicht erfüllt. Dies führte zur Beschwerde beim Innenminister und der Einsetzung von Brinksmeier, einem Mitglied der AG Sicherheit, der jetzt praktisch neben dem Innenminister steht.

CILIP: Die kontrollieren jetzt auch die Einstellungen?

Operativgruppe: Die könnten das jetzt theoretisch auch alles wieder zu-rückdrehen. Brinksmeier sitzt jetzt praktisch schon da und Minister Ahrend, der darf nur noch unterschreiben, wenn Brinksmeier die Unterschrift mitträgt. Und wenn die sich nicht einigen können, dann muß Modrow dazu kommen. Wenn ich jetzt bei der Auflösung Probleme mit der Polizei habe, dann rufe ich Brinks-meier an.

CILIP: Wie ist das mit der Spionageabteilung ? Sie operiert ja, sagen manche Leute, noch so gut wie im Dezember oder vorher.

Operativgruppe: Es wurden alle möglichen Versuche unterbreitet, diese Abteilung am Leben zu halten und es muß irgendwo gelungen sein. Auf jeden Fall haben wir jetzt eine Sonderregelung getroffen, daß deren Auflösung besonders lange dauern darf, weil du kannst deren Leute im Ausland mit ihren Familien nicht in der Luft hängen lassen. Du willst, daß der Schwachsinn aufhört, aber Menschen ausliefern, willst Du auch nicht. Es wurde angeboten, zu reduzieren. Jetzt hat man sich auf eine Notbesatzung geeinigt, mit stark verringertem Personal, die die Auflösung betreibt. Aber inwiefern das alles kontrollierbar ist?

CILIP: Das ist gewissermaßen eine Grundsatzentscheidung, zu sagen, das wich-tigste ist erstmal die Inlandstätigkeit des Stasi?

Operativgruppe: Ich habe da einen hohen HVA-Offizier (Hauptabteilung Aufklärung), mit dem ich zusammen Kaffee trinke und mich unterhalte. Das sind wirklich Geheimdienstler. Die können heute noch nicht verstehen, daß damals die Hauptabteilung Aufklärung ins MfS eingegliedert wurde. Es gab im Grunde genommen in der Staatssicherheit zwei Bereiche, wo du sagen kannst, das war Geheimdienst, die HVA und die Spionageabwehr. Und die haben sich auch mit anderen Abt. des MfS überhaupt nicht verstanden. Ich habe mich auch schon mit mehreren sog. Auslandsaufklärern unterhalten, die eindeutig Angebote haben aus dem Westen: 100.000 DM, wenn ihr kommt, nur dafür, daß ihr kommt. Und die gehen nicht. Große Leute sind noch nicht abgehauen von der Auslandsspionage. Die Motivation der Leute ist eine ganz andere. Innerhalb der DDR konntest du inoffizielle Mitarbeiter krumm machen. Die haste erpreßt, hast falsche Sachen zusammengezimmert. dies konntest du in der HVA einfach nicht machen! Wenn einer ins Ausland gefahren ist und der wäre abgesprungen vom Zug, wäre die Sache gegessen gewesen. Also, ich gehe davon aus, daß große Teile der HVA zum KGB gegangen sind. Ja, na und?

CILIP: Welche Rolle spielen die Staatsanwälte?

Operativgruppe: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Staatsanwälte, die rennen vorneweg, die reißen Türen ein, die sind aber leider sehr selten. Meist haben wir diese laschen Typen, die hängen rum, die haben ein bißchen schlechtes Gewissen und begreifen gar nicht, daß sie ihren Chefs von vorgestern an die Wäsche sollen.

CILIP: Gibt es einen formellen Beschluß über Eure Kompetenzen, z.B. den Staatsanwälten gegenüber?

Operativgruppe: Wir haben das Problem, daß wir im rechtsfreien Raum arbeiten und daß Kompetenzen nicht geklärt sind und wir unter Handlungszwang stehen. Es gibt immer wieder so Typen unter den Staatsanwälten, die dann feststellen, jetzt seid ihr zu weit gegangen, wenn wir z.B. etwas beschlagnahmt haben. Aber die Tatsache war doch, daß der Staatsanwalt das schon sechs Wochen davor beschlagnahmen wollte, nur der hats nicht gemacht. Also hätte doch etwas gegen den Staatsanwalt eingeleitet werden müssen wegen mangelhafter Dienstausführung. Dies ist eine Frage des Durchsetzungsvermögen. Du mußt sie anweisen. Na ja, ein Weisungsrecht in dem Sinne hatten wir natürlich nicht. Die sind schon mitgekommen wie die Dackel.

CILIP: Und wenn ihr Sachen, Personen, Vorfällen auf die Spur gekommen seid, wo Ihr den Eindruck hattet, das ist strafbar, wenn ich einen verhöre. Habt Ihr dann den Staatsanwalt geholt?

Operativgruppe: Im Prinzip haben wir das bis jetzt gesammelt. Der Staatsanwalt müßte schon selbst daran gehen, bei dem Wissensstand, den er hat – nur macht er nichts. Um mit einigen Sachen durchzukommen, muß ich dem Staatsanwalt sagen, das und das will ich haben, und ich will auch ein Ermittlungsverfahren. Das haben auch viele Bürgerkomitees gemacht.
Manchmal lohnt es sich auch einfach nicht. Wir haben z.B. mehrere Stasi-Mitarbeiter erwischt, die noch Akten vernichtet haben, nachdem die Anweisung kam, daß dies verboten sei. Was machst du aber mit solchen niederen Chargen, die in ihrer Angst irgendwelches Zeug vernichten? Die zittern dann und sind ganz aufgeregt und haben einen roten Kopf.
Auf die Großen mußt Du Jagd machen.

CILIP: Wie ist es mit der Bereitschaft der alten Stasi-Beschäftigten, jetzt an ihrer eigenen Auflösung mitzuarbeiten?

Operativgruppe: Viele dieser Leute haben mit dem System eigentlich gebrochen, wollen damit nichts mehr zu tun haben. Es kommt hinzu, daß die Stasi geheim-dienstlich strukturiert war, das heißt, die Mitarbeiter auch voneinander ab-geschottet waren. Klar gibt es ein paar Überschneidungen. Ich habe am Anfang lange suchen müssen, einen zu finden, der als Einzelner mir fast die gesamte komplette Struktur der Stasi erklären konnte. Von den unteren Leuten kommt nichts. Ich habe es mir natürlich angewöhnt, recht bald richtig journalistisch zu recherchieren, damit die Sache hart wird, und dann merkst du dann öfter, daß Leute mauern, daß sie Halbwahrheiten erzählen, daß sie auch lügen, daß sie nichts erzählen wollen, nichts erzählen können.
Aber du erfährst jede Menge über Struktur und über Motivation, Werto-rientierung und wie das Selbstkonzept zusammengestürzt ist – und das ist si-cherlich auch hochinteressant.

CILIP: Ist noch ein starkes Interesse der Bürger an der Auflösung der Stasi zu erkennen, kommt noch deutliche Unterstützung?

Operativgruppe: In letzter Zeit kann man davon ausgehen, daß alles doch irgendwie eingelullert ist. Wir haben das auch irgendwie laufen lassen, weil wir keine weitere Panik und Hektik haben wollen, wir haben keine Angst vor einer Reorganisation im Moment. Die meisten haben angefangen, sich wieder einzurichten, sich um den politischen Tanz zu scharen, sich nicht um unsere Arbeit zu kümmern. Viele Parteien haben hier nie mitgemacht, z.B. der „Demokratischer Aufbruch“ oder die CDU.

CILIP: Wird es nach 40 Jahren Erfahrung mit dem Stasi in der Bevölkerung genug Widerstand geben, falls ein neuer politischer Überwachungsapparat, ein sogenannter Verfassungsschutz etwa, neu aufgebaut werden sollte?

Operativgruppe: Es gibt ein linkes Spektrum, das zur Zeit unheimlich viel zu sagen hat, aber die spielen in der Masse überhaupt keine Rolle. Die Leute wollen jetzt endlich reich sein. Denen ist das scheißegal, und den Verfassungsschutz gibt es in allen Ländern, warum bei uns nicht?

CILIP: Wer entscheidet über den Quellenschutz nach welchen Kriterien?

Operativgruppe: Was den Quellenschutz angeht, so ist dies ein gewaltiges Problem. Wir fürchten, daß wir auf einen Bürgerkrieg hintreiben, wenn die Namen der Spitzel bekannt würden. Es würden sich schon Leute finden, die einen Stein in die Hand nehmen und schmeißen. Nur ist es ja unser Anliegen gewesen, daß wir, egal was wir hier machen, es auf jeden Fall gewaltlos betreiben. Und wenn du das machen willst, dann verpflichtest du dich – mehr pro forma, ich habe nie etwas unterschrieben – daß du keine Namen und Personendaten rausgibst.

CILIP: Wie steht Ihr zur Frage der Aktenvernichtung?

Operativgruppe: Ich gehe davon aus, daß die wirklich heißen Sachen weg sind. Wir müssen einen Weg finden, das Zeug zu schützen. Daß wir aber ernstzunehmend das Material vor dem Bundesnachrichtendienst schützen könnten, glaube ich nicht. Das, was die wissen wollen, wissen die schon. Ich gehe davon aus, die kriegen jetzt so viele Informanten von Stasi-Leuten, die noch mal was verkaufen wollen. Das einzige, was wir im Fall einer Vernichtung nicht mehr haben, ist die Möglichkeit, vernünftig zu recherchieren und vernünftig aufzuarbeiten.
Wenn es nach mir ginge, erhielte jeder seine Akte. Die Konsequenzen muß doch jeder mit sich selbst abmachen. Ich meine, es gab genügend Rufer aus der Wüste, die schon die ganze Zeit gesagt haben, daß das System korrupt ist, daß sie sich bereichern, daß die Stasi menschenverachtend und feindlich ist. Ich bin dafür: jedem seine Akte.

CILIP: Geht das denn überhaupt? Beim VfS ist die Aktenführung so bescheuert, daß dies technisch kaum zu machen wäre.

Operativgruppe: Selbstverständlich hast Du nicht irgendwo einen großen Hefter, den du nimmst und das ist jetzt deine Akte. Du bist hier gespeichert, in der Abteilung, und da, da, da; das alles zusammenzusammeln, das wird schon dauern.

CILIP: Und diese Fragen sind noch völlig offen?

Operativgruppe: Ja, alles was da bisher von der AG Sicherheit diskutiert wurde, waren mehr oder weniger nur Vorschläge – bis auf den Punkt, daß alle elektronischen Datenträger vernichtet werden sollten und inzwischen wurden, um einen Schnellzugriff durch andere Geheimdienste zu vermeiden.
Es bestand für uns die Forderung, daß man uns garantieren sollte, daß alles nochmal in Schriftform vorliegt.

CILIP: Ist klar, daß die Akten auf jeden Fall erhalten bleiben ?

Operativgruppe: Es wird dahingehen, daß die neue Regierung so einen Stufenvorschlag macht. Ich bin mittlerweile dafür, daß das, was wir hier noch haben, zu sichern und zu erhalten ist. Aber ob das praktikabel ist?
Die Vorschläge zur Aktenvernichtung kommen immer aus ganz bestimmten politischen Ecken. Da hast du schon Schwierigkeiten mit. PDS und die ehemaligen Blockparteien schlagen immer vor, alles zu vernichten. Das sehe ich gar nicht ein. Nur hast Du ja nie den Nachweis, was echt ist – das sieht man jetzt mit dem Schnur. Jetzt kann es genauso passieren, daß im Laufe der Zeit durch irgendwelche Leute da gefälschte Dinger reinkommen und dann werden die Leute bearbeitet, die eigentlich sauber sind.

CILIP: Bürgerkomitees haben sich nicht nur zur Auflösung der Stasi gebildet. Welche Chancen gibt Ihr den Bürgerkomitees nach den Wahlen und neben den Parteien?

Operativgruppe: Ich denke, daß sich da irgendwas etablieren wird, wie drüben die Alternative Liste. Die werden sich von einigen Leuten trennen und irgendwann formieren. Das hat bei Euch über sechs Jahre gedauert und kann bei uns nicht in sechs Wochen passieren. Da sind ja wirklich gute Leute bei, die in der Lage sind, hier was auf die Beine zustellen. Das wird sich bilden, ist doch alles verboten worden über die Jahre. Daß man sich in Wohngebieten organisiert, am Prenzlauer Berg natürlich stärker als in Marzahn, das kommt schon. Da ist eine ganze Menge in Bewegung, ich hoffe auch, daß uns die Apo-Zeit noch bevorsteht.

Das Gespräch wurde am 15. März d.J. mit zwei Mitarbeitern geführt, die in der Stasi-Zentrale Normannenstraße die Auflösung überwachten.