Schengen in den Niederlanden

von Peter Klerks

Unabhängig von ihrer jeweiligen parteipolitischen Orientierung waren die aufeinanderfolgenden niederländischen Regierungen durchweg Europa-freundlich, was sich wohl daraus erklärt, daß ein kleines handelsorientiertes Land dazu gezwungen ist, den bestmöglichgen Kontakt mit seinen politisch und wirtschaftlich mächtigen Nachbarn zu halten. Im Rahmen der Benelux-Wirtschaftsunion haben die Niederlande bereits in den 50er und 60er Jahren eine Pionierrolle für die internationale Zusammenarbeit auch der Polizeien eingenommen. Um so erstaunlicher war es, daß der niederländische Staatsrat 1991 ein – auch außerhalb des Landes viel beachtetes – negatives Votum zu Schengen abgab. Trotz der Tatsache, daß sich hier eine offizielle Institution gegen das Abkommen stellt und damit die Kritik aus den Reihen fortschrittlicher Juristenorganisationen und der Immigrantenunterstützer bestätigt, stehen die Chancen der Opposition in den Niederlanden relativ schlecht. Die Vorbereitungen auf eine verstärkte europäische Zusammenarbeit der Polizeien sind längst in vollem Gange. Sie sind auf dem Hintergrund von erheblichen Veränderungen im niederländischen Polizeisystem zu sehen.

Der Hintergrund: Zentralisierung und Kampf gegen organisierte Kriminalität

Voraussichtlich Mitte des kommenden Jahres wird das Schengen-Informationssystem aufgebaut sein. Die erste parlamentarische Debatte über das Abkommen wird für Anfang 1992 erwartet. Vor diesem Hintergrund wenn auch nicht unbedingt im direkten Zusammenhang damit sind größere Veränderungen im niederländischen Polizeisystem im Gange, wie sie auch in anderen EG-Ländern vielfach mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität einhergehen.

Die Debatte um OK bekam im Sommer des Jahres neue Nahrung durch einen regelrechten „Korruptionsschock“ in der holländischen Presse. Der Inlandsgeheimdienst BVD (Binnenlandse Veiligheidsdienst) ermittelte bereits seit 1989 gegen Polizeibeamte surinamischer Herkunft wegen angeblicher Verbindungen zur dortigen Drogenmafia. Der Militärjunta der ehemaligen holländischen Kolonie wird nachgesagt, mit kolumbianischen Kokain-Kartellen zusammmenzuarbeiten. Der Geheimdienst Surinams soll über Agentenringe in Europa, insbesondere in Holland, an der Verbreitung der Droge beteiligt sein.
Der Korruptionsschock wurde weiter genährt durch die Ergebnisse einer Studiengruppe „organisierte Kriminalität“: Auf der Basis von „Crime analysis“-Verfahren, die die holländische Polizei im vergangenen Jahrzehnt dem britischen Beispiel folgend einführte, behauptet die Gruppe, daß die Zahl in den Niederlanden ansässiger krimineller Organisationen doppelt so hoch sei wie angenommen. Mehr als 100 solcher Organisationen würden erfolgreich durch Bestechung Politik und Wirtschaft infiltrieren.
Das Parlament diskutiert ferner eine Reihe tiefgreifender Vorschläge, nach denen u.a. bereits die Vorbereitung eines Verbrechens mit acht und mehr Jahren Gefängnis bedroht werden soll. Der Polizei soll die Anwendung von Richtmikrophonen und Wanzen erlaubt werden. Für die Ermittlung von Computerkriminalität soll sie weitgehende Durchsuchungsbefugnisse erhalten, die auch die Durchsuchung von Computern, die der Verdächtige benutzt haben soll, einschließen. Nach dem Motto „mitgefangen – mitgehangen“, soll der Staatsanwalt gegen ganze Gruppen vorgehen dürfen, wenn eines der Mitglieder Gewaltakte begangen hat, eine Regelung die vor allem für Hooligans und Hausbesetzer Folgen haben dürfte.

Neben diesen Bestrebungen, den polizeilichen Vorfeldermittlungen im Straf- und Strafprozeßrecht eine rechtliche Grundlage zu geben, ist die jüngste Entwicklung der holländischen Polizei durch einen Prozeß der Zentralisierung gekennzeichnet. Nachdem dieser Zentralisierungsprozeß im vergangenen Jahrzehnt eher schleppend von statten ging, sollen nun die xx kommunalen Polizeien (und die xx Staatspolizeiinspektionen) endgültig zugunsten von 23 Polizeiregionen abgeschafft werden. Damit verlieren einerseits die Bürgermeister (und mit ihnen die Gemeinderäte) weitgehend den Einfluß auf die Polizei. Zum anderen erhalten die zentralen Polizeien eine stärkere Bedeutung: die kriminalpolizeiliche (Informations-)Zentralstelle CRI (Centrale Recherche Informatiedienst) sowie die bisher formal dem Verteidigungsministerium unterstehende Mareechausee.

Vorbereitung auf die Festung Europa

Ein Teil der Organisationsreformen stehen in direktem Zusammenhang mit dem Schengen-Abkommen:
Mit dem Abbau der Binnengrenzen geht die traditionelle Aufgabe der Koninglijke Mareechausse (Kmar) zu Ende, die Bewachung der Grenzen, insbesondere zur BRD hin. Der vorhandene Apparat soll aber keineswegs verschwinden, denn diese „Waffe“ hat sich während der 80er Jahre mehrfach bei der Niederschlagung von Protesten bewährt und bildete stets auch eine Einsatzreserve sondern im Innern. Ab dem 1. Januar 1993 soll die Kmar die Verantwortung für die Überwachung sämtlicher niederländischer Flughäfen erhalten. Anwälte und Mitglieder von Flüchtlingsorganisationen berichteten bereits Mitte des Jahres, daß die Kmar auf dem Amsterdamer Flugfhafen Schiphol Ausländer direkt beim Ausstieg aus dem Flugzeug kontrolliere um bei fehlenden oder unvollständigen Papieren die Deportation sofort und selbst durchführen zu können. Asylanträge werden gar nicht erst angenommen, die Flüchtlinge direkt zurückgewiesen, womit ein Rechtsschutz vor Gerichten unmöglich gemacht wird. Demnächst sollen die Kontrollen durch die Kmar bis in ausländische Flughäfen vorverlegt werden. Angesichts der nach dem Schengen-Abkommen möglichen Sanktionen gegen Transportunternehmen, die „illegale Einwanderer“ befördern, wird damit gerechnet, daß die Fluggesellschaften diese Praxis akzeptieren werden.

Weitere 200 Kmar-Beamte sollen in den Großstädten zur Unterstützung bei der Überwachung von Ausländern eingesetzt werden, die ersten 50 begannen ihre Arbeit vor kurzer Zeit in Amsterdam. Die Kmar übernimmt damit in beiden Fällen Aufgaben, die bisher von der normalen Polizei – Gemeinde oder Staatspolizei wahrgenommen wurden, was selbst innerhalb der Polizei nicht mit Begeisterung aufgenommen wird.

Als indirekte Konsequenz der Aufhebung der Binnengrenzen im Rahmen des Schengen-Abkommens hat die Regierung die Einführung einer generellen Ausweispflicht angekündigt. Die Kontrolle illegaler Ausländer soll sich von den Grenzen in die Großstädte, in Straßen und Cafés, verlagern. Um Diskriminierung zu vermeiden, werden sich nicht nur farbige Menschen, sondern alle auf Aufforderung eines Polizisten ausweisen müssen.

Die Vorbereitung auf Europa beschränkt sich aber nicht allein auf die grenzpolizeilichen Funktionen und die Kontrolle von Ausländern. Die Denker und Lenker innerhalb der Polizei setzen sich dafür ein, daß die Niederlande innerhalb der europäischen Polizeikooperation eine Vorreiterrolle einnehmen. Initiativen eines kleinen Landes, so ihr Kalkül, sind eher kompromißfähig als die der großen Konkurrenten BRD und Frankreich. Das CRI verfügt seit einem Jahr über eine große Abteilung „Unterstützung der europäischen polizeilichen Zusammenarbeit“ (OESP, Ondersteunige Europese Samenwerking Politie). Unter der holländischen EG-Präsidentschaft 1991 wurden Vorschläge für Europol, für ein gemeinsames EG-weites Kriminalamt, vom Europäischen Rat grundsätzlich akzeptiert. Initiativen für ein Europäisches Dokumentationszentrum, für ein Ausbildungsinstitut kommunaler Polizeien, ein kriminalistisches Forschungszentrum und ein Informationsnetz für grenzüberschreitende Kriminalität wurden auf die Tagesordnung gehievt.

Niederländische Polizei- und Justizbeamte befassen sich zudem mit Fragen und Problemen der Koordinierung in- und ausländischer Observationsteams, die in Zukunft in größerer Zahl auf gleichem Territorium operieren werden, sowie der rechtlichgen Klärung beim Einsatz von Observationstaktiken und -techniken. Bislang galten solche Aktivitäten als durch die Generalklausel des Polizeigesetzes angedeckt. Diese Auffassung hat sich geändert, seit der europäische Gerichtshof im Rechtsstreit Hope, Hewitt und Harmann für Recht erkannt hat, daß sämtliche polizeilichen Geheimaktivitäten, die sich auf Informationsbeschaffungen über Individuen beziehen , als unstatthafte Eingriffe in die Privatsphäre ( 8 ECRM) anzusehen sind. Seither bezweifeln viele Juristen, daß das derzeitige Gesetz einer solchen Prüfung standhalten würde.

Zusammenarbeit von Geheimdiensten

Der zurückliegende Golfkrieg veranlaßte die westlichen Sicherheits- und Nachrichtendienste zur größten internationalen Geheimdienstoperation seit dem 2. Weltkrieg. Die Leitungsfunktionen übernahmen dabei US-amerikanische Dienste wie das FBI und die CIA, während der israelische MOSSAD im wesentlichen die operationellen Hinterinformationen über arabische Organisationen beigesteuert haben soll. Diese Aktion hat der nachrichtendienstlichen Kooperation in Westeuropa mächtig Auftrieb gegeben, so daß der BVD kurz darauf verlautbarte, er werde nun besondere Energien in die Entwicklung einer europäischen Kooperationsstruktur investieren. Hierbei wird dann dem Schengen-Informationssystem SIS eine besondere Rolle zukommen. Da die Niederlande damit auf dem Weg sind, die weitaus repressivere Überwachungs- und Meldepolitik der Bundesrepublik für politische Aktivisten zu übernehmen – zumindest zu unterstützen – scheint dabei niemand für ein besonderes Problem zu halten.

Allerdings stoßen solche Kooperationsbemühungen auch, wenn auch noch nicht allzu häufig, auf ein weithin unbekanntes, jedoch recht wichtiges Hemmnis: Die gleichen Dienste, die auf dem politischen Feld so problemlos zusammenarbeiten, werden zunehmen auch zum Zwecke wirtschaftlicher und technischer Spionage gegeneinander eingesetzt.
Hervorragendes Beispiel ist der französische DGSE, aber auch die CIA hat ausdrücklich den Auftrag erhalten, diese Art von Spionage zu betreiben. In den Niederlanden kann man schon heute die Auswirkungen erkennen: In der Vergangenheit haben die niederländischen Nachrichtendienste ihren US-amerikanischen KollegInnen mit sämtlichen ihnen verfügbaren Informationen vorbehaltlos unterstützt. Heutzutage scheint der Austausch von nachrichtendienstlichen Informationen eher von Fall zu Fall zu erfolgen.

Widerstände gegen Schengen?

Auf der parlamentarischen Ebene beschränkt sich der Widerstand derzeit lediglich auf die oppositionellen GRÜNEN LINKEN (GROEN LINKS) und die Sozialdemokraten (…). Von letzteren, verantwortlich für die gegenwärtige Fassung des Abkommens, wird allerdings nicht mehr Widerstand erwartet als unbedingt erforderlich ist, um Opposition zu dokumentieren. So wirbt MP Maarten van Traa unter den europäischen Sozialdemokraten zwar für Nachbesserungen des Schengen-Abkommens – doch ist klar, daß diese Bemühungen vergeblich sein werden.

Ein weiterer Grund für den relativ schwachen Widerstand gegen das Schengener Abkommen scheint in der Angst der Bevölkerung vor einem massiven Ansteigen der Einwanderungszahlen zu liegen. Der Gedanke, die einzig wirksame Maßnahme gegen ein solches Anwachsen liege in einer europäischen Zusammenarbeit mit strengen Kontrollen an Außengrenzen und Flughäfen, droht um sich zu greifen. Zunehmend mehr Menschen sehen in der Abwehr illegaler Einwanderer die eigentliche Bedeutung dieses Abkommens. Entsprechend reserviert begegnet man dann auch der größten Oppositionsbewegung gegen das Schengen-Abkommen: Flüchtlingsorganisationen und Anwälte.