Armutswanderung ist kein polizeiliches Problem

von Jürgen Gottschlich

„Der Auswanderungsdruck aus den Ländern der Dritten Welt mit ihrem enormen Bevölkerungswachstum wird sich angesichts von Elend, Hunger und Hoffnungslosigkeit um ein Vielfaches steigern. Die aktivsten Gruppen werden mit dem Mut, der Hartnäckigkeit und der Verschlagenheit der äußersten Verzweifelung auszubre­chen suchen. Sie werden auf allen Wegen, mit allen Mitteln, unter allen Gefahren in endlosen Massen herandrängen – überallhin, wo es nur um ein Geringeres besser zu sein scheint, als in ihrer Hei­mat“.1

Als der frühere NDR-Intendant Martin Neuffer diese Prognose anfangs der 80er Jahre in seinem Buch „Die Erde wächst nicht mit“ stellte, war die Welt in Europa noch in Ordnung, sorgten Mauer und Stacheldraht noch dafür, daß die armen Verwandten blieben, wo sie waren. Die sogenannten Boat-People im Südchinesischen Meer zeigten zwar bereits an, wozu der Mut der Ver­zweifelung Menschen befähigt, doch blieb das Phänomen für Europa auf eine Spendenkampagne beschränkt. Als dann im Sommer 1991 hunderttausende albanischer Flüchtlinge plötzlich auf überladenen Fährschiffen und Booten über die Adria nach Italien drängten, wurde Armutswanderung auch hier zur bitteren Realität. Die italienische Regierung, mit diesem Flüchtlingsstrom völlig überfordert, hatte den ver­zweifelten Menschen außer Polizei und Mi­litär nichts zu bieten: Am Freitag, 10. August, um 11 Uhr brach in der Stadt Bari die „Hölle aus“: „Raus, raus, schreien tausende im Stadion einge-pferchte Flüchtlinge und stürmen die Tore. Schließlich schaffen sie es. Ein Tor gibt nach, eine Flut von Flüchtlin­gen rennt in die Stadt. Sirenengeheul ist die Folge, Polizisten hasten herum und fangen die Menschen ein. Tragend bringen sie verzweifelt um sich schlagende Frauen und Männer zurück ins Stadion.“2 Über 10.000 albanische Flüchtlinge waren im Stadion „la Vit-toria“ (Stadion des Sieges) eingesperrt gewesen, nach dem Ausbruch haben Polizei und Carabi­nieri vor jedes Tor Panzerwagen auffah­ren lassen. Die Regierung in Rom hatte sich festgelegt: alle Albaner müssen zurück, die Aufnahmekapazität Italiens sei schon beim ersten Ansturm im Frühjahr ausgeschöpft worden. Was nun? Die Albaner wurden zwar nach und nach zurückgeschafft, doch glaubt in Italien niemand mehr, das damit das Problem erledigt ist.

Der jugoslawische Bürgerkrieg hat nun erneut einen Massenexodus über die Adria ausgelöst, diesmal hauptsächlich von katholischen Kroaten, die in Ita­lien und Österreich allerdings leichter untertauchen können, als die Albaner vor ihnen. Nordeuropa wartet angespannt auf eine Flüchtlingswelle aus der Tiefe des russischen Raumes.

Schengen ist keine politische Lösung

Welche Antwort gibt Europa – genauer Westeuropa – nun den potentiellen Flüchtlingen an seinen Grenzen? Die erste heißt nach dem luxemburgischen Städtchen Schengen und steht u.a. für einen Vertrag, mit dem zukünftig die Außengrenzen der EG gegen unliebsame Einwanderungen dicht gemacht werden sollen. Darin enthalten ist u.a. das notwendige juristische Instru­mentarium zur Errichtung der „unsichtbaren Mauer“ einer zukünftigen „Festung Europa“. Wird also künftig der Schutz der Grenzen zur wichtigsten Aufgabe der äußeren und der inneren Sicherheit? Offenbar machen sich nur wenige Politiker klar, was sie sich und den Grenzpolizeien damit dann vor­genommen haben. Ganz abstrakt gehen alle hierzu aufgestellten Prognosen der Weltbank und anderer internationaler Institutionen davon aus, daß die Weltbevölkerung in den knapp zehn Jahren bis zur Jahrtausendwende von derzeit viereinhalb auf sechseinhalb bis sieben Milliarden Menschen anwach­sen wird. Dieser enorme Zuwachs findet ausschließlich in den armen und ärmsten Ländern statt. Allein dadurch wird der Wanderungsdruck auf die wenigen Refugien des Reichtums enorm zunehmen. Da diese Armut schon heute direkt vor den Toren des reichen Europa beginnt, von Nordafrika im Süden über die Türkei und die ehemalige Sowjetunion bis zum Nordkap, muß es als reine Illusion gelten, Westeuropa in seiner jetzigen Verfaßtheit erhalten und gleichzeitig die Armutswanderung repressiv abwehren zu wol­len. Soll die Festung tatsächlich halten, was manche sich von ihr verspre­chen, so dürfte es auch innerhalb der Mauern – trotz des Reichtums – ziem­lich ungemütlich werden. Es ist also in jedem Fall sinnvoll, sich auf Verän­derungen einzustellen.

Während der überwiegende Teil der politischen Elite Westeuropas noch an Verträgen wie dem von Schengen bastelt und damit weiterhin die Illusion nährt, man müsse nur die Gesetze ändern, dann würden Flüchtlinge, die heute unter dem Begriff „Asylanten“ subsumiert werden, plötzlich ausblei­ben, ist ein kleiner Teil bereit, der Armutswanderung zumindest kleine Auf­nahmekontingente anzubieten, um mit dem Prinzip Hoffnung die illegale Einreise abzuwehren. Dahinter steckt die Erkenntnis, daß die klassische De­finition des politischen Flüchtlings mit den bevorstehenden Wanderungsbe­wegungen nichts mehr zu tun hat und diese Menschen gleichwohl keine „Betrüger“ sind. „An politische Unterdrückung kann man sich anpassen, an Hunger nicht“ lautete eines der Transparente, das die albanischen Flüchtlinge der italienischen Polizei entgegenhielten. Eben hier liegt das Problem der Einwanderungsquoten: Werden Menschen, die hungern, jahrelang geduldig Einwanderungsanträge stellen und immer wieder vergeblich darauf hoffen, vielleicht im kommenden Jahr dabei zu sein?

Nicht nur bei den GRÜNEN gibt es Verfechter einer liberalen Position, die Grenzen im Prinzip für alle offen zu halten. Dazu gehört dann allerdings auch eine Arbeitserlaubnis, für jeden der Arbeit findet und ein Ende aller bü­rokratischen Schikanen. Was sich auf den ersten Blick besonders großzügig ausnimmt, hat bei näherem Hinsehen dann natürlich auch eine weniger schöne Kehrseite. Das gesamte Sozialsystem im reichen Europa stünde zur Disposition. Wo es Hunderttausende gibt, die bereit wären, zu Dumpingprei­sen zu arbeiten, kann es keine Tariflöhne mehr geben, weil Streik sinnlos würde. Kranken-, Renten- und sonstige Versicherungen könnten nur noch privat abgeschlossen werden, Sozialhilfe gäbe es nicht mehr. In der Folge fände ein rüder Sozialdarwinismus auf Kosten der europäischen Unterprivile­gierten statt, der mit ziemlicher Sicherheit mit Nationalismus und Neofa­schismus beantwortet werden würde.

Die absehbaren Armutswanderungen der kommenden Jahre verlangen eine politische Antwort auf den sogenannten Nord-Süd-Konflikt. Dabei muß sich der reiche Norden grundsätzlich entscheiden, ob er zu teilen bereit ist oder nicht. Daran entscheidet sich die Frage nach Krieg und Frieden in den kom­menden Jahrzehnten. Lehnt der Norden eine Aufteilung des Reichtums der Welt wie bisher ab, wird es unweigerlich Krieg geben, Krieg in allen mögli­chen Formen: Krieg um Rohstoffe und einen permanenten Krieg an den Grenzen. Entscheidet man sich für das Teilen, muß dazu eine supranationale Institution geschaffen werden, für die die bislang existierende UNO allenfalls eine Minimalvorgabe sein kann. Klar ist bei alledem nur eins: eine idealtypi­sche Lösung gibt es nicht.

Jürgen Gottschlich ist Redakteur und Gründungsmitglied der „tageszeitung“
1 Neufter, Manfred: „Die Erde wächst nicht mit“, Beck’sche Verlagsanstalt München-Frankfurt 1981
2 Süddeutsche Zeitung v. 11.8.91

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