Mit dem OrgKG zu einem anderen Strafprozeß

von Dr. Bernd Asbrock

Am 4.6.1992 hat der Deutsche Bundestag das ‚Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG)‘ verabschiedet; das Vorschriftenpaket zur Änderung u.a. des Strafgesetzbuches, des Betäubungsmittelgesetzes und der Strafprozeßordnung ist am 22.9.92 in Kraft getreten. In der vergangenen Legislaturperiode bereits einmal gescheitert, war der OrgKG-Gesetzentwurf bis zuletzt heftig umstritten . Im Mittelpunkt des rechtspolitischen Streits standen die Legalisierung des ‚Verdeckten Ermittlers‘ und die Regelung des Einsatzes technischer Observationsmittel in und außerhalb der Wohnung.1

Aufgrund heftiger Kritik bei einer Experten- und Verbändeanhörung vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 22.1.1992 sowie in der Fachöffentlichkeit wurde der Entwurf in einigen Punkten abgeändert. We-gen des Widerstands aus Kreisen der FDP war in der Regierungskoalition die Einführung des ursprünglich vorgesehenen „Lauschangriffs“ nicht durchsetzbar. Der Bundestag will die Möglichkeit und Notwendigkeit einer solchen Regelung wegen der „mit dem Einsatz technischer Mittel in Wohnungen i.S. des Art. 13 GG verbundenen schwierigen rechtlichen, insbesondere auch ver-fassungsrechtlichen Fragen“ in weiteren Beratungen prüfen.2 Bereits bei der o.g. Anhörung war deutlich geworden, daß den anwesenden Polizeipraktikern selbst der Gesetzentwurf des Bundesrates nicht weit genug ging.
Es überrascht deshalb nicht, daß von dieser Seite das OrgKG massiver Kritik ausgesetzt ist und für völlig unzureichend gehalten wird. Unterstützt von CDU/CSU-Politikern, steht dabei die Forderung nach dem sog. „großen Lauschangriff“ im Mittelpunkt.

Im folgenden soll das OrgKG einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Der Beitrag beschränkt sich dabei auf die wesentlichen Neuregelungen in der StPO und die damit verbundenen Auswirkungen auf das veränderte Verhältnis von Polizei und Justiz.3

Grundsätzliche Bedenken

Das OrgKG stößt gerade in seinem strafprozessualen Teil auf grundsätzliche Bedenken. Zwar ist unbestritten, daß die Strafverfolgungsbehörden es mit neuen, äußerst sozialschädlichen Formen überregionaler und internationaler Kriminalität zu tun haben. Die Regelungen beschränken sich jedoch nicht allein auf die Bekämpfung der ‚Organisierten Kriminalität (OK)‘, einem im übrigen kriminologisch nicht hinreichend bestimmten Phänomen. Die Auswirkungen des Gesetzes dürfen auch nicht isoliert betrachtet werden. Neben dem umfangreichen Arsenal neuer Polizeibefugnisse, die das OrgKG bereitstellt, erweitern auch die Polizeigesetze der Länder das Eingriffsinstrumentarium, angeblich für die „präventive Bekämpfung von Straftaten“, tatsächlich jedoch zur „Vorsorge für künftige Verfolgung von Straftaten“. Zudem sind für die Kontrolle der Außenwirtschaft weitgehende Befugnisse des Zollkriminalinstituts zur Überwachung des gesamten Fernmeldeverkehrs (Telefon-, Telex-, Datex-, Telefaxverkehr usw.) geplant, ohne daß es dazu irgendeines Tatverdachts bedürfte. Auch der Verfassungsschutz soll nach neuesten Vorstellungen zur Bekämpfung der OK im Vorfeld polizeilicher Ermittlungen ein-gesetzt und zu einem „Bundessicherheitsamt“ ausgebaut werden.4

Zusammengenommen lassen sich diese gesetzlichen Maßnahmen nur als breit angelegte ‚Verpolizeilichung des Ermittlungsverfahrens‘ bezeichnen. Mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Vorgaben des Volkszählungsurteils von 1983 zur Schaffung klarer gesetzlicher Grundlagen beim Eingriff in das in-formationelle Selbstbestimmungsrecht wird zur Erfüllung angeblicher Er-mittlungsbedürfnisse der Polzei eine Legitimation verwendet, die suggeriert, die Sicherung der Gesellschaft vor Kriminalität sei nur durch Eingriffe in bisher unumstrittene Positionen des Strafprozeßrechts möglich. Die Polizei wird für die Kriminalitätsbekämpfung allgemein und in Abkehr von strafpro-zessualen Einzelregelungen mit Befugnissen ausgestattet, die es ermöglichen sollen, über die bisherige präventive Gefahrenabwehr hinaus „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“ zu betreiben. Unter diesem kaum abgrenzbaren Begriff werden fleißig und weitgehend unkontrolliert durch die Staatsan-waltschaft alle Arten von Personendaten gesammelt. Nach polizeilichem Ermessen erfolgen Auswahl und Verdichtung von Daten, wenn dies für eine Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft und das Gericht notwendig erscheint. Dabei bleibt es für Betroffene, Kontaktpersonen und zufällig Beteiligte weitgehend unbekannt, welche Daten insgesamt bestehen, welcher Teil für das weitere Ermittlungsverfahren ausgewählt wird und was mit den übrigen Daten geschieht. Auch die Staatsanwaltschaft und erst recht das Gericht sind dieser Daten-Selektion ausgesetzt. Damit ist die Herrschaft über das Verfahren von der Staatsanwaltschaft auf die Polizei übergegangen. Mit deren Bedürfnis nach effektiveren Ermittlungen geht einher, daß mit Hilfe des bedrohlichen Begriffs ‚Organisierte Kriminalität‘ auch im strafprozessualen Ermittlungsverfahren Anpassungen erfolgen, die potentielle Ermitt-lungserfolge durch eine gerichtliche Verurteilung sichern sollen. Die strafprozessuale Akzeptanz der neuen Ermittlungsmethoden macht das Strafver-fahren für die Polizei berechenbarer, da sie den für den Ermittlungsstand wesentlichen Datenfluß bis zur Hauptverhandlung in der Hand behält und erst auf ausdrückliche Nachfrage die Herkunft offenbaren muß. Macht- und Kom-petenzzuwachs für die Polizei sind unverkennbar. Daß dies erklärtes Ziel ist, verdeutlichen Äußerungen des BKA-Präsidenten an die Adresse der Justiz: „Wenn die Polizei die Fakten nicht vorher liefert, dann findet Ihre Veranstaltung im Gerichtssaal überhaupt nicht mehr statt (…) die Sache ist vorver-lagert (…) die Zu-stimmungserfordernisse der Justiz laufen (…) auf einen ge-nerellen Richter-vorbehalt hinaus; wir halten ihn für überflüssig.“5

Unklare Abgrenzungen

So wenig klar die Abgrenzung der „komplexen und vielschichtigen Erschei-nungsformen der Organisierten Kriminalität“ ist,6 so deutlich ist die Tendenz des OrgKG, die neuen Ermittlungsinstrumente nach Maßgabe polizeilicher Bedürfnisse nicht nur eingeschränkt bei schwersten Delikten des Rauschgift-handels und mafiaähnlichen Verbrechen einzusetzen. Es gibt weder eine Ge-wichtung der zu verfolgenden Delikte (etwa nach 138 StGB), noch einen durchgängigen restriktiven Katalog von Straftaten, für die alle schwerwie-genden Eingriffsinstrumente gelten sollen:
– Bei der Rasterfahndung ( 98a StPO) sollen neben Verstößen gegen das Waffengesetz, das Kriegswaffenkontrollgesetz und gegen das Betäubungs-mittelgesetz u.a. auch Straftaten gegen Leib oder Leben ( 211 ff u. 223 ff StGB), die sexuelle Selbstbestimmung ( 174-184a StGB) oder die persönliche Freiheit ( 234-241a StGB) Anlaß für den Abgleich von Daten sein, nur mit der Einschränkung, daß es sich um Taten von erheblicher Bedeutung handeln muß.
– Der Einsatz technischer Observationsmittel ( 100c StPO), insbesondere das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes, soll bei allen Delikten, die in 100a StPO aufgeführt sind, möglich sein; das sind rund 80 Straftatbestände, darunter alle Staatsschutzdelikte. Der im Entwurf noch als Absatz 2 vorgesehene „kleine Lauschangriff“ , d.h. das Abhören des gesprochenen Wortes innerhalb einer Wohnung im Beisein eines verdeckten Ermittlers, ist gestrichen worden.
– Beim Verdeckten Ermittler (VE) ( 110a StPO) sind die Einsatzvoraussetzungen gegenüber dem früheren Entwurf insoweit eingeschränkt worden, als der Einsatz nur noch an einen Teil des erweiterten Straftatenkatalogs der Rasterfahndung geknüpft ist. Allerdings sollen nach dem neu eingefügten Abs. 1 S. 1 VE nun auch bei jeder Art von Verbrechen eingesetzt werden können, soweit die Gefahr der Wiederholung besteht. Bei extensiver Auslegung der Regelung ist damit ein weites Anwendungsfeld eröffnet.
– Die Ausschreibung zur Beobachtung anläßlich polizeilicher Kontrollen ( 163e StPO) darf bei Verdacht einer Straftat „von erheblicher Bedeutung“ erfolgen. Diese mehrfach vorkommende Formulierung ist unbestimmt und entspricht nicht den in StGB und StPO gebräuchlichen Definitionen. Hier liegt endgültig ein Einfallstor zu fast allen Delikten des StGB, da es ‚unerhebliche Straftaten‘ nicht gibt und eine Abgrenzung zu „Verbrechen“ oder Straftaten „im besonders schweren Fall“ nicht vorgenommen wurden.

Festzuhalten ist somit, daß die neuen Eingriffsinstrumente nicht – wie vor-gegeben – nur der Bekämpfung der Drogenkriminalität und anderer OK-Delikte dienen, sondern bei nahezu allen Straftaten einsetzbar sind.

Keine der im OrgKG vorgesehenen weitreichenden Befugnisse, in Grundrechte einzugreifen, setzen ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren voraus. Die Mittel können sämtlich auch gegen Personen angewandt werden, die keiner Straftat verdächtig sind. Mit der Formel „begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß eine Straftat begangen worden ist“ bzw. „liegen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat vor“, täuscht das Gesetz darüber hinweg. Verdächtig ist in diesem Falle nämlich nicht eine Person, sondern lediglich eine Situation; die neuen Fahndungsmaßnahmen sollen erst dazu dienen, Tatverdächtige ausfinding zu machen. Der strafprozessuale Grundsatz, daß Zwangsmaßnahmen regelmäßig nur gegen Verdächtige zulässig sind, wird damit aufgegeben.

Fazit

Das OrgKG stellt in seinem Verfahrensteil einen gravierenden Einschnitt in den reformierten Strafprozeß dar. Aufklärung individueller Schuld und Wahrheitsfindung im Strafverfahren werden überlagert und gefährdet durch präventive Strategien der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. Nun muß verhindert werden, daß auf diesem Weg zu einem anderen Strafprozeß mit der Einführung des Lauschangriffs und einer selbst von der SPD in Erwägung gezogenen Einschränkung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) ein weiterer Schritt erfolgt, bevor überhaupt die Wirksamkeit des gerade erst in Kraft getretenen Gesetzes beobachtet sowie wissenschaftlich und politisch kontrolliert worden ist. Es kann nicht darum gehen, Kriminalität „mit allen Mitteln“ zu bekämpfen und der Effizienz staatlicher Strafverfolgung unverfügbare Grundrechtsverbürgungen zu opfern. Hier steht ein Teil unserer Rechtskultur auf dem Spiel.

Dr. Bernd Asbrock, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen, Bundessprecher der ‚Richterinnen u. Richter, Staatsanwältinnen u. Staatsanwälte in der Ge-werkschaft ötv‘
1 vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 39 (2/91)
2 BT-Drs. 12/2720, S. 5
3 vgl. Stellungnahme der ‚Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in der ötv‘ in: ‚ötv in der Rechtspflege‘ Heft 51/92 S. 1 ff u. ‚Betrifft Justiz‘ Nr.29/92 S. 207 ff
4 vgl. FR v. 24.10.1992; Bürgerrechte & Polizei/CILIP 39 (2/91)
5 Stenogr. Protokoll des Rechtsausschusses v. 22.1.1992 S. 60 u. 67
6 vgl. Antwort der Bunderegierung BT-DR 12/1255