Vom politischen Umgang mit rechts

von Eberhard Seidel-Pielen

Es dauerte lange Zeit, bis angesichts der Eskalationen rechter Gewalt im Kontext der deutsch-deutschen Einigung erste ernstzunehmende Maßnahmen eingeleitet wurden. Die fehlende Entschlußfreudigkeit hängt nicht zuletzt mit der tagesaktuellen politisch-feuilletonistischen Diskussion, was denn nun die Ursachen dieser Entwicklungen sein mögen, zusammen. Bis in die jüngsten Tage erscheint sie als ein verzweifelter Versuch, den militanten Rechtsradikalismus als ein von außen urplötzlich über die Bundesrepublik hereinbrechendes Übel zu beschreiben.

Nach Öffnung der Mauer – in der noch taufrischen neuen Republik – erfreute sich die These, der Autoritarismus des SED-Regimes sei verantwortlich für die rassistische Gewalt, nachhaltiger Beliebtheit. Der Gebrauchswert der ‚Zuviel Rotlicht macht braun‘-These liegt auf der Hand: Rechtsradikalismus und Ungleichheitsideologien sind demnach kein originäres Problem der Alt-bundesrepublik mehr, sondern ein importiertes, eine Altlast der verblichenen DDR, die sich im Zuge des Einigungsprozesses und der Menschwerdung schon auswachsen werde. Diese These konnte sogar auf einen ‚wahren Kern‘ zurückgreifen. Tatsächlich gab und gibt es in der ehemaligen DDR antiplu-ralistische Tendenzen, eine Anfälligkeit für Autoritarismus und eine unter-entwickelte Fähigkeit, die Komplexität der Moderne auszuhalten. Allerdings entpuppt sich das Argument bei genauerer Prüfung als ein ideologisches Kampfinstrument des Siegers im Wettstreit der Systeme. Die DDR habe, so lautet die Botschaft, nicht nur nichts in der Konsumgüterindustrie geleistet, sondern auch auf ihrem originären Feld, dem Antifaschismus, kläglich versagt.

Seifenblasen

Mit dem Brandanschlag in Hünxe verlor dieses Erklärungskonstrukt bereits im Herbst 1991 an Plausibilität, zumal sich zeigte, daß zwei Drittel der frem-denfeindlichen Kriminalität im Westen der Republik angesiedelt waren.

Als ‚Zuviel Rotlicht macht braun‘ nicht mehr richtig griff, wurden in der Gewaltsaison 1992/1993 jugendliche Subkulturen als Verantwortliche für die Gewalteskalation ausgemacht. Erneut wurde auf eine zeitlich lineare Ent-wicklung gesetzt: Wenn Rechtsextremismus und Gewalt ein jugendspezifisches Problem sind, dann wird es sich mit dem Älterwerden der Täter von alleine erledigen. Jugendliche im allgemeinen und ‚Skinheads‘ im besonderen wurden so zum Synonym der Gewaltverhältnisse schlechthin. Im Handumdrehen einigte sich die Gesellschaft in seltener Einmündigkeit darauf, daß die Täter nicht mehr Hirn im Kopf, als Haare auf demselbigen haben. Täglich wurden neue Horrormeldungen über diese ‚Monsterszene‘ kolportiert. Aber Nachforschungen ließen auch diese Erklärung wie eine Seifenblase platzen. Je nach regionalen Besonderheiten rekrutieren sich lediglich 10 – 15% der Täter aus der Skinhead-Szene. Längst war aufmerksamen Beobachtern klar, daß die rechten Gewalttäter aus der Mitte der Gesellschaft entspringen, der typische Täter der ’nette‘ Nachbarjunge von nebenan ist, der keiner einschlägigen Subkultur zuzuordnen ist. Die beängstigende Unentschlossenheit der bundesdeutschen Gesellschaft in den Jahren 1990 bis 1992, entschieden gegen die „kostümierten Nazikids“ (Claus Leggewie) vorzugehen, ist durchaus ein logisches Resultat der Landnahme ihrer eigenen Köpfe durch die extreme Rechte, die das demokratische Immunsystem nachhaltig schwächte.

Etappenschritte

Doch der Reihe nach. Mitte der siebziger Jahre wurde das ideologische Fun-dament bundesdeutscher Nazis, das bis dahin vor allem auf dem Antisemitismus beruhte, durch ein ausländerfeindliches verstärkt. Die Stimmen, die vor einer „Überfremdung“ der deutschen Kultur durch Südländer warnten, wurden lauter. Mit der Einführung der Zuzugssperre vom 1. April 1975 wurde die polarisierende Politik, welche die NPD bereits seit den späten sechziger Jahren betrieb, nun auch von demokratischen Parteien, der sozial-liberalen Koalition bestätigt. Mit der Zuzugssperre wurden Wohngebiete mit einem Ausländeranteil von mehr als 12% für Nicht-Deutsche gesperrt. Immigranten wurden nachhaltig als Belastung für Wohngebiete stigmatisiert, gleichzeitig wurde suggeriert, es gäbe eine ’natürliche Grenze‘ des sozial vertretbaren Anteils von Einwanderern in einer Region.

Anfang der achtziger Jahre erschien die bundesdeutsche Gesellschaft dann wie entfesselt. Endlich konnte sie ihr Trauma, nicht mehr ‚offen‘ über ihr ‚Judenproblem‘ debattieren zu dürfen (schließlich war allen ‚klar‘ Denkenden seit 1949 bewußt, daß der Anti-Antisemitismus das Eingangsbillet für den Klub der zivilen, wirtschaftlich florierenden Nationen ist) mittels des nun heiß diskutierten ‚Ausländer-‚ und vor allem ‚Türkenproblems‘ abschütteln.
Die Diskussion trug psychotische Züge. Trennlinien zwischen extremer Rechter und bürgerlicher Mitte waren kaum noch auszumachen. Zum Bundestagswahlkampf 1980 trat die NPD mit der Parole „Ausländerstopp – Deutschland den Deutschen“ an. Überall im Land entstanden aus dem Umfeld der NPD Initiativen wie ‚Weltbund zum Schutz des Lebens‘; ‚Kieler Liste zur Ausländerbegrenzung‘. Auch der über jeden Radikalismusverdacht erhabene langjährige Mitarbeiter des liberalen Berliner ‚Tagesspiegel‘, Günther Matthes, beteiligte sich am 16. November 1980 unter der Überschrift „Mehr Wohnungen, weniger Türken“ an der Rettung Deutschlands: „Berlin muß, wenn es als solches für deutsche Zuwanderer und seine deutschen Einwohner attraktiv bleiben will, vor einer mathematischen Überfremdung durch Familienzusammenführung bei hoher Fruchtbarkeit bewahrt bleiben.“ Am 17. Juni 1981 schließlich warnten 15 Hochschulprofessoren in einer ersten Version des ‚Heidelberger Manifests‘ vor einer Gefährdung der „biologischen Substanz“ des „deutschen Volkes“ durch Ausländer. Begleitet wurde der mit aller Macht entflammte rassistische Diskurs von Terroranschlägen der ‚Deutschen Aktionsgruppen‘ auf Ausländer- bzw. Asylbewerberunter-künfte. Im August 1980 wurden zwei Vietnamesen getötet. Im Juni 1982 erschoß der 26jährige Neonazi Helmut Oxner in Nürnberg drei Ausländer. Die bürgerliche Mitte weigerte sich, einen Zusammenhang zwischen der von ihr geschürten Anti-Ausländerstimmung und der zunehmenden Straßengewalt gegen ImmigrantInnen zu ziehen. Die Gesellschaft nahm die Toten eher beiläufig zur Kenntnis.
Vor allem die Union setzte unbeirrt auf die Ethnisierung sozialer Konflikte. Als 1982 in der Bundesrepublik die Zahl der Arbeitslosen erstmals die magische Zwei-Millionengrenze überschritt, viele Arbeitnehmer aufgrund der im vollen Gang befindlichen Umstrukturierung des Produktionsprozesses verunsichert waren, ob sie ihre Arbeit behalten und wenn, ob sie die künftigen Qualifikationsanforderungen erfüllen könnten, versprach die CDU in ihrem Wende-Wahlkampf, nicht nur die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren, sondern auch die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer.“

Gerichtet war die Kampfansage vor allem an die Türken. Wie in der Anti-Asylkampagne der Jahre nach 1990 erneut, wurden nicht die rassistischen Schläger und Mörder geächtet und bekämpft, sondern vor allem die Einwanderer aus der Türkei – später dann die umgangssprachlich längst zu Asylanten degradierten AsylbewerberInnen – als die Verursacher des Rassismus ge-brandmarkt.
Nach gewonnener Wahl und erfolgter Regierungsbildung verkündete der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann im Frühjahr 1983: „Ein konfliktfreies Zusammenleben wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und langfristig vermindert wird, was vor allem die großen Volksgruppen (Türken, Anm.) betrifft.“

Natürlich haben weder CDU/CSU noch SPD die Bevölkerung einer xenophoben Gehirnwäsche unterzogen. Der Sündenfall der politischen Mitte in der ersten Hälfte der achtziger Jahre bestand darin, daß sie anders als beim Antisemitismus zwischen den 50er und 80er Jahren dem gegen Immigranten gerichteten Alltagsrassismus eines Teils der Bundesbürger nichts Nennenswertes entgegensetzten, sondern Ressentiments aufgriffen, in eine rigide Anti-Einwanderungspolitik einbauten und somit Dämme, die bislang gegen den Rassismus (in seiner spezifischen Ausformung als Antisemitismus) errichtet waren, schleiften. Die Folge ist eine Blutspur, die die 80er Jahre durchzieht. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die Ermordung von Mehmed Kaynakei und Ramazan Avci 1985 in Hamburg und an den Brandanschlag auf ein überwiegend von Türken bewohntes Haus in Schwandorf, bei dem vier Menschen starben.

Verlorene Unschuld

In das kollektive Bewußtsein der meisten Bundesbürger ist diese Entwicklung nicht vorgedrungen. Statt dessen taten sie in den 90er Jahren ganz überrascht, als im Zuge der Wirrungen der Vereinigung beider deutscher Staaten die Gewalt gegenüber Immigranten zwar keine qualitative, aber eine neue quantitative Dimension erreichte. „Nach Solingen ist die Unschuld der deutschen Nachkriegsgeschichte endgültig vorbei. Nach innen und nach außen treten dieser Staat, diese Gesellschaft in ein neues Stadium. Denn diese Gewalt gegen Fremde ist in der Nachkriegsgeschichte jugendlicher Gewalt ein bisher singuläres Ereignis,“ schreibt zum Beispiel der Essener Erziehungswissenschaftler Wilfried Breyvogel und steht mit dieser Einschätzung repräsentativ für viele.

Was angesichts der zahlreichen Brandplätze und der Bedrohung potentieller Opfergruppen zu tun sei, war bereits 1992 eigentlich klar: Es mußte Schluß sein mit der in einer Reihe von Fällen nachweisbaren Kumpanei zwischen örtlichen Polizeibehörden und der rechten Szene. Das nicht mehr ganz so neue Deutschland muß sich seiner schwachen republikanischen Tradition bewußt werden, um den Demokratisierungsprozeß weiterzuentwickeln. Die völkische Verfaßtheit der Republik, das anachronistische, auf dem ‚Blut-recht‘ basierende Staatsangehörigkeitsrecht, verhindert die notwendige Ausgestaltung des Einwanderungslandes Deutschland und damit gleichzeitig die überfällige Emanzipation der Immigranten. Eine kreative Jugend- und Sozialpolitik muß den vom Ausschluß Bedrohten trotz knapper werdender Mittel schnellstmöglich die Sicherheit geben, nicht zwischen den Mühlsteinen der Einigungspolitik zermalmt zu werden. Herausforderungen, denen sich die Mehrheit der Gesellschaft nicht wirklich stellen kann und will. Wie soll man Rassismus bekämpfen, wenn bestritten wird, daß es diesen in Deutschland überhaupt gibt? Wie kann ein Einwanderungsland politisch ausgestaltet werden, wenn nach wie vor behauptet wird, daß Deutschland keines ist?

Rettung in der Not bot der Mord zweier Liverpooler Kinder Anfang 1993. Die Tatsache, daß zwei Elfjährige nach intensivem Genuß eines Horrorvideos einen Gleichaltrigen umbrachten, ermöglichte es einer um die Ursachen der rechten Gewalt zerstrittenen Gesellschaft auf normativ-ideologisches Gebiet auszuweichen. Im Zentrum stand nun die Frage:“Welche zivilisatorischen Kontrollmechanismen und Tabuvorschriften haben so versagt, daß das vorhandene rohe Gewaltpotential plötzlich um sich greifen kann?“ Statt über die politische Ausgestaltung des Einwanderungslandes Deutschland, wurde nun aufgeregt über die barbarisierende Wirkung von zuviel Fernsehkonsum debattiert.

Vom Kopf auf die Füße

Natürlich beließen es die politisch Verantwortlichen nicht alleine dabei. Ende 1992 kam es überraschend zum Verbot der ‚Deutschen Alternative'(DA) und der ‚Nationalistischen Front'(NF). Kein vernünftiger Mensch wird etwas dagegen einzuwenden haben, Gruppen wie die ‚NF‘, die terroristische Einsatzkommandos vorbereitete, aus dem Verkehr zu ziehen. Allerdings muß bei solchen Maßnahmen der Zeitpunkt des Handelns berücksichtigt werden. Die Innenbehörden griffen just zum Instrumentarium des Organisationsverbots, als sich die rechte Szene längst zu einer autonomen entwickelt hatte, die unabhängig von den Vorgaben von Führerpersönlichkeiten agiert, also Züge einer ’sozialen Bewegung‘ trägt, die ihre ‚Handlungsanweisungen‘ nicht aus den radikalen Rändern, sondern aus dem politischen Diskurs der Mitte ableitete. Diese Erweiterung des Aktionspotentials rassistischer Aktivitäten ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb die vom ‚Bundesamt für Verfassungsschutz'(BfV) mit Verve vorgetragene Zuständigkeit zu hinterfragen ist. Das BfV ist zuständig für Bestrebungen und organisatorische Zusammenhänge, die sich in ihrer Zielrichtung gegen die FDGO wenden. Die liegen aber beim Gros der Täter, die sich in der Regel lediglich mit der Bauchlage in die ‚Bewegung‘ hineinbegeben, gar nicht vor. Bekenntnisse zur FDGO und ein Überfall auf ein Asylbewerberheim nach Feierabend schließen sich nicht mehr aus, sondern sind die Regel.

Daraus folgt: Nicht entlang der Erweiterung der Möglichkeiten der Siche-rungshaft, Erhöhung des Strafmaßes für Gewaltdelikte, personelle und logi-stische Aufstockung des Polizeiapparates, Ausbildung und Einsatz von Son-dereinsatzkommandos, sowie des ‚antirassistischen‘ Lauschangriffs müßte diskutiert werden. Ein adäquater politischer Umgang mit rechts (das schließt repressive Maßnahmen keineswegs aus) wird erst möglich sein, wenn es den Bundesbürgern endlich gelingt, die gesellschaftlichen Verhältnisse vom Kopf auf die Füße zu stellen und wenn den sieben Millionen ‚Ausländern‘ nicht nur Menschenrechte, sondern auch die uneingeschränkten Bürgerrechte eingeräumt werden.

Eberhard Seidel-Pielen ist freier Publizist in Berlin
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.