Statewatch – Der Informationsdienst aus Großbritannien

von Tony Bunyan

Nach mehreren Vorbereitungstreffen wurde zu Beginn des Jahres 1990 der Informationsdienst Statewatch ins Leben gerufen. Zur Gründergruppe gehörten sowohl einige Mitglieder der früheren Gruppe um ‚State Research‘ wie auch verschiedene neue – darunter AnwältInnen, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen sowie Lo-kalpolitikerInnen, BürgerrechtlerInnen und weitere politische AktivistInnen. Bereits im März 1991 erschien die erste Ausgabe des Rundbriefes und im Mai des gleichen Jahres konnte die Datenbank von Statewatch an das Mailbox-Netz angeschlossen werden.

‚State Research‘, der Vorläufer von Statewatch, war 1987 aus der Zusam-menarbeit von engagierten JournalistInnen und aktiven BürgerrechtlerInnen hervorgegangen und befaßte sich sowohl mit nationalen Vorgängen im Bereich der sog. Inneren Sicherheit wie auch mit solchen von internationalem Belang. Zu den Themen zählten u. a. die britische Polizei (insbesondere ihre Staatsschutzabteilung ‚Special Branch‘), der Inlandsgeheimdienst MI5, Straf-recht, Datenschutz und Einwanderung. Doch auch die Aktivitäten des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA und seines britischen Pendants MI6 sowie das ‚Government Communications Headquarter‘ (GCHQ), das gemeinsam mit der ‚National Security Agency‘ (NSA) der Vereinigten Staaten die internationale Telekommunikation abhört, waren immer Gegenstand der Berichterstattung.

Die Anfänge

Kurz bevor der Informationsdienst von ‚State Research‘ zum ersten Mal er-scheinen sollte, gab die damalige Labour-Regierung bekannt, daß Philip Agee, ein ehemaliger hauptamtlicher Mitarbeiter der CIA, der einen Wohnsitz in Großbritannien unterhielt, ausgewiesen werden solle, da sein Aufenthalt „dem öffentlichen Wohl abträglich“ sei. Agee stand damals kurz vor der Vollendung seines ‚CIA-Tagebuchs‘, in dem er seine Einsatzerfahrungen in Mittel- und Lateinamerika festhielt. Mark Hosenball, ein weiterer US-Amerikaner, der in der Zeitschrift ‚Time Out‘ über die CIA und das GCHQ Berichte veröffentlicht hatte, sollte ebenfalls ausgewiesen werden.

Von einigen Parlamentsabgeordneten wurde eine Unterstützungskampagne für Agee und Hosenball ins Leben gerufen, die auch von einigen Tageszeitungen und Gewerkschaften Unterstützung bekam. Etwa zur gleichen Zeit trafen sich zwei andere Mitarbeiter von ‚Time Out‘ mit einem britischen Ex-Soldaten. Bei diesem Treffen wurden die drei verhaftet und wegen des Verstoßes gegen den ‚Official Secrets Act‘, der es zivilen Regierungsbeamten und ehemaligen Militärangehörigen verbietet, Informationen über ihre Arbeit Dritten preiszugeben, unter Anklage gestellt. Am Ende einer drei Jahre währenden Gerichtsverhandlung erhielten alle drei Bewährungsstrafen.

Konsequenz der Ausweisung von Agee und Hosenball und der im Zusammenhang mit dem ‚Official Secrets Act‘ erfolgten Verurteilungen war ein gesteigertes öffentliches Interesse für derartige Fragen, das sich auch in einer größeren Nachfrage der Zeitschrift ‚State Research‘ niederschlug. Sie erschien danach über einen Zeitraum von vier Jahren alle zwei Monate. Dann mußte das Erscheinen im April 1982 aus Geldmangel eingestellt werden. Die Zeitschrift war fast ausschließlich aus Aboeinnahmen und privaten Spenden finanziert worden. Obwohl die Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen mußte, konnte das kleine, aus Büchern, Broschüren und Zeitungsausschnitten bestehende Archiv acht Jahre bis zur Gründung des Statewatch-Projektes erhalten werden.

Die Entstehung von Statewatch

Zwischen den 70er und den 90er Jahren hatte sich das politische Klima kräftig verändert und nach rechts verschoben. A. Sivanandan, Chefredakteur der Zeitschrift ‚Race and Class‘ und Leiter des ‚Institute of Race Relations‘, faß-te dies so zusammen. Lobby-Gruppen, sagte er, entfalteten ihre Aktivitä-ten zunehmend in einem Vakuum: „Es gibt keine Bewegung mehr, keine Arbei-terbewegung, keine ‚linke‘ Bewegung, die alles in einen größeren Zusam-menhang, in einen größeren politischen Kontext stellt, etwas, was ihnen einen breiteren Bezugsrahmen bietet, eine breitere Unterstützung sichert, ihr Denken in Aktivitäten übersetzt, ihnen Wirksamkeit und Durchschlagskraft verleiht. In Wirklichkeit, sind Statewatch (State Research wie es seinerzeit hieß), National Council of Civil Liberties (der sich heute liebevoll Liberty nennt) und das gegenwärtige Institute of Race Relations alle aus den politi-schen Bewegungen ihrer Zeit entstanden. Erstere in der Absicht, die Be-schneidung der bürgerlichen Ehrenrechte von Agee und Hosenball zu verhindern, die die Aktivitäten der CIA auf dem Gebiet der Befreiungsbewegungen entlarvt hatten, das zweite in der Absicht, das Recht auf Demonstrationsfreiheit der Hungermarschierer vom Jahre 1934 zu verteidigen, und das dritte, um gegen den Aufschwung des populären Rassismus und Faschismus, der durch den aufkeimenden staatlichen Rassismus zustandegekommen war.“ zu kämpfen.

Statewatch griff viele der Themen wieder auf, die seinerzeit von ‚State Rese-arch‘ behandelt worden waren. Doch gab es auch bedeutende Unterschiede, die auf das unterdessen veränderte politische Klima zurückzuführen sind. Wo früher die Aktivitäten von CIA und MI6 vorrangig behandelt wurden, richtete Statewatch sein Hauptaugenmerk auf Europa. Bereits 1990 war offensichtlich, daß die von der ‚Trevi-Gruppe‘ und der ‚Ad-hoc-Gruppe zu Einwanderungsfragen‘ unternommenen Initiativen auf die Gründung eines ‚Staa-tes Europa‘ gerichtet waren. Daraus zog die Statewatch-Gruppe den Schluß, daß zusätzlich zu den innenpolitischen Themen Polizei, Rechtsentwicklung, Gefängnisse, Bürgerrechte, Einwanderung, Rassismus, öffentliche Sicherheit und Nachrichtendienste (in Verbindung mit der Nordirlandfrage) das Thema Europa mit gleicher Aufmerksamkeit behandelt werden sollte.

Im Gegensatz zu ‚State Research‘ erhielt das Statewatch-Projekt dieses Mal ausreichende Zuschüsse, um das Büro mit einem Fotokopierer, zwei Perso-nalcomputern und einem Scanner technisch auszustatten. Zusätzliche Mittel ermöglichten die Einstellung einer festen Teilzeitkraft. 1993 kamen zusätzli-che Mittel für die Einrichtung einer Stelle für die Europa-Arbeit hinzu. Heute wird Statewatch von zwei der wichtigsten Stiftungen in Großbritannien unterstützt.

Das Statewatch Büro

Statewatch unterhält heute eine umfangreiche Bibliothek mit Büchern, Bro-schüren, Dokumenten, Zeitungsausschnitten, Zeitschriften und Mitteilungs-blättern sowie den Berichten aus beiden Kammern des Parlaments. Gesammelt werden die Parlamentaria aus den ‚House of Commons‘ seit 1972, ‚House of Lords‘ seit 1992, aus dem die relevanten Sachgebiete des ‚Official Journal of the European Communities‘ seit 1991, die Berichte der ‚European Court of Justice‘ seit 1992, die Berichte des ‚European Court of Human Rights‘ seit 1992; die Pressemitteilungen der Regierung und des Europäischen Rats sind ebenfalls vorhanden.
Zur Vorbereitung einer jeden Nummer des Rundbriefes werden Dossiers für jedes der Themengebiete angelegt. Diese Dossiers enthalten sämtliche Artikel, Pressemitteilungen und Zeitungsausschnitte (aus vier überregionalen Tageszeitungen, sechs Wochenzeitungen und 65 Zeitschriften). Dieses Material wird um die Berichte und Beiträge der AutorInnen ergänzt.

Wie bei jedem Dokumentationszentrum üblich, erhält Statewatch täglich Briefe und Anrufe von Einzelpersonen, vom Fernsehen und überregionalen Zeitungen, von StudentInnen, Vortragsreisenden und AnwältInnen sowie nationalen und lokalen Gruppen mit Nachfragen zu den unterschiedlichsten Themen. BesucherInnen werden zu vereinbarten Zeiten empfangen: einige verbleiben nur ein paar Stunden, andere verbringen mehrere Tage im Archiv.

Der Rundbrief und die E-Mail-Datenbank

Der erste Rundbrief erschien im März 1991 und derzeit erscheint mit sechs Ausgaben im Jahr der 5. Jahrgang. Er hat einen mehr als tausend Adressen umfassenden Verteiler im Inland und dem europäischen Ausland. Die Berichte und Artikel werden von einer insgesamt 24 Personen und Gruppen umfassenden AutorInnenschaft verfaßt; die etwa zur Hälfte aus Mitgliedern aus Großbritannien und aus der europäischen Gemeinschaft zusammengesetzt ist. Jedes Jahr finden zwei eintägige Redaktionskonferenzen in London statt.

Die Berichterstattung betrifft je zur Hälfte das Inland (einschließlich Nordirland) und Europa. Besondere Aufmerksamkeit erfahren die Entwicklungen auf europäischer Ebene durch detaillierte Berichte über die Sitzungen des ‚Council of Justice‘ und der Innenministerkonferenz.
Der Rundbrief verfolgt dabei die Ziele, Über Ereignisse und Entwicklungen zu berichten, die von anderen vernachlässigt werden, und die anderswo er-schienenen Nachrichten umfassend zu interpretieren, d.h. auf die etwaigen Folgen und die Relevanz hinzuweisen. Weiterhin sollen Meinungen und Themen dokumentiert werden, damit der Rundbrief als Quelle für die Forschung dienen kann. Aus diesem Gund soll auch möglichst umfassend über sämtliche Veröffentlichungen, Berichte, Debatten und Resolutionen zum Europäischen Parlament berichtet werden.

Im Mai 1991 konnte über den ‚Manchester Host‘ (MRC1, angeschlossen an das Geonet) eine 24-Stunden-Datenbank eröffnet werden. In ihr befinden sich mehr als 20.000 Dateien einschließlich der Gesetze des Parlaments; Resolutionen der europäischen Justiz- und Innenministerkonferenz; die vollständigen Inhalte der Rundbriefe des ‚European Race Audit‘ vom ‚Institute of Race Relations‘ (alle im vollen Wortlaut); Bücher, Broschüren, Berichte, Quellen-angaben; Informationen zu den Polizeien, Gefängnissen und Rechtsbera-tungszentren Großbritanniens usw.
Sie steht abhängig von unserer Zustimmung den AbonnentInnen zu einem Preis von 20 Pence pro Minute zur Verfügung.

Veröffentlichungen

Die erste größere Veröffentlichung war das Handbuch ‚Statewatching the new Europe‘, das im Oktober 1993 erschien. Dieses 280-seitige Buch beschäftigt sich mit der Schaffung des europäischen Staates (von der Trevi-Gruppe zum K4-Komitee), mit Polizei und Streitkräften, Innere Sicherheit in der europäischen Union, Nordirland, mit den Auswirkungen auf die Republik Irland, Rassismus und Faschismus. Andere Veröffentlichungen umfassen den vollständigen Text des Schengener Abkommens (in englischer Sprache); Geheimhaltung in der Europäischen Union und die frühere militärische Ge-heimorganisation Gladio.

In Planung sind derzeit ein Forschungsleitfaden zum Thema ‚Bürgerrechte und der europäische Staat‘ und Schlüsseltexte zum ‚Europäischen Staat‘ (Band 1: Die Texte der Schlüsselkonventionien und Resolutionen im vollständigen Wortlaut).

Der Zusammenhang unserer Arbeit

Obwohl theoretisch sämtliche Staaten der Europäischen Union als ‚liberale Demokratien‘ anzusehen sind, weisen sie sehr unterschiedliche Geschichten ihrer politischen Kämpfe und Entwicklung auf. Auf nationaler Ebene gibt es nur sehr wenige Gruppen, die sich mit dem breiten Spektrum der ‚bürgerlichen Freiheitsrechte‘ befassen. Dennoch existieren überall Gruppen und Individuen – in Stadtteilgruppen, örtlichen Zeitungen, Einzelgewerkschaften, unter StudentInnen und HochschuldozentInnen – die sich mit diesen Themen engagiert auseinandersetzen, und kritisch beobachten, in welche Richtung sich die neuesten Entwicklungen in der Europäischen Union bewegen. Dementsprechend wird der Aufbau eines Netzes solcher Kontakte eine langfristige Aufgabe sein.

Der gerade in der Einrichtung befindliche ‚europäische Staat‘ erfordert eine detaillierte und fortwährende Beobachtung. Die Rechte der BürgerInnen in-nerhalb der Europäischen Union werden gegenwärtig von der Flut neuer Po-litiken und neuer staatlicher Einrichtungen massiv beschnitten. Die Initiato-ren dieser Entwicklung nicht aus ihrer Verantwortung für die Folgen zu ent-lassen, steht bei Statewatch an erster Stelle auf der Tagesordnung.

Tony Bunyan ist Redakteur des Infor-mationsdienstes Statewatch
Statewatch, PO-Box 1516, GB-London N16 DEW
Bunyan, T. (Hg.), Statewatching the new Europe, London 1993, S. 9