Polizei und Jugendliche – alte Rezepte für neue (?) Probleme

von Otto Diederichs

Die Zahlen klingen bedrohlich: Eine Untersuchung der Universität in Essen beziffert die Zahl der von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren 1989 begangenen Straftaten auf insgesamt 259.943. Für die Jahre 1990-93 vermeldet ein anderes Polizeiblatt für die Alt-Bundesländer einen Anstieg tatverdächtiger Kinder um 18.000 auf insgesamt 69.000; bei Jugendlichen um 31.000 auf 151.000 und für Heranwachsende um 19.000 auf 160.000: „Das sind 380.000 Tatverdächtige im Alter bis zu 18 Jahren“. Allein in Berlin wurden im Jahr 1993 von Jugendlichen ca. 3.000 Raub- und Körperverletzungsdelikte begangen. Kinder und Jugendliche, so der mittlerweile einhellige Tenor in der Öffentlichkeit, werden zunehmend krimineller und brutaler.

Die Klage ist indes nicht neu. „Die Jugendlichen sind in ihrem Verhalten meist unberechenbar, neigen zu Agressionen, tendieren zu brutalen Raub-überfällen und machen rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch“, befand etwa 1976 der Frankfurter Polizeipräsident Knut Müller. Ein solcher Satz könnte zweifellos auch heute, nahezu 20 Jahre später, genauso fallen. „563mal standen Kinder im vergangenen Jahr in Frankfurt im Verdacht, gestohlen zu haben, also täglich mehr als ein Fall“, sorgte sich im Frühjahr 1978 die ‚Frankfurter Rundschau‘; in Berlin meldete die ‚Bild-Zeitung‘ für 1978 insgesamt 14.487 jugendliche Diebe (bis 17 Jahren). „Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig. Denn dazwischen ist nichts als den Dirnen Kinder schaffen, als die Alten ärgern, als stehlen und balgen“, beklagte sich bereits vor ca. 450 Jahren der englische Dramatiker William Shakespeare. Da die Generation der Eltern der ihrer eigenen Kinder weitgehend hilflos gegenüber steht, reagiert sie so wie zumeist, wenn die Ge-sellschaft mit einem Problem nicht fertig wird. Es wird an den Staat dele-giert.

Polizeiliche Reaktion: Sondereinheiten

Als erste Instanz wird somit die Polizei mit der weiteren Bearbeitung befaßt. „Das Jugendproblem ist hochaktuell, seit in den fünfziger Jahren die Halbstarkenkrawalle die Erwachsenen beunruhigten. Es war aktuell zur Hippie- und zur Apo-Zeit, für Augustin war das Thema problematisch und für Sokrates. Es ist aktuell geblieben bis auf den heutigen Tag und – wenn nicht alles täuscht – wird es noch sehr lange aktuell bleiben“, resümierte 1982 der Polizei-Psychologe Conrad Meier-Welser. Spezielle Jugendkommissariate waren zu diesem Zeitpunkt bei vielen Polizeien denn auch bereits seit langem tätig.

Im Nachkriegsdeutschland entstanden zunächst 1954 in Niedersachsen Ju-gendschutzdienststellen, in denen die seinerzeitige ‚Weibliche Kriminalpoli-zei‘ (WKP) und sog. Jugendsachbearbeiter zusammengefaßt wurden. Als nächstes Bundesland verfügte Nordrhein-Westfalen Ende 1960 die Schaffung einer gemeinsamen Dienststelle ‚WKP und Jugendschutz‘. Hatte man dort die Beschäftigung mit straffällig gewordenen Jugendlichen bis dahin als reine Angelegenheit der ‚Weiblichen Kriminalpolizei‘ betrachtet, so sollten nun auch männliche Beamte in diesem Bereich tätig werden. Das Modell scheiterte aus vielfältigen Gründen. 1972 richtete dann die Münchner Polizei eine spezielle ‚Jugendpolizei‘ ein, im Volksmund ‚Twen-Police‘ genannt, die nicht mehr in der Amtsstube auf ihre Klientel warten sollte. 30 Beamte wurden hierfür vom normalen Polizeidienst freigestellt und konnten sich ihre Dienstzeiten selbst einteilen. Ihr Arbeitsgebiet war nun „das Milieu im Vor-feld der Kriminalität, in dem sich die Jugendlichen in den seelenlosen Wohn-siedlungen der Vorstädte bewegen“.
Während es in München seinerzeit gelang, zu einer gewissen Zusammenarbeit mit SozialarbeiterInnen zu kommen, schlug die Übernahme des Modells in Frankfurt/M. 1976 fehl, da die ‚Streetworker‘ die Beamten als „Polizeispitzel“ massiv ablehnten. In anderen Städten verliefen die Kon-fliktlinien ähnlich. 1979 richtete dann die Polizei in Hannover im Gebäude des 9. Polizeireviers das ‚Präventivprogramm Polizei/Sozialarbeiter‘ (PPS) ein. Es scheiterte Mitte der achtziger Jahre letztlich daran, daß die Ein-richtung, die zunächst zur Betreuung vergewaltigter Frauen geschaffen worden war, weder von der neuen ‚Klientel‘ noch von den SozialarbeiterInnen richtig angenommen wurde, da man die Nähe zur Polizei fürchtete.

In diesem Zwiespalt liegt denn auch das eigentliche Problem polizeilicher ‚Jugendarbeit‘; der Spagat zwischen Polizeiarbeit und Sozialarbeit ist kaum zu überbrücken. Im Jahre 1979, dem Höhepunkt der Ablehnung gegen die polizeilichen Projekte, kam es u.a. zu bundesweiten Treffen von Initiativen und zu Demonstrationen gegen die Einrichtung einer ‚Jugendpolizei‘. Aufgrund der weitgehend gleichen Problematik bei unterschiedlicher Interessenlage reagieren die VertreterInnen beider Sparten nahezu zwangsläufig aufeinander wie Feuer und Wasser. Befragt man PolizeibeamtInnen nach den Gründen, so liegen diese ausnahmslos in der Verantwortung der SozialarbeiterInnen, die sich einer notwendigen sinnvollen Zusammenarbeit verweigern würden. Diese umgekehrt argumentieren ebenso. Somit arbeiten beide im Regelfall getrennt und damit aneinander vorbei.

Arbeitsgruppen gegen ‚Gruppengewalt‘

Der neuere Ausgangspunkt für polizeiliche Sondergruppen zur Bearbeitung von Jugenddelikten, wie sie unterdessen bei den meisten Großstadtpolizeien (in unterschiedlichen Formen) bestehen, war im Februar 1983 die Einrichtung einer Arbeitsgruppe gegen Fußballrowdies in Frankfurt/Main. „Da ein Teil der Fans Totalrasur und einheitliche Kleidung bevorzugte (…) wurden sie zunächst der Gruppierung der ‚Skinheads‘ zugerechnet“. Durch die Arbeit der daraufhin eingerichteten ‚AG Skinheads‘ kam man rasch darauf, daß das Problem damit wohl erheblich verkürzt worden war. Die Reaktion war im September 1983 die Einrichtung der ‚AG 222‘ als „gemeinsame Organisationseinheit der Schutz- und Kriminalpolizei (…), die sich allgemein mit jugendspezifischer Gruppenkriminalität befaßt“.

1989 richtete die Berliner Polizei eine ‚AG Gruppengewalt‘ ein. Auch hier ging die zuvor bestehende ‚Arbeitsgruppe Skinheads‘, die ihre Vorbilder in den 1980 eingerichteten Sonderkommissionen gegen ‚Popper‘, ‚Punks‘ und ‚Teds‘ hatte, in die neue Gruppe auf, nachdem die Polizei auch hier zu dem Ergebnis kam, „daß die sogenannte Skinheadkriminalität kein spezifisches Phänomen ist, sondern dem Freizeitverhalten jugendlicher Gruppengewalttäter allgemein entspricht“. Parallel zu einer zentralen ‚AG Grppengewalt‘ wurden in allen fünf Direktionen der damals noch geteilten Stadt eigene ‚Ermittlungsgruppen Jugendgruppengewalt‘ eingerichtet. Sie waren fortan für „alle Destruktionsdelikte – erforderlichenfalls auch andere Delikte jugendli-cher Gruppen und einzelner Gruppenangehöriger“ zuständig. Nach eigenen Aussagen ist es den Angehörigen der ‚AG Gruppengewalt‘ in der Polizeidi-rektion 5, die für den Problembezirk Kreuzberg zuständig ist, seinerzeit relativ schnell gelungen, Kontakt und Respekt bei den (hauptsächlich türkischen) Jugendgangs zu finden. Nach der Devise ‚Der Anführer ist das Problem‘ wurden als Zugang stets die Führungsfiguren der Gruppen ausgewählt und angesprochen, indem man ihnen klarmachte, daß gewisse, sich häufende De-likte künftig nicht mehr toleriert, sondern unnachsichtig verfolgt werden würden. Diese Ankündigung wurde anschließend konsequent durchgesetzt und führte bereits nach relativ kurzer Zeit zu ersten ‚Erfolgen‘: Die Sprache der Gewalt war verstanden worden. (Ganz nebenbei wurden bei den Ermittlungen nicht nur diese, als polizeirelevant eingestuften Personen erfaßt, sondern gleich die gesamte ‚Szene‘ in Karteien festgehalten. ) Es kann daher nicht verwundern, daß auch in diesem Fall die polizeiliche Arbeit bei Sozial-arbeiterInnen und PädagogInnen, die sich darum bemühten, die Machtstrukturen der Gruppe aufzulösen, nicht auf Gegenliebe stoßen konnte.
Andererseits hat die ‚AG Gruppengewalt‘ auch Ergebnisse zu vermelden, die durchaus positiv zu bewerten sind. Auch wenn dies in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, so gibt es an der Darstellung von ‚AG‘-MitarbeiterInnen keinen begründeten Zweifel, die für sich in Anspruch nehmen, rivalisierende Gruppen miteinander versöhnt zu haben.

Ermittlungsgruppe ‚Grafitti in Berlin‘

Kann man die Arbeit der ‚AG Gruppengewalt‘ bei allen notwendigen Vorbehalten in gewissem Rahmen noch als sinnvoll betrachten, so gelingt dies bei der Ermittlungsgruppe ‚Graffiti in Berlin‘ (GiB) nicht mehr. Ihre Einrichtung ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie polizeiliche Sonderarbeitsgruppen zum Allheilmittel avancieren, wenn man erst einmal ein neues ’spezifisches‘ Pro-blemfeld ausgemacht zu haben meint. Zugleich sind sie auch Zeugnis des (zumindest partiellen) Scheiterns der ‚AG Gruppengewalt‘.

Anfang 1994 ‚entdeckten‘ Innenverwaltung und Polizeiführung in Berlin die Graffiti-Sprayer als ein polizeilich zu bearbeitendes Problem. Zunächst ver-suchte der Leiter der ‚AG Gruppengewalt‘, Kriminalhauptkommissar Wolfgang Zirk, auch hier, „Kontakte zur Szene“ aufzubauen, die auf rund 2.000 Jugendliche geschätzt wurde. „Das Sprayen ist Teil einer neuen Jugendkultur, end verbunden mit Hip-Hop-Tanz und anderen Ausdrucksformen“, so seine Einschätzung. Polizeiliche Konzepte gegen Grafitti, das rein rechtlich zweifellos als Sachbeschädigung einzustufen ist, müßten daher mehr umfassen, als die klassischen Polizeiaktionen, lautete die Schlußfolgerung. In der Folge besuchten MitarbeiterInnen der ‚AG Gruppengewalt‘ u.a. Schulen um mit den Jugendlichen zu diskutieren. Die Zeichen indes standen längst anders. Beim, dem Bundesgrenzschutz (BGS) unterstehenden Bahnpolizeiamt Berlin bestand bereits seit 1991 eine Sonderarbeitsgruppe für die Verfolgung derartiger Sachbeschädigungsdelikte. Im August 1994 folgte dann die Ein-richtung einer dreißigköpfigen gemeinsamen Ermittlungsgruppe aus BeamtInnen der Berliner Polizei und des BGS. Ein halbes Jahr später konnte sie ihren ersten großen ‚Erfolg‘ vermelden: Am Freitag, den 13. Januar 1995 durchsuchten ca. 400 BeamtInnen zeitgleich 85 Wohnungen und zwei Geschäfte in Berlin und Brandenburg. In einer großangelegten Pressekonferenz präsentierte Berlins Polizeipräsident Hagen Saberschinsky am nächsten Tag das Ergebnis und kriminalisierte die Szene in einem lange nicht mehr gekannten Ausmaße.
Insgesamt bearbeitet die Ermittlungsgruppe derzeit ca. 1.600 Fälle; 35 An-klagen wurden erhoben und 30 Anträge auf ein vereinfachtes Jugendverfahren gestellt.

Schlußgedanken

Die Polizei ist nach anfänglichen Versuchen, das ‚Jugendproblem‘ anders an-zugehen, also wieder ausschließlich in die Repressionsrolle verfallen. An dieser Erkenntnis führt auch nicht vorbei, daß die mit dieser Aufgabe betrauten BeamtInnen stets den quasi sozialarbeiterischen Aspekt in den Vordergrund rücken. Dies gilt in hohem Maße auch für BeamtInnen der ehemaligen Volkspolizei (die ebenfalls über gesonderte Jugendkommissariate verfügte).

Wo eigentlich jugendfördernde und sozialarbeiterische Maßnahmen gefordert wären, befaßt sich die Polizei mit den kriminellen Auswüchsen. Dies ist ihr nicht vorzuwerfen – es ist ihre Aufgabe. Will sie diese jedoch nicht rein re-pressiv wahrnehmen, müssen neue Konzepte entwickelt werden. Ansätze hierzu sind vorhanden. So wurde z. B. im November beim Polizeipräsidium in Kassel ein ‚Runder Tisch Jugendkriminalität Kassel‘ eingerichtet, der je nach Bedarf, spätestens jedoch alle drei Monate, zusammenkommt. Ständige Mitglieder des ‚Runden Tisches‘ sind neben der Polizei, VertreterInnen der Staatsanwaltschaft und der Gerichte, die Jugendämter, die Jugendgerichts-hilfe, die Schulämter und die Bewährungshilfe. In Berlin gibt es seit etwa einem Jahr eine ‚Clearingstelle‘, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, sowohl in Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen als auch bei Konfrontationen mit der Polizei vermittelnd einzugreifen. Träger dieser Stelle ist das ‚Sozialpädagogische Institut‘. Sicherlich sind solche ‚Runden Tische‘ nicht das ‚Ei des Kolumbus‘, doch bieten sie Ansatzpunkte für ein neues Verständnis und Herangehen an ein Problem, das weder die Polizei noch die Sozialarbeit isoliert lösen können.

Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.