von Otto Diederichs
Der Streifendienst, also die (überwiegend) sichtbare Präsenz von Polizei im öffentlichen Raum, ist der traditionelle schutzpolizeiliche Basisdienst. Ihm fällt in der polizeilichen Konzeption die Aufgabe zu, sich anbahnende Gefahren rechtzeitig zu erkennen und zu beseitigen sowie Straftaten zu verhüten. In der öffentlichen Wahrnehmung verrichtet die Mehrzahl der Schutz-polizeibeamtInnen Streifendienste – zumeist motorisiert, seltener zu Fuß. Der polizeiliche Streifendienst gilt damit in hohem Maße als ein Instrument, um das Sicherheitsgefühl der BürgerInnen zu erhöhen.
‚Mehr Grün auf die Straße‘ lautet daher sowohl bei der Bevölkerung selbst wie auch bei den verantwortlichen Politikern stets reflexartig die Forderung, wenn dieses Gefühl ins Wanken zu geraten scheint. An dieser Parole sind je-doch erhebliche Zweifel anzumelden
Kurzer Blick zurück
Der Fachzeitschrift ‚Die Polizei‘ gilt der Nachtwächter von 1850 als der erste Ansatz eines nächtlichen Streifendienstes und so ganz falsch ist dies nicht. Fußstreifen waren stets das ‚A und O‘ des schutzpolizeilichen Einsatzes. Das von der Polizei noch heute gern bemühte, da positiv besetzte Bild vom ‚Schutzmann an der Ecke‘ zeugt davon. Bis in die ersten Nachkriegsjahre blieb diese Einsatzform dominierend. Auch die von den Nationalsozialisten betriebene Motorisierung der Polizei ließ den täglichen Streifendienst in den Städten weitgehend unberührt. ‚Aufklärung‘ wurde überwiegend zu Fuß betrieben und im Bedarfsfalle per Telefon ein motorisiertes ‚Überfallkommando‘ herbeigerufen. Die planvolle Einführung der heute bekannten Funkstreife begann erst 1948 in Berlin-West, wo im April im Stadtteil Steglitz (damals amerikanischer Sektor) und im Juli in Charlottenburg (britischer Sektor) die ersten Funkeinsatzzentralen in Betrieb genommen wurden. Zum Ende des Jahres 1948 waren bereits zehn Funkstreifen im Einsatz, deren Zahl sich rasch auf 60 Fahrzeuge erhöhte. In Berlin hatte sich damit eine neue Einsatzform entwickelt, die von den Polizeien des Bundesgebietes rasch übernommen wurde.
Streifendienst heute
Im Bewußtsein von PolizeibeamtInnen dient der Streifendienst in allererster Linie der Kriminalitätsbekämpfung wie diverse US-amerikanische Studien aus den sechziger und siebziger Jahren ergeben haben. Ihre deutschen KollegInnen dürften es kaum anders sehen. „Der Streifendienst muß grundsätzlich geplant erfolgen, um angesichts personeller und materieller Begrenzungen so effektiv wie möglich dem Sicherheitsanliegen zu entsprechen“, heißt es dementsprechend in einem dem Streifendienst gewidmeten Schwerpunktheft des ‚Deutschen Polizeiblattes‘.
Dieser Idealfall wird jedoch nur in Ausnahmefällen oder aufgrund besonders spektakulärer Situationen tatsächlich erreicht. Die Wirklichkeit sieht anders aus: „Die Gestaltung des Streifendienstes in einem Großstadtrevier wird in der überwiegenden Zahl der Dienstschichten von den Notwendigkeiten des vielfältigen polizeilichen Geschehens bestimmt und nur ausnahmsweise von vorgefaßten planerischen Überlegungen“. Diese Aussage eines Dienstgrup-penleiters des Reviers am Frankfurter Hauptbahnhof läßt sich, trotz der Be-sonderheiten einer solchen Dienststelle, im Kern auf die meisten Großstadt-reviere übertragen.
Bedingt durch Krankheit, Urlaub, Freizeitausgleich für geleistete Überstun-den, zeitweise Abwesenheit durch Ladung zu Gerichtsterminen oder der Ab-ordnung zu anderen Dienststellen kann die Ist-Stärke der BeamtInnen, die tatsächlich zur Verfügung stehen, zeitweise bis auf die Hälfte der eigentlich vorgesehenen Soll-Stärke zurückgehen. Der Kriminologe und derzeitige Leiter der baden-württembergischen Polizeifachhochschule Thomas Feltes hat, gestützt auf eine Studie der Jahre 1982-88, errechnet, daß von den seinerzeit ca. 115.000 SchutzpolizistInnen der Alt-Bundesrepublik bei Berücksichtigung entsprechender Ausfälle pro Schicht „knapp 14.000 Beamte im Funk-streifendienst und sogar nur ca. 6.200 (…) im unmittelbaren Außendienst (ohne Revierdienst) tätig sind“.
Der Kontaktbereichsdienst
Der in den fünfziger Jahren begonnene Einsatz motorisierter Streifen verän-derte allerdings nicht nur die Mobilität der Polizei. Er machte auch organi-satorische Veränderungen notwendig. In Berlin zog man daraus schließlich die Konsequenz einer generellen Strukturreform und beauftragte die schweizerische Unternehmensberatung ‚Knight-Wegenstein‘ mit einer entsprechenden Untersuchung. Auf deren Grundlage begann 1972 die Umgestaltung der Berliner Polizei. Als zentraler Bestandteil wurden dabei die bestehenden 113 Polizeireviere der Halbstadt aufgelöst und in fünf Direktionen mit 27 Poli-zeiabschnitten überführt. Ziel der Reform sollte es u.a. auch sein, so der damalige Regierungsdirektor Gerhard Kleineidam, „der Gesellschaft mehr Sicherheit zu bringen und die Polizei aus der Rolle zu befreien, sozusagen als ‚Feuerwehr‘ dem Verbrechen oder dem Verkehrsunfall hinterherzutraben“. Neben der Zentralisierung und damit zwangsläufig auch dem Rückzug der Polizei aus der Fläche, sah das Managementunternehmen auch die Einrichtung von ‚Kontaktbereichen‘ vor, die von speziellen Beamten betreut werden sollten. Ausgehend von den Polizeiabschnitten sollten „für den unmittelbaren Kontakt mit der Bevölkerung (…) einzelne Beamte eingesetzt, (…) dort ständig Dienst tun, der Bevölkerung mit der Zeit bekannt werden (…) wie ein Landgendarm und sich auch einzelner Beschwerden und Nöte annehmen“. Vorbild der Überlegungen war der englische ‚Bobby‘.
Drei Jahre später mußte die Polizeireform im Grunde bereits als gescheitert gelten: „Die Polizei muß wieder sichtbar werden. Diese Forderung ergab sich zwingend aus der Erkenntnis, daß die Verbindung zwischen Bevölkerung und Polizei infolge mangelnder Präsenz in der Öffentlichkeit abzubrechen drohte“, konstatierte die ‚Gewerkschaft der Polizei‘ (GdP), die sich, fortschrittsgläubig, zuvor stets heftig gegen den Kontaktbereichsdienst ge-wehrt hatte. Damit war der Weg frei für den endgültigen Einsatz der KOBs, von denen die ersten im November 1974 ihren Dienst angetreten hatten. Nachdem in der Folge auch in anderen deutschen Großstädten entsprechende Modellversuche durchgeführt worden waren, setzte Niedersachsen im Rahmen einer Polizeineuordnung zum 1. März 1979 den Kontaktbeamten in einem Flächenstaat ein.
Mehr Grün auf die Straße
Legt man die eingangs genannten, von Feltes errechneten Werte zugrunde, so sind von den heute bundesweit ca. 250.000 PolizeibeamtInnen, etwa 31.000 im Streifendienst tätig. Angesichts dieses Verhältnisses scheint der Ruf nach ‚Mehr Grün auf der Straße‘ auf den ersten Blick so unvernünftig nicht. Seine Fragwürdigkeit erschließt sich erst, wenn man die Streifentätigkeit etwas detaillierter untersucht. Ausgehend von einer Analyse von Notrufen und Funkstreifeneinsätzen der Jahre 1982-88, die trotz ihres Alters immer noch die für die Bundesrepublik aktuellste darstellt, folgt auf ca. 40%-60% aller eingehenden Notrufe ein Funkstreifeneinsatz. Die übrigen Anrufe werden anderweitig erledigt, d.h. die AnruferInnen werden zumeist an die Feuerwehr, den Notarzt oder das örtlich zuständige Revier verwiesen. Der Großteil der Streifeneinsätze (einschl. Notrufe), also das polizeiliche Alltagshandeln, findet dabei in Zusammenhang mit dem Straßenverkehr statt (25%-60%). Es folgen Nachbarschaftsstreitigkeiten, Ruhestörungen und ähnliche Konflikte sowie Hilfe- und Dienstleistungen z.B. für betrunkene oder hilflose Personen (je ca. 25%). Diese Zahlen finden ihre Entsprechung in amerikanischen Studien; der Kriminologe Steven Lab beziffert den Anteil der Service-Funktionen bei der dortigen Polizei sogar auf ca. 80%.
Zusammenfassend muß daher festgestellt werden, „daß schutzpolizeiliches Alltagshandeln, sieht man von den verschiedensten Verwaltungs- und Sach-bearbeitungsaufgaben einmal ab, geprägt ist von Anliegen, bei denen sich Bürger belästigt fühlen, Hilfe erwarten oder einfach meinen, eine Instanz zu benötigen, die rund um die Uhr für alle ‚Unnormalitäten‘ des Alltags zustän-dig ist“. Da es jedoch kaum Aufgabe der Polizei sein kann, durch eine per-sonelle Verstärkung die ‚Unnormalitäten‘ des Alltags schneller (oder gar häu-figer) zu bearbeiten, muß somit an dieser Stelle erstmals die Frage nach dem Sinn von ‚mehr Grün‘ gestellt werden.
Bei der unmittelbaren Kriminalitätsverhütung und -bekämpfung sieht die Bilanz ebenfalls eher mager aus. Da die deutsche Forschung auf diesem Gebiet bislang unverständlicherweise immer noch in den Kinderschuhen steckt, ist man zwangsläufig auf anglo-amerikanische Studien angewiesen, wo derartige Untersuchungen auf eine lange Tradition zurückblicken können. Eine Vielzahl dieser Studien belegt, daß Streifengänge oder -fahrten nahezu ohne Auswirkungen auf die reale Kriminalitätsbelastung bleiben: So wurden etwa Anfang der siebziger Jahre im ‚Kansas City Preventive Patrol Experiment‘ die Ergebnisse in 15 Streifenbezirken ausgewertet. Während in einigen Bezirken die Streifen erhöht und z.T. sogar verdreifacht wurden (Proaktive Bezirke), wurden sie in anderen völlig eingestellt. Die Beamten wurden hier nur auf Anforderung tätig (Reaktive Bezirke). In der dritten Gruppe hielt man die Streifentätigkeit im vorherigen Umfang aufrecht (Kontrollbezirke). Nach Ablauf eines Jahres wurden die Ergebnisse miteinander verglichen. Dabei stellte sich heraus, daß sich sowohl die registrierte Kriminalität wie auch das Sicherheitsgefühl der BürgerInnen in den verschiedenen Bezirken nicht sonderlich verändert hatte.
In einer ähnlichen Untersuchung, dem ‚Newark Foot Experiment‘ wählte man Fußstreifenbezirke für den Versuch aus: In vier Gebieten stellte man die Streifen ein, während sie in vier anderen unverändert weitergeführt wurden. Parallel wurden in vier weiteren Bezirken Fußstreifen neu eingeführt. Das Experiment lief über drei Jahre und hatte zum Ergebnis, daß die BürgerInnen in den bestreiften Bezirken zwar subjektiv der Meinung waren, die Krimina-litätsprobleme hätten abgenommen, eine objektive Veränderung jedoch nicht festgestellt werden konnte.
Feltes nennt für die (Alt)Bundesrepublik ähnliche Werte: Demnach stellt ‚echte‘ Kriminalität, also Funkstreifeneinsätze in Zusammenhang mit einer tatsächlichen oder vermuteten Straftat, eher eine Ausnahme dar. Die Angaben schwanken hier zwischen 16% und 28%. Die direkte Wahrnehmung (und Verfolgung) durch PolizistInnen von Straftaten gilt gar als „absolute Ausnahme“. Auch dies deckt sich mit amerikanischen Untersuchungen, wonach sich StreifenbeamtInnen nur ca. alle 14 Jahre die Chance bietet, unmittelbar in einen Straßenraub eingreifen zu können.
Solche Zahlen sind nicht nur ernüchternd. Sie zeigen außerdem, daß es in-nerhalb der derzeit gültigen Polizeiphilosophie einen Kardinalfehler geben muß: Während sie bei der ‚echten‘ Kriminalitätsverhütung und -verfolgung mit den angewandten Methoden des Streifendienstes weitgehend erfolglos bleibt, boomen die Einsatzzahlen in einem Bereich, der (unmittelbare Schutz- und Hilfsleistungen ausgenommen) im Grunde gar nicht zu den originären Aufgaben der Polizei zählt und für den sie auch nicht hinreichend ausgebildet ist.
Diese Ergebnisse liegen seit Jahren vor und man müßte erwarten können, daß sie zumindest in den Innenministerien bekannt sind und entsprechend berück-sichtigt werden. Zumindest letzteres ist offenbar nicht der Fall. Anders ist es kaum zu erklären, daß als Reaktion auf das diffuse‘ subjektive (Un)Sicherheitsgefühl von BürgerInnen stets reflexartig der Slogan vom ‚Mehr Grün auf die Straße‘ erschallt. PolitikerInnen aller Parteien halten dies unterdessen für eine angemessene Antwort auf alle tatsächlichen (oder ver-meintlichen) Sicherheitsdefizite. Milde ausgedrückt ist ein solches Verhalten zumindest als grob fahrlässig einzustufen: Blanker Wahlzettel-Opportunismus. Mit der Realität jedenfalls hat es wenig zu tun. Da wäre es wohl ange-brachter, darüber nachzudenken, wieweit man die (Schutz)Polizei von reinen Dienstleistungsfunktionen entlasten könnte. Dies muß dann zugleich aber auch heißen, zu einem neuen Verständnis polizeilicher Aufgaben und Möglichkeiten zu gelangen.
‚Immer mehr von dem Selben‘, wie dies von Polizei und Politik einfallslos immer wieder auf’s neue repetiert wird, hat sich längst als untauglich erwiesen.