Kriminalpräventionsräte – Öffentliche Sicherheit als kommunale Aufgabe

von Silke Stokar

Bis in die achtziger Jahre hinein war es innerhalb der deutschen Linken kaum möglich über Polizeireformen und Kriminalprävention zu diskutieren. Polizei wurde bekämpft, nicht reformiert und Prävention war Teufelswerk. Innerhalb der GRÜNEN ist es inzwischen, insbesondere im Zuge von Regierungsbeteiligungen, akzeptierter politischer Realismus, eigene Reformkonzepte zu entwerfen und zumindest rudimentär durchzusetzen. Die Einrichtung kommunaler Präventionsräte wird dabei als eine Chance begriffen, die aus der sicherheitspolitischen Defensive führen könnte. Diese Debatte sollte – unter Berücksichtigung langjähriger internationaler Erfahrungen – offen und ohne Vorurteile geführt werden.

Mit einer Anhörung des Innenministeriums am 9.3.95 in Hannover wurde die öffentliche Debatte über ‚Kriminalprävention in Niedersachsen‘ vor einem knappen halben Jahr eröffnet. Seit dem 10.5.95 liegt nun ein Konzept zur Einrichtung von ‚Arbeitskreisen öffentliche Sicherheit auf Landes- und kommunaler Ebene‘ vor. Die theoretischen Grundlagen wurden im Bericht der von der rot-grünen Landesregierung eingesetzten ‚Polizeireformkommission‘ formuliert: „Staatlicher Kriminalpolitik in der modernen, arbeitsteiligen und komplexen Gesellschaft sind mehr als früher Grenzen gesetzt, die es offensiv und öffentlich zu benennen gilt. Mehr denn je besteht die Notwendigkeit einer kriminalpolitischen Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft. Polizei und Strafjustiz haben sich deutlicher und wirksamer als bislang gegen die politisch und gesellschaftlich bequeme Alleinverantwortung für die innere Sicherheit und die Kontrolle der Kriminalität zu wehren. Die Verantwortung des Staates für die öffentliche Sicherheit sowie für die Kontrolle, Verfolgung und Verhütung von Kriminalität ist als eine gesamtstaatliche Aufgabe zu begreifen, die sich ressortmäßig nicht isolieren läßt …“.

Gedanken aus Niedersachsen

Der Kabinettsentwurf sieht auf Landesebene die Einrichtung eines „intermi-nisteriellen Arbeitskreises öffentliche Sicherheit“ vor. Die Federführung soll vorbehaltlich einer weiteren Entscheidung beim Innenministerium liegen. Das ‚Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen‘ soll durch ständige Mitarbeit die wissenschaftliche Begleitung sicherstellen. Eine der wesentli-chen Aufgaben soll in der Erstellung einer fortzuschreibenden Kri-minalitätsanalyse für das Land Niedersachsen liegen. Kommunale Arbeitskreise für öffentliche Sicherheit sollen in der Entstehungs- und Aufbauphase beratend unterstützt werden. Initiativen zur Einrichtung derartiger Arbeits-kreise gibt es in Hannover, Gehrden, Goslar, Großburgwedel und Lüneburg.
Der Kabinettsentwurf geht von folgenden zusammengefaßten Überlegungen aus:
„- Die statistisch erfaßte Kriminalität stagniert nach einer besorgniserregenden Zunahme nach der Öffnung der Grenzen in Richtung Osten derzeit auf einem relativ hohen Niveau. Sowohl durch die besonders sozialschädlichen Delikte (Organisierte Kriminalität, Rauschgift-, Umwelt- und Wirtschaftskriminalität), als auch durch die Flut der Massenkriminalität wird das Sicherheitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigt.
– Polizeiliche Aufklärungsquoten steigen nicht proportional zu dem Einsatz polizeilicher Ressourcen. Eine Ausweitung der personellen und sächlichen polizeilichen Ressourcen der Landespolizei ist begrenzt.
– Polizei kann Kriminalitätsvorbeugung nur sehr eingeschränkt leisten. Re-pression wiederum zielt nur auf Probleme, die bei einer wirksamen Prävention nicht entstanden wären. Ansatzpunkte für eine wirkungsvolle Kriminali-tätsverhütung können Praxis und Wissenschaft durch Erfahrungen und For-schungsergebnisse liefern. Deren Umsetzung scheitert häufig an fehlender In-formation sowohl der staatlichen Entscheidungsträger als auch der einzelnen Bürgerinnen und Bürger sowie an mangelnden Abstimmungsprozessen staatlicher Instanzen.
– Wer wirkungsvolle Kriminalitätsverhütung erreichen will, muß vorhandene Erfahrungen und Forschungserkenntnisse aufspüren und auswerten, neue Denkansätze formulieren und durch kriminologische Forschung absichern, praktische Umsetzungsmöglichkeiten erkunden, anregen und auf ihre Effizienz untersuchen und ständig die Öffentlichkeit informieren; kurz gesagt: Er muß letztlich alle diejenigen zusammenführen, die zur Bewältigung dieser in erster Linie gesellschaftspolitischen Aufgaben beitragen können“.

Kriminalpräventionsräte in der Bundesrepublik

Im Oktober 1990 wurde in Schleswig-Holstein mit dem ‚Rat für Kriminali-tätsverhütung‘ die erste Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik ge-gründet. Der Rat ist als gemeinnütziger Förderverein organisiert, die Ge-schäftsführung des Vereins ist mit zwei hauptamtlichen Mitarbeitern im In-nenministerium angesiedelt. Den Vorstand bilden die Minister für Inneres und Justiz sowie die Ministerinnen für Bildung und Soziales. Der Rat selbst besteht aus über hundert Mitgliedern aus Justiz, Opferhilfeorganisationen, Kirchen, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Versicherungen und Polizei. Zu den unterschiedlichen Themenbereichen arbeiten Arbeitsgruppen, die sich einmal monatlich treffen. Das Themenspektrum reicht dabei von der Erstellung von Kriminalitätslagebildern über Umweltkriminalität, Drogenkriminalität, Gewaltkriminalität bis hin zu Maßnahmen technischer Prävention. Kommunale Präventionsräte gibt es derzeit in Neumünster, Henstedt-Ulzburg, Lübeck und Itzehoe. In weiteren Städten und Gemeinden sollen Präventionsräte eingerichtet werden.

Ressortübergreifende kriminalpräventive Bemühungen gibt es in Nordrhein-Westfalen seit 1993. Sie sind durch Erlasse geregelt. Auf Landesebene ar-beitet im Innenministerium eine ‚Interministerielle Arbeitsgruppe Kriminali-tätsvorbeugung‘. Sie soll die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden und gesellschaftlichen Institutionen koordinieren und verbessern. Die Polizei ist aufgefordert, initiativ zu werden und darauf hinzuwirken, daß im kommu-nalen Bereich ‚Kriminalpräventive Räte‘ oder entsprechende Arbeitskreise gebildet werden. In diesen Gremien kann die Polizei so lange federführend sein, bis vor Ort andere Regelungen getroffen werden. Die Themen der Kri-minalitätsvorbeugung sollen künftig bei der polizeilichen Aus- und Fortbil-dung angemessen berücksichtigt werden.

In Baden-Württemberg arbeiten wissenschaftlich begleitete Modellprojekte derzeit in den Städten Freiburg, Ravensburg, Calw und Weingarten. An der Begleitung und Auswertung beteiligt sind das Institut für Kriminologie in Heidelberg, das Institut für Rechtstatsachenforschung an der Universität Konstanz, das Max-Planck-Institut in Freiburg und die Fachhochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen.

Internationale Erfahrungen

Modellprojekte gemeindeorientierter Polizeiarbeit (community policing) gibt es in Nordamerika seit Beginn der siebziger Jahre in fast allen Groß- und Mittelstädten. Die Forcierung polizeilicher Prävention ging in den USA einher mit einer Verschärfung der Sicherheitspolitik unter der Reagan-Regie-rung. Ausschlaggebend für den Ausbau von Präventionsprojekten waren ökonomische Gründe. Die Resozialisierungsprojekte der staatlichen Bewäh-rungshilfe waren zu teuer und hatten kaum Erfolge vorzuweisen. Durch prä-ventive Programme sollten insbesondere Jugendliche davon abgehalten werden, in ‚kriminellen Gangs‘ abzugleiten. Gleichzeitig hoffte man, die soziale Kompetenz der Polizei zu erweitern und damit die Polizeiarbeit insgesamt aufzuwerten. Außerdem sollte die Zusammenarbeit zwischen zivilen Stellen der Gemeinde und der Polizei stärker vernetzt werden.

Seit Ende der siebziger Jahre gibt es auch in den meisten unserer europäi-schen Nachbarländer unterschiedliche kriminalpräventive Ansätze. In den Niederlanden und den skandinavischen Ländern ging die Entwicklung einher mit einer Liberalisierung der Innenpolitik. Eine zentrale Stelle zur Krimina-litätsprävention, angesiedelt beim Justizministerium, koordiniert in den Nie-derlanden seit 1979 verschiedene Präventionsprojekte. Auf kommunaler Ebene arbeiten Komitees für Verbrechensprävention und Opferhilfe. Der Grundgedanke ist in den Niederlanden, staatliche und kommunale Aspekte präventiver Arbeit miteinander zu verbinden. Einen hohen Stellenwert hat die Opferhilfe. Die drogenpräventiven Programme etwa sind in diesen Gremien entwickelt worden.

In Frankreich ist der ‚Nationale Präventionsrat‘ Koordinationsorgan für die ca. 400 kommunalen Präventionsprojekte. Er ist im Innenministerium angebunden und hat Richtlinienkompetenz. Zwischen dem ‚Nationalen Präventionsrat‘ und den kommunalen Projekten arbeiten regionale Präventionsräte. Sie sind für problemübergreifende Konzepterstellung und wissenschaftliche Auswertung der kommunalen Projekte zuständig. Schwerpunkte der Präventionsarbeit liegen im Bereich der Jugendhilfe.

In Großbritannien existieren nur kommunale Präventionsgremien. Ca. 40 Städte mit besonders hoher Kriminalitätsbelastung erhalten von der Regierung für die Durchführung von Programmen zur Förderung der Sicherheit hohe finanzielle Zuwendungen. Ressortübergreifende kommunale Gremien entwickeln unter Beteiligung von Kirchen und sozialen Gruppen Konzepte und setzen sie um. Für die Konzepte gibt es keine verbindlichen Richtlinien. Ihre Ansätze sind entsprechend unterschiedlich. Ein erkennbarer Schwerpunkt liegt in der Reduzierung von Tatgelegenheiten durch erhöhte Wachsamkeit der Bevölkerung (neighbourhood-watch).

In Dänemark arbeitet seit vielen Jahren ein lokales Netzwerk sozialer Stellen mit einem ganzheitlichen Präventionskonzept. Das vorrangige Ziel der kri-minalpräventiven Räte ist der Abbau der Kinder- und Jugenddelinquenz. Die problemorientierte Projektarbeit wird koordiniert von der Schul-, Freizeit-, Gesundheits- und Sozialverwaltung in enger Zusammenarbeit mit weiteren kommunalen Stellen, der Polizei und den Gerichten. Nach Zahlenangaben aus Dänemark soll diese vernetzende Zusammenarbeit zu einem Rückgang von 33% im Bereich der Jugendkriminalität geführt haben.

Inhaltliche Einmischung und kritische Begleitung

Es gibt vielfältige Gründe dafür, daß die Debatte über Theorie und Praxis kommunaler Kriminalprävention in der Bundesrepublik mit fast zwanzigjähriger Verzögerung geführt wird. Die historischen Erfahrungen mit einer militärisch strukturierten Polizei haben zu Recht verhindert, der Polizei die Erlangung sozialpolitischer Kompetenz zuzutrauen.
Die polizeiliche Aufrüstung seit Beginn der siebziger Jahre und die durch unverhältnismäßige Polizeieinsätze eskalierenden Auseinandersetzungen zwi-schen den ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ und der Polizei in den siebziger und achtziger Jahren haben sowohl zu einem tiefen Mißtrauen zwischen Polizei und engagierten Bürgerinnen und Bürgern geführt als auch eine konstruktive Auseinandersetzung zwischen Polizei und sozialen Projekten größtenteils unmöglich gemacht.
Ebenso haben die theoretischen Abhandlungen des ehemaligen BKA-Chefs Horst Herold über gesellschaftssanitäre Aufgaben der Polizei und Prävention weit im Vorfeld einer Tatbegehung zu Recht zur Ablehnung solcher Präventions-überlegungen geführt.
Die (laut polizeilicher Kriminalstatistik) sprunghaft gestiegene Kriminalität Anfang der neunziger Jahre und die von konservativen Innenpolitikern initi-ierte Sicherheitsdebatte haben zu neuen Überlegungen bei der Kriminalitäts-verhütung geführt. In einigen Städten und Ländern haben sich bürgerwehr-orientierte Ansätze gebildet (siehe S. 50ff.), der private Sicherheitsmarkt boomt, andere Städte und Länder richten ressortübergreifende Arbeitskreise ein.
Einerseits ist es im Zuge dieser Debatte zu massiven Rechtsverschärfungen auf Bundesebene gekommen (Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, Verbrechensbekämpfungsgesetz, Bundesgrenzschutzgesetz), andererseits müssen sich die Länder angesichts der anhaltenden Finanzkrise Gedanken darüber machen, wie Polizeiarbeit bezahlbar bleibt.

Weniger Polizei mit hoher sozialer und fachlicher Kompetenz soll effektiv eingesetzt werden, so das Ziel der niedersächsischen Polizeireformer. Bei-spiele aus Hannover zeigen, daß Kommunen durch ihr Handeln selbst kriminogene Strukturen schaffen:
– Am Stadtrand wird ein Wohngebiet ohne soziale Infrastruktur und Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr in bekannter monotoner Sozialwohnungsbauweise hochgezogen. Obwohl alle die negativen Folgen kennen, wird noch in den neunziger Jahren ein neues Ghetto städtisch geplant und gebaut.
– Sozialwohnungen, in denen überwiegend deutsche und türkische Familien seit Jahren relativ integriert nebeneinander wohnen, werden verstärkt durch russische Aussiedlerfamilien belegt. Zwischen den Jugendlichen aus Rußland und den türkischen Jugendlichen kommt es regelmäßig zu nächtlichen Stra-ßenschlachten. Die Polizei versucht durch den Einsatz von Hundertschaften, (Un)Ruhe in den Stadtteil zu bringen. Städtische Sozialarbeit reagiert erst als die Gewalt eskaliert.

Andererseits behindert die Polizei häufig kommunale Sozialpolitik:
– Ein Drogencafé wird umgesiedelt, es ist mühsam gelungen, Akzeptanz am neuen Standort zu schaffen. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen verstärkt die Po-lizei die öffentliche Observation und Repression in unmittelbarer Nähe des Drogencafes. Die Arbeit der Sozialarbeiter wird zunichte gemacht.
– Mit einem großangelegten Programm versucht das Jugendamt, Kontakt zur örtlichen Graffiti-Szene aufzunehmen. Im Stadtgebiet werden legale Räume für Graffiti-Kunst geschaffen. Durch massive Hausdurchsuchungen bei Kindern und Jugendlichen zerschlägt die Polizei die zarten Bande zwischen Szene und Jugendsozialarbeit.
Die Beispiele machen deutlich, es spricht einiges für vernetzende, ressort-übergreifende Arbeitskreise.

Die GRÜNEN in Niedersachsen haben sich für den Weg der inhaltlichen Einmischung und kritischen Begleitung entschlossen, denn nicht alle Ansätze kommunaler Präventionsarbeit sind abzulehnen. Eine Verbesserung der fach-lichen und sozialen Kompetenz der Polizei ist zu begrüßen, solange damit nicht das Ziel einer Aufgabenerweiterung verbunden ist. Deshalb sollte die Federführung im Landesarbeitskreis öffentliche Sicherheit nicht beim Innen-ministerium, sondern beim Justiz- oder Sozialministerium liegen. In den kommunalen Arbeitskreisen darf die Polizei ausschließlich beratende Funktion haben. Die zu beteiligenden gesellschaftlichen Gruppen und sozialen In-stitutionen sind gleichberechtigt an der Konzepterstellung zu beteiligen. Die Projekte werden aufgrund einer wissenschaftlichen Analyse der Kriminali-tätsentwicklung und ihrer Ursachen ausgewählt. Es werden Konzepte mit Lö-sungsansatz in einem zeitlich festgelegten Rahmen entwickelt und konkret umgesetzt.
Unter diesen Rahmenbedingungen werden Ansätze einer kommunalen Krimi-nalitätsverhütung unterstützt. Den Rufen nach immer mehr Polizei und schär-feren Strafgesetzen kann problemorientiertes Handeln entgegengesetzt werden. Der Stellenwert der Sozialarbeit wird in den Vordergrund gerückt. Bür-gerwehrorientierten Ansätzen wird der Boden entzogen. Polizeiarbeit wird transparenter, die Polizei muß sich der Debatte mit sozial engagierten Grup-pen und Institutionen stellen und zu verändertem Verhalten bereit sein.

Silke Stokar ist seit Juni 1994 Mitglied der Landtagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Niedersachsen und innenpolitische Sprecherin der Fraktion
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.