Literatur zum Schwerpunkt

Vor sieben Jahren fiel der ‚Eiserne Vorhang‘. Die Staaten des vormaligen Ostblocks öffneten sich der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Neue Staaten entstanden oder erstanden wieder; deren politische Verfassungen näherten sich den Modellen der westlichen repräsentativen Demokratien an. Durch die ökonomische Transformation und die Verwandlung der politischen Institutionen brachen soziale Krisen unterschiedlichster Formen auf: Materielle Verarmung, nationale Konflikte, Kriminalität etc. Daß in einer derartigen Konstellation den Apparaten der Inneren Sicherheit eine besondere Bedeutung zukommt, liegt auf der Hand. Zum einen waren sie es, die die kommunistischen Regime im Innern stabilisierten, zum anderen ist die Stunde gesellschaftlicher Verunsicherung die Stunde aller Sicherheitsapparate, denn nur sie versprechen kurzfristige Ruhe und Ordnung, auf denen sich die (neue) Herrschaft einrichten kann.

Wer jedoch vermutet, die Polizeiforschung habe diese Situation bereitwillig und neugierig aufgegriffen, wird durchgehend enttäuscht. Sofern ersichtlich, hat auch die Spezies der Transformationsforscher bislang einen Bogen um die Innere Sicherheit gemacht. Der Verweis auf die folgenden Veröffentlichungen geschieht aus einem doppelten Grund: Erstens gibt es einige wenige Ausnahmen, die erste Einblicke in die Situation der Polizeien in einigen Ländern Mittel- und Osteuropas liefern. Zweitens werden Veröffentlichungen aufgeführt, die symptomatisch dafür stehen, wie die (deutsche) ‚Law enforcement community‘ die Polizeiprobleme unserer neuen Nachbarn thematisiert.

Fogel, D., 1994: Policing in Central and Eastern Europe: Report on a Study Tour, Helsinki
Bei dem Bericht Fogels handelt es sich um eine rein beschreibende Bestandsaufnahme der Polizeisysteme in den von ihm bereisten Ländern.

Les Cahiers de la Sécurité Intérieure 1992, No. 8
Das Schwerpunktheft zum Thema ‚Polizei und Demokratie im Osten‘ enthält Beiträge über die Polizeientwicklung in Polen, der GUS, der Tschechoslowakei und Ungarn – freilich auf dem Stand von Ende 1991.

Die Polizei 83. Jg., 1992, H. 5: Schwerpunktheft: Innere Sicherheit in Mittel- und Osteuropa
Deutsches Polizeiblatt 12. Jg., 1994, H. 2: Schwerpunktheft: Polizei in Europa – Unsere Nachbarn
Das ‚Polizei‘-Schwerpunktheft ist symptomatisch für die deutsche Diskussion: Experten aus vier Ländern (RUS, PL, H, CR) berichten eindringlich über die wachsenden Kriminalitätsprobleme in ihrer Heimat. Der Polizeiapparat findet nur in Nebensätzen Erwähnung; und dann vor allem dahingehend, daß ihm die Ressourcen fehlen, die Kriminalität bewältigen zu können. Daß diese Apparate selbst ein Sicherheits- und Demokratieproblem sein könnten, kommt den Autoren nicht in den Sinn. In seinem Einleitungsbeitrag spricht der damalige IMK-Vorsitzende Friedel Läpple (SPD) von den „rechtsstaatlich orientierte(n) Sicherheitskräfte(n) in den Ländern Mittel- und Osteuropas“, die zu unterstützen auch „ein Gebot der Kollegialität“ sei. In welchem rechtsstaatlich-bürgerrechtlichen Zustand sich diese Apparate befinden, will wirklich aber kaum jemand in Deutschland wissen.
Im ‚Deutschen Polizeiblatt‘ werden die Polizeien der beiden unmittelbaren Nachbarn Polen und Tschechien vorgestellt. Dabei handelt es sich um einen Ministeckbrief, der jeweils auf zwei Seiten einige elementare Fakten liefert.

Häseker, Wolfgang: Die Situation der Polizei in Osteuropa. Unterstützung der Problemlösungen durch den Westen, in: Polizeispiegel (Berliner Ausgabe) 29. Jg., 1994, Nr. 2, S. 46ff. u. Nr. 3, S. 65-69
Erstaunlicherweise (oder gerade deshalb?) unterscheidet sich der Beitrag des PFA-Mitarbeiters in der eher rechtslastigen Hauspostille der DPolG wohltuend von vielen anderen Berichten dadurch, daß er einige wunde Punkte der Polizeientwicklung in den MOE-Staaten benennt. Z.B. verweist er auf die „extrem hierarchischen Strukturen“, welche die Polizeiapparate nach wie vor kennzeichneten, oder auf die Schwierigkeiten, mit dem alten Personalbestand Veränderungen zu bewerkstelligen, auf die Verhaltensdispositionen des Personals etc. Wegen dieser Probleme hält Häseker Ausbildungshilfen für wichtiger als eine verbesserte Ausrüstung.

Fehervary, Janos/Schulte, Rainer: Mitteleuropäische Polizeiakademie. Ein Modell praktischer Zusammenarbeit bei der Aus- und Fortbildung polizeilicher Führungskräfte, in: Kriminalistik 49. Jg., 1995, H. 4, S. 283-288
Einer der wenigen Berichte über die 1992 formell gegründete ‚Mitteleuropäische Polizeiakademie‘ (MEPA). Informativ.

Lammich, Siegfried: Operative Ermittlungsmethoden in Osteuropa. Der Einsatz von operativer Technik in der Gesetzgebung einiger osteuropäischer Länder, in: Kriminalistik 47. Jg., 1993, H. 8-9, S. 581-587
Ders.: Kriminalitätsbekämpfung in Litauen, in: Kriminalistik 48. Jg., 1994, H. 11, S. 699-704
Lammich stellt im Kern die rechtlichen Regelungen verdeckter Polizeimethoden in sieben MOE-Staaten dar. In seinem Fazit wertet er den Umstand, daß es überhaupt gesetzliche Bestimmungen gibt, positiv; insgesamt überwiegt jedoch die Kritik, derzufolge durchgängig wichtige Fragen den „nicht veröffentlichten Rechtsakten der Exekutivorgane und der Praxis überlassen worden ist“.
Wer etwas über die Polizeientwicklung in einzelnen MOE-Staaten erfahren will, wird wiederum durchgehend enttäuscht.

Rußland

Williams, James L./Serrins, Adele S.: The Russian Militia: An Organization in Transition, in: Police Studies Vol. 16, 1993, No. 4, S. 124-128
Der knappe Aufsatz versammelt zumindest eine Auflistung der Probleme, vor denen die Miliz in Rußland steht: zu wenig Personal, zu geringer Lohn, Korruption, Ausbildungs- und Ausrüstungsdefizite sowie eine veränderte Aufgabe (statt politischer Kontrolle nun ‚Law enforcement‘) als ‚interne‘ und steigende Kriminalitätsraten und veränderte Kriminalitätsformen als ‚externe‘ Probleme. Die am Ende genannten Ziele und Strategien bleiben entsprechend allgemein. Erforderlich seien strukturelle Änderungen der Miliz, die deren politische Indienstnahme verhinderten; ausreichende finanzielle und politische Unterstützung sowie verbesserte Kooperation mit westlichen Polizeien seien erforderlich; und schließlich müsse, um deren ideologische Indienstnahme zu verhindern, die Miliz auf unterer Ebene extern kontrolliert werden.

Moskalkova, Tatjana: Die Polizei im Demokratisierungsprozeß der ehemaligen UdSSR, in: Bereitschaftspolizei – heute 21. Jg., 1992, Nr. 9, S. 47-51
Der Beitrag von Frau Oberstleutnant Moskalkova liefert aus Sicht des russischen Innenministeriums einen Überblick über die auf die Polizei bezogene Rechtsentwicklung sowie auf Gesetzesvorhaben. Außer höflichen Bekenntnissen („Ein umfassendes modernes Paket demokratischer Gesetzgebungsaktivitäten ist geleistet worden und wird noch zu leisten sein.“) erfährt man nicht viel über die russische Polizei.

Kulikow, Anatoly S.: Einsatz geschlossener Polizeiverbände in Krisengebieten der russischen Föderation, in: Bereitschaftspolizei – heute 23. Jg., 1994, Nr. 6, S. 338-342
Der damalige stellvertretende Innenminister Rußlands sprach auf einem PFA-Seminar zum Thema ‚Strategie und Taktik von Polizei-Großeinsätzen‘ über die ‚Inneren Truppen‘ seines Ministeriums. Wundert man sich zunächst lediglich, daß hier offensichtlich Bürgerkriege als polizeiliche Großeinsätze betrachtet werden, so ruft die Selbstdarstellung Kulikows Entrüstung hervor, wenn er von der „friedensstiftenden Mission der Inneren Truppen Rußlands“ redet. Zu gerne läse man die nachfolgende Diskussion in der PFA.

Rudnik, Günter: Besuch bei der Polizei Rußlands, in: Der Kriminalist 27. Jg., 1995, H. 11, S. 507-511
Bei dem Aufsatz handelt es sich um einen mit Reiseimpressionen durchsetzten Bericht über den Besuch einer BDK-Delegation in Kaliningrad. Man erfährt einige Details über Ausbildung und Rekrutierung. Zentrale Probleme werden allenfalls durch Randbemerkungen abgehandelt.

Polen

Rudnik, Günter: Eine Reise nach Warschau, in: Der Kriminalist 27. Jg., 1995, H. 7-8, S. 337-344
Bericht über den Besuch einer BDK-Delegation in Polen. Nur am Rande erfährt man einige interessante Fakten: Daß das Führungspersonal der Polizei gewechselt hat, daß die Regierungen mehr an Wirtschafts- denn an Polizeireformen interessiert sind, daß die Übernahme von APIS vorgesehen ist etc. Ansonsten gibt es keine Hinweise zum Thema ‚Polizei und Recht‘ oder ‚Polizei und politische Herrschaft‘; statt dessen durchziehen die Hinweise auf die von den Gastgebern gern gereichten „kleinen Gläschen“ den Reisebericht.

Crandon, Garth L./Sypythowska-Williams, Barbara: Policing in a post-socialist Society: The Case of Gdansk, Poland, in: Police Journal Vol. LXIX, 1996, No. 4, S. 347-353
Auch hier handelt es sich um einen Reisebericht: Um eine unkritische Aneinanderreihung einzelner Aspekte der Polizei in Danzig. So findet man Bemerkungen über die Korruption wie das Bekenntnis eines Polizeiführers: „No matter who is in power we still have to police“ oder die Vermutung, daß „old police cultures“ durchaus noch existent sein könnten.

Gaberle, Andrzej: Civic Militia and Police in the Republic of Poland, in: Dölling/Feltes (Hg.): Community Policing – Comparative Aspects of Community Oriented Police Work, Holzkirchen/Obb. 1993, S. 191-197
Der Beitrag gilt der Darstellung der Stadtpolizeien am Beispiel Krakaus. Die Errichtung dieser Hilfspolizei auf kommunaler Ebene wurde durch das Polizeigesetz von 1990 ermöglicht. Daneben enthält der Aufsatz einige Hinweise auf die Veränderungen im Polizeibereich (Trennung des Inlandsgeheimdienstes; Entlassungen von Personal etc.).

Häseker, Wolfgang: Die Polizei in Polen, in: Deutsches Polizeiblatt 12. Jg., 1994, Nr. 2, S. 17-18.
Der Text liefert eine Kurzcharakterisierung der polnischen Polizei (knapp erläutertes Organisationsschema) ohne jede Problematisierung.

Ungarn

Finszter, Géza/Korinek, Lászlo: Kriminalität und ihre Bekämpfung in Ungarn, in: Der Kriminalist 27. Jg., 1995, H. 11, S. 498-505
In ihrem lesenswerten Aufsatz beschreiben die Autoren die ungarische Polizeientwicklung seit 1989. Ihr desillusionierendes Fazit: Ein Abbau der Hierarchie und eine Dezentralisierung der Polizei war nie geplant; angesichts der neuen Unsicherheiten unterstützt die Bevölkerung eine starke Polizei und es gibt keine Sensibilität in der ungarischen Öffentlichkeit gegenüber Polizeiübergriffen.

Szikinger, István: Community Policing in Hungary – Perspectives and Realities, in: Dölling/Feltes (Hg.): Community Policing – Comparative Aspects of Community Oriented Police Work, Holzkirchen/Obb. 1993, S. 199-205
Ders.: Anmerkungen zur Privatisierung der Sicherheit in Ungarn, in: Sack/Voß/Frehsee u.a. (Hg.): Privatisierung staatlicher Kontrolle: Befunde, Konzepte, Tendenzen (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, Bd. 3), Baden-Baden 1995, S. 194-198
Wie Finszter/Korinek, so kritisiert auch Szikinger die Entwicklung der Polizei in seinem Land. Privatisierung der Inneren Sicherheit habe in Ungarn nicht stattgefunden und sei auch nicht geplant. Vielmehr seien entstehende Bürgerwehren der Polizei einverleibt worden. Die gestiegene Kriminalität diene als Argument gegen eine Dezentralisierung der Polizei; und spätestens seit dem Streik der Taxifahrer von 1990 sei auch der politische Wille verschwunden, dem Innenministerium die vollständige Verfügung über die Polizei zu entziehen.

Andere MOE-Staaten

Marx, Stefan: Die Polizei in Litauen, in: Polizei – Verkehr – Technik 39. Jg., 1994, H. 1, S. 19-20
Ders.: Die Polizei in Lettland, in: Polizei – Verkehr – Technik 39. Jg., 1994, H. 6, S. 179-180
Scholz, Mario: Die Polizei in der Tschechischen Republik, in: Deutsches Polizeiblatt 12. Jg., 1994, Nr. 2, S. 18-20
Bei den kurzen Beiträgen handelt es sich um Minidarstellungen der jeweiligen Polizeien (Einheiten, Organisationsformen, Personal, Ausrüstung). Kennzeichen: rudimentär und unkritisch.

Zusammenarbeit BRD – MOE

Langdon, A.J.: Justice and Home Affairs Cooperation with Associated Countries (October 1995), Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Doc. SEK (96) 86), Brüssel 1996
Der Langdon-Bericht faßt die Ergebnisse einer Reise in die Hauptstädte von 10 der EU assoziierten Länder zusammen. Das Schwergewicht gilt den Aufgaben, denen sich die Polizeien gegenübersehen. Drei Bereiche nennt der Bericht: Illegale Einwanderung und Grenzkontrollen, Asylverfahren sowie die Bekämpfung von Drogen- und organisierter Kriminalität. Langdon stellt durchgehend die Bereitschaft zur polizeilichen Zusammenarbeit mit dem Westen fest. Die praktische Kooperation müsse so eng wie möglich ausgestaltet werden. Der Austausch von Verbindungsoffizieren wird ausdrücklich empfohlen.

Innenministerkonferenz (Hg.): Polizeiliche Zusammenarbeit mit Osteuropa, Potsdam 1993
Die Polizei 84. Jg., 1993, H. 6: Schwerpunktheft: Polizeiliche Zusammenarbeit mit Osteuropa
Am 11./12.3.93 veranstaltete die Innenministerkonferenz einen Fachkongreß in Frankurt/Oder. 131 Polizisten und Innenpolitiker aus 5 Staaten erörterten grenzüberschreitende Kriminalitätsprobleme und bekräftigten die Notwendigkeit und Bereitschaft enger internationaler Zusammenarbeit. Für praktische Fragen von Interesse ist die Darstellung des BGS-Inspekteurs Fredi Hitz über die Zusammenarbeit an den deutschen Ostgrenzen. Aus dem 10-Punkte-Programm des BMI-Staatssekretärs Lintner wie aus den Ausführungen des damaligen baden-württembergischen Innenministers Birzele geht deutlich hervor: Deutschland ist auf die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen der MOE-Ländern angewiesen. Verbesserte Kooperation ist deshalb angesagt. Daß man dabei kein Wort darüber verliert, mit welchen Apparaten da kooperiert wird, versteht sich von selbst. Birzeles Formulierung: „Der Aufbau der demokratischen Polizeien in den Reformstaaten (werde) noch einige Zeit in Anspruch nehmen“, ist nur eine diplomatische Umschreibung des gegenwärtigen Zustands der Polizei in den Ländern des ehemaligen Ostblocks.

Deutscher Bundestag, Drs. 13/4942
Diese auch ansonsten lesenswerte Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der SPD zur „Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ enthält auch einige interessante Fakten zum Umfang der Zusammenarbeit mit den MOE-Staaten: Über die Regierungsabkommen (zur OK-Bekämpfung), über die Ausstattungshilfen und die Zahlungen im Zusammenhang mit den Rückübernahmeabkommen, über die Zahl und Ausstattung der Verbindungsbeamten.
(sämtlich: Norbert Pütter)

Nicht in die Zusammenarbeit der Apparate, sondern in die ihrer wissenschaftlichen Beobachter bietet die folgende Veröffentlichung Einblicke:
Robert, Philippe/Sack, Fritz (Hg.): Normes et Déviances en Europe. Un debat Est-Ouest/Norms and Deviances in Europe. An East-West-Debate, L’Harmattan, Paris 1994, 220 FF
Der Band faßt die Beiträge eines Kolloquiums der ‚Groupe européen des recherches sur les normativités‘ (Gern) zusammen, in dem Teilnehmer aus West- und Mitteleuropa sich mit der Krise normativer Systeme beschäftigten. Um das Ergebnis vorwegzunehmen, das Fritz Sack in seinem Schlußwort keineswegs verheimlicht: Es gelang den Teilnehmern weder, sich darüber zu verständigen, worin die Krise besteht, noch kam es zu einer gemeinsamen Ost-West-Debatte. West- und osteuropäische Forscher sprechen von unterschiedlichen Krisen: Während sich die westeuropäischen Teilnehmer darüber streiten, ob die Nationalstaaten ihre hegemoniale Rolle, Normen zu setzen und durchzusetzen, einbüßen (Robert), oder die vermeintliche Krise allenfalls die Auflösung des „traditionellen autoritären Wohlfahrtsstaates“ widerspiegelt, keinesfalls jedoch die Erosion staatlicher Herrschaft (Steinert), kämpfen die Osteuropäer mit dem Problem, daß die proto-kapitalistische Transformation dieser Gesellschaften zu einer „normative void at the state level“ (Kurczewski, S. 60) geführt hat. Was aber nun die Krise in Osteuropa ausmacht, bleibt ebenfalls strittig: Erwächst die „normative Leere“ daraus, daß die tradierten Normen zerbrechen und es eines neuen Sozialvertrags bedarf (Mitev, S. 91)? Oder entpuppt sich die vermeintliche Leere bei genauerem Hinsehen vielleicht als ein ganz rationales Normsystem für einen Privatisierungsprozeß, in dem Gewalt und Korruption nur eine typische Begleiterscheinung darstellen?
Krise (und ggf. welche?) oder notwendige Begleiterscheinung sozialen Wandels – im Osten wie im Westen? Die Antworten, die in vier Panels „Kriminalität und soziale Unruhe“, „Drogen und Drogenpolitik“, „Polizei und neue Formen der Prävention“ gegeben werden, fallen sehr unterschiedlich aus, je nach politischem Standpunkt. Durchgängig ist jedoch eine Ost-West-Differenz zu bemerken. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Positionen bleibt zunächst nur die Einsicht, daß „das Krisengerede – oder vornehmer ausgedrückt -, der Krisendiskurs … ungenügend ist“ (Sack, S. 383). Daß die Teilnehmer dem Leitmotiv der Veranstalter nicht gefolgt sind, sollte jedoch nicht als Scheitern interpretiert werden. Es sind vielmehr gerade die Divergenzen und Widersprüche zwischen den Beiträgen, die diesen Band interessant machen. Zum einen als Spiegelbild einer Ost-West-Debatte, zum anderen aber als anregender Versuch einer Diskussion zwischen Vertretern einer Kriminologie, die von einer – wie auch immer reformulierten – positiven Moralordnung Dürheimscher Prägung ausgehen und den eben diese Annahme hinterfragenden Kritikern. Ermöglicht wird die Lektüre dieser Debatte für die Mehrzahl der deutschen Leser dadurch, daß 80 Prozent der Beiträge in englischer Sprache verfaßt sind.
(Albrecht Funk)