Polizeitransformation als bürgerrechtliches Problem – Erfahrungen aus zwei deutschen Systemveränderungen

Deutschland – wie wir es heute kennen – hat (in relativ kurzer Zeit) bereits zwei politische Veränderungen mitgemacht: Zunächst die Transformation vom Nazi- Deutschland und seinen westlichen Besatzungszonen 1945-49 in die Bundesrepublik bis 1990. Dann, nach deren Zusammenbruch, die Integration der ehemaligen DDR – dem anderen deutschen Nachfolgestaat der nationalsozialistischen Herrschaft, der, auf ‚realsozialistisch‘ getrimmt, in Form von fünf neuen Bundesländern in die BRD überführt wurde.

Auch diese ‚Einigung‘ hat das gesamte Deutschland verändert – selbst wenn der westliche Teil dies beharrlich verdrängt. Zu den persönlichen, wissenschaftlich reflektierten Erfahrungen gesellen sich jahrelange, demokratietheoretische, bürgerrechtliche und polizeiforscherische Analysen und Aktivitäten. Beide Erfahrungen und Kompetenzen begründen meine nachhaltige Skepsis gegenüber all dem, was meist allzu schnell und begriffsfertig als Transformation gefeiert oder, gerade so als habe man es mit einem einigermaßen klaren und eindeutigen Vorgang zu tun, als Transformation ‚erforscht‘ wird.

Ich bin kein ‚Transformationsforscher‘. Jedenfalls nicht das, was man unter diesem Begriff versteht, seit er nach dem Zusammenbruch der ‚realsozialistisch‘ beherrschten Staaten einen geradezu inflationären, forschungsschweren Tausch- und vielleicht auch reformerischen Gebrauchswert bekommen hat. Ich bin auch keiner der osteuropäischen oder asiatischen Sprachen mächtig.Um die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten und die aus ihrem früheren Imperium in Asien entstandenen Staaten, geht es der ‚Transformationsforschung‘ insbesondere. Der Mangel an Sprachkenntnissen ist allerdings bei weitem hemmender als eine fehlende Praxis in der herkömmlichen ‚Transformationsforschung‘.

Transformation

Redet man von ‚Transformation‘, erweckt schon die Wortwahl den Anschein, als sei die Richtung dessen, was da transformiert werden soll oder sich in einem Prozeß der Transformation befinde, einigermaßen klar vorgegeben. Als sei die neue Form, welche die jeweilige alte Form erreichen solle, ebenso bestimmt wie die hierzu erforderlichen Mittel und Wege. Geradeso auch, als gäbe es allenfalls einige Probleme mit dem Nachlaß der früheren Form – in diesem Falle dem ‚realen Sozialismus‘; Probleme damit, daß dessen šberreste nicht rasch genug fortgeschafft werden können.

In diesem Sinne wiederholt das ganze Transformationsgerede über die mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) alle Fehler und Fehleinschätzungen der sog. Modernisierungstheorie. Fast schlagartig wurde diese 1990 (nicht nur) in der Bundesrepublik (West) in Form der ‚Nachholenden Modernisierung‘ wie eine theoretische Friedensdividende wieder aus der Versenkung geholt. Ist das westlich erfundene Tandem ‚Liberale Demokratie und Marktwirtschaft‘ denn das Verfassungsgefährt, auf dem die gesamte Menschheit in ihr zukünftiges Glück radelt? Ist dieses Gefährt denn vollkommen und nicht veränderungs- bzw. verbesserungsfähig? Kann eine demokratische Verfassung nur zusammen mit der heutigen Marktökonomie und der ihr innewohnenden Entscheidungslogik existieren? Erhebliche Zweifel sind anzumelden! Max Webers frühe Warnungen und ihre Bestätigung durch das kostenreiche Versagen der Modernisierungstheorie in vielen Ländern der sog. Dritten Welt sprechen dagegen. Erfolgreich ist die angewandte Modernisierungstheorie nur zur Kräftigung der jeweiligen Herrschaft gewesen. All solche Einwände wurden nach der überraschenden politischen Wende im sog. ‚Ostblock‘ in den (interessierten) Wind geschlagen.

Nicht nur das Ziel lockt mit täuschend klaren Versprechen. Auch der Weg scheint eindeutig markiert: Von den europäischen und angelsächsischen Ländern und neuerdings auch von Japan und den asiatischen ‚Tigerstaaten‘ lernen! Damit wird eine gradlinig verlaufende Schnellstraße vorgauckelt, die sich erst auf den zweiten Blick als eine höchst kurven- und blockadereiche Einbahnstraße erweisen wird. Die Politik und die (sie begleitenden) wissenschaftlichen Konzepte arbeiten mit einer weithin unverantwortlichen Fülle von in sich verschachtelten ‚Wenn-Dann‘-Modellen, die nicht zuletzt in organisatorischenTransformationsvorhaben zum Ausdruck kommen. Konzepte können dabei vernachlässigt werden, so als seinen Menschen, die wissen was sie wollen (sollen) , gleich Drehbühnen: Vom ‚Realen Sozialismus‘ und seinen Mängeln flugs gedreht zur konsumfreudigen freien – ja sozialen Marktwirtschaft. Man muß nur einige Jahre durchhalten und das kapitalistisch liberaldemokratische Schlaraffenland steht bevor?

Effekte

Nur im Glauben an solche ‚Wenn-Dann‘- Abfolgen war und ist die reichlich brutale Öffnung der sog. Transformationsländer zum Weltmarkt zu rechtfertigen. Ein Weltmarkt, der seinerseits von den kapitalistisch entwickelten Ländern und ihren (nach wie vor) gutsituierten multinationalen Konzernen beherrscht wird. Die abrupten Öffnungen hatten unvermeidlich zur Folge, daß soziale Ungleichheiten ebenso wie Ungleichheiten im Bewußtsein und den Verhaltensmöglichkeiten zwischen den Menschen wuchsen. Die ausgelösten Effekte solcher Ungleichheiten sind je nach Tradition und Größe der betroffenen Ländern höchst unterschiedlich. Der geographische Riese Rußland mit seinen z.T. kulturell noch tief in die ‚Vormoderne‘ zurückreichenden Gebieten ist dabei sicher schlechter dran als andere Staaten. Die lediglich zerschlagene und stalinistisch überformte ‚Vormoderne‘ wirkt zwangsläufig als Hemmschuh. Polen, Tschechien oder Ungarn, deren gänzlich andere Vorgeschichte erst infolge des ‚Zweiten Weltkrieges‘ (teilweise sperrig) ‚realsozialistisch‘ nivelliert und entwicklungsmäßig zubetoniert wurde, haben es da – aus westlicher Sicht – sicher einfacher. Für alle Länder gilt aber, daß die abrupte Hast des Anschlusses an den Weltmarkt nicht nur immense soziale Kosten mit sich bringt. Es zeigt sich vor allem daß die politischen Reformen sozial und habituell unzureichend verankert sind und alte, ‚realsozialistisch‘ geprägte Kader gemäß den neuen Opportunitäten ihre Herrschaft anders fortsetzen.

Angemessen läßt sich die Frage nach der Transformation der Apparate Innere Sicherheit, insbesondere der Polizei (en) , nur dann einigermaßen sicher beantworten, wenn man diese Sicherheitsbürokratien in ihrem politischen Kontext betrachtet. Das muß zugleich heißen, diese Betrachtung nicht nur oberflächlich, sondern mit der notwendigen historischen Tiefenschärfe vorzunehmen. Polizeien sind also stets im Kontext des Staatsapparates, seines Verfassungsrechts und seiner institutionellen (d.h. auch seiner personellen) Wirklichkeit zu beurteilen. Was die Institutionen staatlicher Sicherheit insgesamt betrifft, so muß das Verhältnis von Militär und Polizei, einschließlich ihrer geheimdienstlichen Bindeglieder, genauestens ‚vermessen‘ werden.

Für die Polizei als den innengerichteten Teil staatlicher Gewaltsamkeit ist insbesondere die institutionelle (einschließlich der rechtlichen) und die personelle Tradition und deren evtl. Kontinuität zu durchleuten. Soweit ersichtlich, ist diese Kontinuität nicht nur im personellen Bereich erheblich. Auch die Institutionen selbst wurden vielfach nur runderneuert und demokratisch verchromt. Um die Bürgerrechte steht es häufig genug selbst auf dem Papier eher schlecht.

Das deutsche bzw. bundesdeutsche Beispiel einer eher schleppenden und stark traditionsgebundenen demokratischen Transformation könnte der Diskussion vermutlich einige ausgesprochen nützliche Erkenntnisse beisteuern. Sieht man einmal von rein technischen Neuerungen ab, so sind Veränderungen und/oder Reformen der Apparate Innerer Sicherheit durchgehend erst durch nicht mehr zu verdrängende Veränderungen im gesellschaftlichen und allgemein politischen Kontext erzwungen worden. Nicht selten, zuletzt bei der deutsch-deutschen Vereinigung, sind die bestehenden demokratischen Chancen dabei dennoch vertan worden. (1)

Probleme

Bei der Polizeitransformation im engeren Sinne kommt es zunächst darauf an zu klären, an welchem Muster sich eine solche Transformation orientieren kann und will. Ein ohne weiteres zu übernehmendes ‚westliches Muster‘ gibt es nicht. Hierzu sind die westeuropäisch-angelsächsischen Polizeien zu vielförmig. Zum anderen sind die Polizeien dieser ‚entwickelten‘ (?!) Demokratien mit so erheblichen internen und externen Problemen konfrontiert, daß deren gründliche Reform aus bürgerrechtlicher Sicht ebenfalls dringend anstünde. Sehr zu wünschen wäre, daß die Veränderung der Formen und Funktionen, mit deren Hilfe und als deren Ziel bürgerlich definierte innere Sicherheit gewährleistet werden soll, eine ur-liberale, ur-bürgerrechtliche Frage wieder aufgreifen würde: Wie kann angesichts der heutigen Probleme (die ihrerseits bereits unter bürgerrechtlicher Perspektive zu bestimmen wären) das staatliche Gewaltmonopol angemessen – d.h. auch, demokratisch kontrolloffen – installiert werden. Eine solche Neuformierung und – organisierung der Sicherheitsbehörden verlangt mit Blick auf die Polizei, deren dezentrale, mit Bürgerkontrolle durchsetzte Installierung. Sie erfordert ferner den Verzicht auf jede Art von bürgergerichteten Geheimdienst; sowohl in Form des polizeilichen Staatsschutzes und erst recht in Form des bundesdeutschen Verfassungsschutzes.
Am Beispiel der ‚Transformation‘ der DDR in die BRD kann eines ganz sicher gelernt werden, nämlich daß und wie man nichts lernt. Die durchaus problemgebeutelten alt- bundesdeutschen Institutionen der Inneren Sicherheit wurden unverändert auf die damalige Ex-DDR ‚erstreckt‘; ja, die Bundesrepublik nahm sogar die (günstige) Gelegenheit wahr, einige ihrer polizeilichen Einrichtungen wie etwa den Bundesgrenzschutz (BGS) , in ihren Kompetenzen (und wie im Falle des BGS mit rekrutiertem Personal der ehemaligen ‚Nationalen Volksarmee‘ (NVA) ) kräftig auszubauen. (2)

Drei allgemeinere Entwicklungen beeinflussen indessen gerade auch die Apparate der Inneren Sicherheit – und dies vermutlich in noch weit höherem Maße in den MOE-Staaten: Da ist zum einen die nicht zu unterschätzende Gefahr, daß die ökonomisch motivierte Tendenz zur sozialen De-Regulierung und die daraus sich ergebende Zunahme an Kriminalität und Unsicherheit zu einer verschärften Regulierung in Sachen Innerer Sicherheit führt – was eine entsprechende Erosion von Bürgerrechten zur Folge haben wird.

Weiterhin besteht die Gefahr, daß die monomanische Ausrichtung der Politik auf die Standortkonkurenz die ohnehin schwachen demokratischen Institutionen und Verhaltensweisen zusätzlich schwächen wird. Die ‚Europäisierung‘ führt bis dato ohnehin kaum bürgerrechtliches Gepäck mit sich und läßt das menschenrechtliche gleich ganz vor dem neuen europäischen Wall.3 Zum dritten, und sich z.T. aus den beiden erstgenannten Punkten ergebend, besteht die Gefahr, daß die der undemokratischen Geschwindigkeit geschuldeten Transformationsmängel gerade im Bereich der Sicherheitsapparate einen bestenfalls vordemokratischen Konservatismus befördern.

Warnung

Soweit über ein (sinnvolles) Konzept der Transformation überhaupt noch praktisch geredet werden kann, so muß vor einer blinden Anpassung an ‚den Westen‘ ebenso gewarnt werden, wie vor einer, lediglich an ihren Spitzen geänderten šbernahme der herkömmlichen Instanzen unter Verzicht auf die ehemals allpräsenten ‚realsozialistischen‘ Geheimdienste. Auch oder gerade um der veränderten Apparate und Funktionen Innerer Sicherheit willen, kommt es auf eine allgemeine Demokratisierung und auf die soziale Begründung von Bürgerrechten am meisten an. Ansonsten bleiben diese bestenfalls schmückendes Beiwerk; symbolische Normen, die allenfalls für eine kleine aufgeklärte Elite nutz- und einklagbar sind.

Was die Organisierung des staatlichen Gewaltapparates selbst angeht, so sind diese neu-alten Institutionen u.a. an den folgenden Kriterien zu messen:

  • An der Art ihrer zentralen oder dezentralen Organisation und ihrem Verhältnis zum Militär;
  • an der Art der Kontrollvorrichtungen und (entscheidend) deren Verhältnis zur Öffentlichkeit;
  • an der Art der Legalisierung (Präzision und Klarheit; Zahl und Art der unbestimmten Rechtsbegriffe; Art der Generalklausel; vorgeschriebene Abläufe u.v.a.m.) ;
  • an der Art der Erkennbarkeit polizeilicher Aktivität (bis hin zur Ausstattung der BeamtInnen mit Namensschildern) und den Möglichkeiten, sich gegen polizeiliche Akte gerichtlich zu wehren;
  • an der Art der Geheimdienste, ihres informationellen Zusammenspiels und ihrer Kompetenzen – insbesondere mit Blick auf die eigenen BürgerInnen;
  • an der Art der Finanzierung und ihrer öffentlichen Durchschaubarkeit.

Resümee

Die Aussichten einer bürgerrechtlich angemessenen Transformation der Apparate Innerer Sicherheit stehen in den Staaten Mittel- und Osteuropas leider nicht zum besten. Die gegenwärtige Realität läßt eher noch den ‚Schlagschatten‘ der Vergangenheit erkennen. Eine solche Querschnittsaussage steht dabei zwangsläufig immer unter dem Vorbehalt, daß auch in den sog. etablierten Demokratien des Westens, die Demokratisierung der Gewaltapparate noch aussteht. Die Hauptinteressenten und – repräsentanten einer an sich begrüßensenswerten ‚Europäisierung‘ sind derzeit leider nicht dabei (um Gorbatschows allzu euphemistische Metapher vom ‚gemeinsamen europäischen Haus‘ aufzunehmen) , dieses ‚Haus‘ mit einem soliden menschen- und bürgerrechtlichen Fundament zu versehen. Einem Fundament, das imstande wäre, Europas Bürgersicherheit ebenso zu tragen wie einen humanen Umgang mit schutz- und sicherheitsuchenden (und sei es materielle Sicherheit) Nichteuropäern – unbeschadet aller unvermeidbaren Reibungen und Konflikte im einzelnen. Nimmt man etwa (mit Otto Kirchheimer) das Asylrecht und insbesondere die Asylpraxis als einen von mehreren möglichen Indikatoren innerer europäischer Freiheit, dann sieht es mit einer bürger- und menschenrechtlich gegründeten Sicherheit in Europa eher schlecht aus.

Im Osten wie im Westen!

Wolf-Dieter Narr lehrt Politologie an der FU Berlin und ist Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP
(1) Vgl. Busch, H. u.a., Die Polizei in der Bundesrepublik, Frankfurt/New York, 1985, S. 409ff.; Die Grünen im Bundestag/Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (Hg.) , Nicht dem Staate, sondern den Bürgern dienen. Für eine bürgernahe Polizei, Bonn/Berlin 1990, S. 17ff.; Bürgerrechte & Polizei/CILIP 38 (1/91) , S. 6ff.
(2) Vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 37 (3/90) , 18ff., Bürgerrechte & Polizei 38 (1/91) , S. 6ff. u. S. 40ff.
(3) Vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 53 (1/96)