Zwischen Vertragsarbeit und organisierter Kriminalität – Zur Kriminalisierung der vietnamesischen Minderheit in der Bundesrepublik

von Sabine am Orde

Ende Mai 1996 traten in Berlin einige VietnamesInnen vor die Presse und betrieben Journalistenschelte: Sie kritisierten eine Berichterstattung, welche die gesamte vietnamesische Minderheit in der Bundesrepublik in die Nähe von Straftätern rücke. Sie betonten, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: „Nicht alle Menschen aus Vietnam sind Mafiosi“. (1) Zu ähnlichen Pressekonferenzen hätten auch KurdInnen oder RussInnen laden können, auch diese ethnischen Minderheiten werden zunehmend als Ganze kriminalisiert.

Überhaupt: ‚Ausländerkriminalität‘, die ‚organisierte Kriminalität internationaler Verbrecherbanden‘ und der ‚Extremismus ausländischer Gruppen‘ haben Hochkonjunktur. In Berlin steht derzeit die ‚vietnamesische Zigarettenmafia‘ im Zentrum des Medieninteresses. Schlagzeilen wie „Mafia-Krieg der Vietnamesen“ (2) , „Wieder Tote beim Bandenkrieg der Zigarettenmafia“ (3) oder „Vietnamesen-Mafia: Droht neuer Kampf?“ (4) bestimmen seit langem die hiesige Berichterstattung über VietnamesInnen.

Das war nicht immer so. Seit den ersten Jahren nach der ‚Wende‘ hat sich die Berichterstattung über VietnamesInnen enorm verändert. Der Zeitungsdiskurs verschiebt sich von 1990 bis 1994 von den ehemaligen DDR-VertragsarbeiterInnen über rassistische Gewalt hin zu einem Kriminalitätsdiskurs, in dem die VietnamesInnen die TäterInnen sind. (5) Zunächst wird über VietnamesInnen noch sachlich bis verständnisvoll berichtet, später dann werden sie zunehmend als brutal und gefährlich beschrieben und schließlich dem Bereich der ‚organisierten Kriminalität‘ (OK) zugeordnet.
Am Beispiel der Berichterstattung über VietnamesInnen kann eindrucksvoll aufgezeigt werden, welchen Anteil die Medien daran haben, daß sich die rassistische Gleichsetzung einer ethnischen Minderheit mit Kriminellen durchgesetzt hat und welche Funktion diese Gleichsetzung für Politik, Polizei und Presse erfüllt. Dabei sollen die Gewaltstrukturen, die mit dem illegalen Zigarettenhandel einhergehen und allein in Berlin schon 39 und bundesweit bereits 92 VietnamesInnen das Leben kosteten, (6) weder geleugnet noch verharmlost werden.

Verschiebung des Mediendiskurses

In der ersten Zeit nach der ‚Wende‘ kommen VietnamesInnen vor allem als (ehemalige) DDR-VertragsarbeiterInnen und Opfer rassistischer Gewalt in der Presse vor. Erst Ende 1992 nimmt das Interesse der Medien am illegalen Zigarettenhandel zu – der Ton wird schärfer. Jetzt taucht auch zum ersten Mal verstärkt die inzwischen vertraute ‚Mafia-Rhetorik‘ auf. Formulierungen wie „Teil der organisierten Kriminalität“ (7) und „vietnamesische Zigarettenmafia“ (8) finden sich in allen Zeitungen. Zwar wird 1992 hin und wieder auch noch die Situation der VietnamesInnen als ehemalige DDR-VertragsarbeiterInnen beschrieben, danach ist sie jedoch kein Thema mehr. Noch halten sich Berichte über rassistische Gewalt und Zigarettenhandel die Waage, ab März 1993 aber setzen sich letztere dann endgültig durch. Verbrechen und Brutalität der ‚Zigarettenmafia‘ sind von nun an fast durchgängig der bestimmende Rahmen, in dem über VietnamesInnen berichtet wird.
Die Presse siedelt die VietnamesInnen eindeutig im Bereich der ‚Inneren Sicherheit‘ an. In den Berichten geht es dabei kaum um die Gründe, die VietnamesInnen dazu geführt haben, unverzollte Zigaretten zu verkaufen – obwohl dies zum Verständnis des Problems durchaus wichtig ist: Mit der politischen Wende in der DDR verloren sie praktisch über Nacht ihren Arbeitsplatz, ihre materielle Absicherung und ein geregeltes Bleiberecht. Die Bundesregierung ließ sie rechtlich, sozial und materiell im Ungewissen. Viele versuchten sich ins Asylrecht zu retten, doch – ebenso wie die neu eingereisten VietnamesInnen – hatten sie kaum eine Aussicht auf Anerkennung als politisch Verfolgte. Nicht wenige versuchten daher, sich durch Zigarettenhandel über Wasser zu halten. Dieser kann also durchaus als ein hausgemachtes Problem gelten. Davon ist jedoch kaum die Rede. Überhaupt wird kaum differenziert: Die Nationalität wird zwar fast immer benannt, aber ob ehemalige VertragsarbeiterInnen, ‚Boat-People‘ oder AsylbewerberInnen illegal mit Zigaretten handeln, bleibt unklar. Nur daß sie es tun, wird deutlich: VietnamesInnen werden nur noch als StraftäterInnen erwähnt, in der öffentlichen Wahrnehmung werden sie damit zunehmend mit ZigarettenhändlerInnen und Mafiosi gleichgesetzt. Hinzu kommt, insbesondere seit Bonn und Hanoi über die Abschiebung in Deutschland lebender VietnamesInnen verhandeln, deren (in vielen Fällen faktisch falsche) Bezeichnung als ‚Illegale‘, praktisch ein Synonym für Kriminelle.

Gleichzeitig wird so die gesamte vietnamesische Minderheit kriminalisiert. Das hat Konsequenzen: Zum einen wird der illegale Zigarettenhandel an die VietnamesInnen gekoppelt und damit quasi ethnisiert. Dadurch werden alle VietnamesInnen moralisch diskreditiert, isoliert und noch weiter aus der bundesdeutschen Gesellschaft ausgegrenzt. Illegaler Zigarettenhandel wird nicht (mehr) als Folge einer sozialen Notlage begriffen, die politisch verursacht ist und daher auch nur durch ein politisches Eingreifen verändert werden kann. Im Gegenteil: Durch die Gleichsetzung ‚VietnamesInnen sind StraftäterInnen‘ werden allein die Sicherheitsbehörden die zuständigen Institutionen, mögliche Lösungen sind repressiver Art. Politische Handlungsmöglichkeiten und Lösungen haben in dieser Debatte keinen Platz mehr. Abschiebungen erscheinen zunehmend als die einzig angemessene Problemlösung.

Eine Ursache: Die Struktur der Presse

Aufgrund der Funktionsweise der Tagespresse ist die beschriebene Diskursverschiebung nicht weiter verwunderlich. Zigarettenhandel und ‚organisierte Kriminalität‘ erfüllen sämtliche Nachrichtenkriterien (z.B. öffentliches Interesse, Negativität, Kurzfristigkeit und Personalisierbarkeit) nahezu optimal. Sie bieten zudem immer wieder Anlässe wie Verhaftungen, Razzien oder Prozesse, über die berichtet werden kann. All das gilt für die soziale Situation der ehemaligen VertragsarbeiterInnen und vietnamesischen AsylbewerberInnen nicht.
Während die VietnamesInnen keinen Zugang zu den Medien haben, gelten Innenpolitiker und Polizei gemeinhin als wichtige und kompetente NachrichtenlieferantInnen. Ihre Aussagen erscheinen als glaubwürdig und haben per se Nachrichtenwert. Die Sicherheitsstrategen können daher häufig die Themen definieren und steuern, in welchem Rahmen sie behandelt werden. Hinzu kommt die Arbeitssituation im Tagesjournalismus: JournalistInnen müssen schnell und aktuell sein und sich zudem kurz fassen. Sie müssen daher komplexe und z.T. widersprüchliche Sachverhalte reduzieren und greifen dabei gern auf bekannte Erklärungskonzepte und Wertungsmuster zurück, um die Nachricht für die LeserInnen verständlich zu machen. Dafür bietet sich das Bild einer ‚vietnamesischen Zigarettenmafia‘ geradezu an, denn es ermöglicht eine kurze und eingängige Berichterstattung. Die Kehrseite: Es reproduziert eine unbestimmte, bedrohliche Vorstellung von OK und die rassistische Gleichsetzung ‚VietnamesInnen = Kriminelle‘

Zu diesen Strukturen, welche die Position von Innenpolitik und Polizei generell begünstigen, gesellt sich eine Eigendynamik, die sich durch die Medienpräsenz des Themas selbst entwickelt. Ist ein Kriminalitätsphänomen erst einmal in der öffentlichkeit präsent, wird die verdächtigte Zielgruppe oft verstärkt kontrolliert – die Polizei greift in ihre Zusammenhänge frühzeitig ein – die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung und die Sanktionspraxis der Justiz erhöhen sich. Darüber kann dann wieder berichtet werden …

Reaktionen der Polizei

Für eine entsprechende Berichterstattung wiederum boten (und bieten) Polizei und Justiz seit geraumer Zeit denn auch reichlich Anlässe. Zigarettenrazzien in Berlin und im Umland häufen sich. 1992 leiteten allein die Berliner Fahnder 6.171 Strafverfahren wegen illegalen Zigarettenhandels ein und beschlagnahmten insgesamt rund 51 Millionen Glimmstengel. (9) Im Oktober 1992 verurteilte das Potsdamer Bezirksgericht zudem den ersten vietnamesischen Zigarettenhändler zu einer Haftstrafe von eineinhalb Jahren ohne Bewährung. Damit preschten die Potsdamer Richter an allen bisherigen Urteilen der Brandenburger und Berliner Gerichte vorbei, die in vergleichbaren Fällen meist eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe mit Bewährung ausgesprochen hatten. (10) Mit zunehmender Kriminalisierung und erhöhtem Fahndungsdruck allerdings wurden auch die Organisationsstrukturen der HändlerInnen immer verdeckter. Wurden Zigaretten zunächst recht offen auf Tapeziertischen vor U-Bahnstationen, Kaufhäusern und Wochenmärkten angeboten, so änderte sich dies etwa ab 1993 hin zu ambulanten BauchladenhändlerInnen, die rasch ihre Plätze wechseln konnten. Zunehmend sichern seither weitere Personen diese VerkäuferInnen ab, sie behalten die Umgebung im Auge und melden jedes Auftauchen der Polizei. Antransport und Verteilung der oft über Polen herangeschafften Ware werden konspirativer.

Solche Strukturen erleichterten es vietnamesischen Kriminellen zunehmend, die Kontrolle über den Handel zu übernehmen; die ‚Szene‘ brutalisierte sich. (11) Anfang Dezember 1992 schließlich wurde in Berlin ein mutmaßlicher Zigarettenhändler von Landsleuten erschossen; ein ähnlicher Fall hatte sich bereits im März in Nauen ereignet. (12) Die Polizei geht in beiden Fällen von der Tat rivalisierender Banden aus und reagierte mit der Bildung von Sonderkommissionen (Soko) ; in Berlin eine ‚Soko Tabak‘, eine ‚Soko Samurai‘ in Thüringen und die ‚Soko Blauer Dunst‘ in Sachsen. (13)

Ab Mitte 1995 begann der Berliner Senat dann damit, die Wohnheime der VietnamesInnen aufzulösen. (14) Dies verschlechterte zwar die soziale Lage der dort lebenden Menschen – gegen die längst auch offen ausgetragenen, blutigen Auseinandersetzungen nützte es nicht viel: Allein in den ersten drei Monaten diesen Jahres wurden in Berlin vier Vietnamesen tot aufgefunden. (15) Die ‚Soko Vietnam‘ wurde personell aufgestockt; (16) zudem kamen Berlin und der Bund darin überein, künftig mit einer ‚task force‘ aus Bundeskriminalamt, Bundesgrenzschutz, Zoll und Berliner Polizei gemeinsam gegen den Zigarettenhandel vorzugehen. (17)

Im vergangenen Jahr einigten sich Bonn und Hanoi schließlich über die Abschiebung in Deutschland lebender VietnamesInnen. Im Tausch gegen 100 Millionen DM Entwicklungshilfe sollen nach Angaben der Bundesregierung 40.000 Menschen, die ohne Bleiberecht in der Bundesrepublik leben, in ihre ursprüngliche Heimat abgeschoben werden. (18) (Diese Zahl wird von KritikerInnen allerdings als viel zu hoch bewertet.) Rund 4.000 Rücknahmeersuchen hat die Bundesregierung seit der Unterzeichnung des Abkommens gestellt. Nach langem Zögern hat Vietnam inzwischen 3.000 Menschen die sogenannte Rückkehrfähigkeit bestätigt. Dabei werden (zumindest in Berlin) immer wieder auch (oder gerade) Menschen auf die Liste der Rücknahmeersuchen gesetzt, die nach Bagatelldelikten in Abschiebehaft genommen werden. (19)

Verstärkerkreislauf

Solche Aktivitäten von Polizei, Justiz und Politik sind den Medien fast immer eine Meldung wert. Es entsteht jener Verstärkerkreislauf, der VietnamesInnen zunehmend mit Kriminellen gleichsetzt. Dieser wird von allen Seiten angeschoben – denn er ist für alle funktional: Die Innenpolitik konservativer Couleur bekommt damit die Möglichkeit, Probleme mit hier lebenden VietnamesInnen auf den Bereich Kriminalität zu reduzieren und repressive Lösungen bis hin zur Abschiebung durchzusetzen. Der Polizei bietet die ‚vietnamesische Zigarettenmafia‘ ein neues Feindbild im ‚OK-Bereich‘, das eine Aufstockung ihres Personals und/oder eine Ausweitung ihrer Befugnisse legitimieren kann und soll. Für die Presse schließlich erfüllt der Kriminalitätsdiskurs optimal alle Nachrichtenkriterien und paßt zudem gut in die Struktur der Zeitungsproduktion. Wenn diese drei Gruppen entsprechend ihren (durchaus unterschiedlichen und z.T. sogar widersprechenden) Interessen aktiv werden, arbeiten sie faktisch Hand in Hand – und am Ende steht schließlich ein reiner Kriminalitätsdiskurs.
Als Teil davon reproduzieren die Medien – ohne notwendigerweise eine solche Absicht zu verfolgen – Rassismen und erneuern die Folgebereitschaft für eine konservative Ausländer- und eine repressive Law-and-Order-Politik.

Sabine am Orde ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin, sie arbeitet zur Zeit als Redakteurin beim Bielefelder ‚StadtBlatt‘.
(1) Berliner Morgenpost v. 25.5.96
(2) Berliner Zeitung v. 17.5.96
(3) die tageszeitung v. 14.5.96
(4) Berliner Morgenpost v. 28.9.96
(5) Vgl. am Orde, S., Zwischen Vertragsarbeit und „organisierter Kriminalität“. Die Rolle der Medien bei der Entwicklung der Diskurse über „Ausländerkriminalität“ am Beispiel der Berichterstattung über VietnamesInnen in der Bundesrepublik (unveröff. Diplomarbeit) , Berlin 1995
(6) Der Tagesspiegel v. 9.10.96
(7) Berliner Morgenpost v. 20.11.92
(8) Berliner Zeitung v. 23.2.93
(9) Berliner Zeitung v. 27.5.93
(10) Berliner Morgenpost v. 24.10.92
(11) Siehe u.a.: Berliner Morgenpost v. 8.12.92, Der Tagesspiegel v. 7.2.93, Der Tagesspiegel v. 18.5.93, die tageszeitung v. 3.6.93, Berliner Morgenpost v. 10.7.93
(12) Berliner Morgenpost v. 8.12.92
(13) Der Spiegel v. 22.2.93
(14) Berliner Morgenpost v. 31.5.96, Der Tagesspiegel v. 1.9.95
(15) Der Tagesspiegel v. 29.3.96
(16) Berliner Morgenpost v. 26.3.96
(17) Berliner Morgenpost v. 25.5.96
(18) Süddeutsche Zeitung v 7.7.95
(19) Die Zeit v. 24.5.96, die tageszeitung v. 27.8.96

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