Literatur

Auf die Literatur zum Schwerpunkt ‘Überwachungstechnologien’ werden wir in der nächsten Ausgabe hinweisen.

Neuerscheinungen

Winter, Martin: Politikum Polizei (Reihe Politische Soziologie, Bd. 10), Münster 1998 (LIT-Verlag), 553 S., DM 49,80
Die soziologische Dissertation von Martin Winter fragt danach, wer das polizeiliche Handeln bestimmt, ob die Polizei ein Instrument der Politik oder sie ein – sich u.U. verselbständigender – eigenmächtiger Akteur ist (S. 8, 445). Untersucht wird von ihm nicht konkretes polizeiliches Handeln, sondern „Deutungsmuster“ (S. 381) der Polizeiführung. Das Handlungs wissen leitender Polizisten steht im Mittelpunkt der Arbeit. Unter dem Stichwort protest policing (S. 18) entwickelt der Autor eine Perspektive, in der die Polizei im Umgang mit den großen gesellschaftlichen Konflikten dargestellt wird.

Dabei verbindet er eine historisierende Darstellung von Einsatzgrundsätzen der deutschen Polizei(führung), von den 60er Jahren bis zur Deutschen Einheit, mit einer Strukturanalyse des Polizeiapparates. Empirisches Herzstück der Untersuchung bildet die qualitative Textanalyse von Polizeizeitschriften und von Interviews mit 16 Polizisten des höheren Dienstes. Darüber hinaus werden die umfangreichen Kenntnisse der einschlägigen Polizeiforschung immer wieder in die Argumentation eingeflochten. Daß die polizeilichen Fachzeitschriften die Diskurse der ‘schreibenden Klasse’ und die Experteninteviews die der ‘redenden Klasse’ in der Polizei wiedergeben, wird leider von Winter etwas zu wenig reflektiert; lediglich im Anhang (S. 462ff.) wird auf die konstruktivistische Perspektive und die Gesprächsatmosphäre hingewiesen.
Zehn Kapitel strukturieren das über 400seitige Werk. Die ersten beiden befassen sich mit Definitionen (z.B. zum Gewaltbegriff und dem staatlichen Gewaltmonopol) und der Beschreibung der Organisation der Polizei. Im dritten Kapitel tauchen die meisten deutschen Polizeiforscher auf; stellenweise hat man das Gefühl, als wolle Winter jedem, der schon einmal unter der Rubrik ‘Polizei’ publiziert hat, die Ehre erweisen. Er leistet hier eine Fleißarbeit, die in dem Ausmaß eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Es ist jedoch verdienstvoll, für die nachfolgenden Generationen aufgeschrieben zu haben, was und vor allem wie in Deutschland schon über die Polizei gedacht und geforscht worden ist.
Die in Kapitel IV vorgestellte historische Konzeptualisierung polizeilicher Einsatzparadigmen in den vergangenen 30 Jahren ist hingegen auch inhaltlich inspirierend. Winter beschreibt vier Phasen des polizeilichen Selbstverständnisses, beginnend mit einer „Era of good feeling“ (1960-67) bis hin zur „Evolution“ (1979-90). Man kann anderer Meinung sein hinsichtlich der Phaseneinteilung und ihrer gesellschaftspolitischen ‘Eckdaten’. Es ist ihm aber gelungen, gut dokumentiert eine Entwicklungsgeschichte unterschiedlichster Polizeistrategien zu entwerfen, an der man weiter arbeiten kann.
In den Kapiteln VI bis VIII folgt wieder ein deskriptiver Parforceritt, nun unter dem Gesichtspunkt des „protest policing“. Daß Winter diesen Komplex wählt, erscheint schlüssig, immerhin will er ja die Polizei dort untersuchen, wo sich das Interessengeflecht von Politik und Recht am stärksten zeigt. Dazu wählt er fünf Handlungsfelder sozialen Protestes aus: links- und rechtsradikaler Protest, Jugendgewalt (insbesondere Fußballgewalt und Hooliganismus), Ausländerprotest und Protest von ArbeitnehmerInnen. Diesen Protestformen stellt er die Einsatztaktiken der Polizei gegenüber. Eindrucksvoll zeichnet er anhand der Auswertung polizeiinterner Diskurse die jeweiligen ‘Legitimationsmuster’ zur Definition der Gegner nach. Dabei unterschätzt er allerdings, daß die Protestformen der Friedensbewegung, der Ökologiebewegung, der Bürgerinitiativen etc. wesentlich mehr zur Verunsicherung der Polizei beigetragen haben, als die ‘klassischen’ Konflikte. Konnten diese deshalb so gut delegitimiert werden, weil sie von Akteuren getragen wurden, die subkulturellen Milieus angehörten oder sonst marginalisierbar waren (z.B. ‘Linke’, Autonome, Skinheads, Hooligans oder auch Kurden), so rekrutierte sich der neue Protest eher ‘aus der Mitte der Gesellschaft’ – und dazu gehörten auch Bekannte, FreundInnen, Nachbarn und KollegInnen von PolizistInnen.
Mit Kapitel IX kommt Winter mit größerer Prägnanz zum gesellschaftsdiagnostischen Teil. Während man bis dahin eher an ein gut angelegtes Handbuch für Polizeiführungskräfte erinnert wurde, wird nun versucht, den Anspruch einzulösen, die Polizei als Politikum nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu analysieren. Der Autor weist auf den grundlegenden „sozialen Pessimismus“ (S. 386) vieler Polizeiführer hin, der sich in verschiedenen Lamentos über den Werteverfall, die soziale Desintegration, die Erosion des Rechtsbewußtseins (S. 384) und die Ausbreitung von Hedonismus und Egoismus (S. 385) konkretisiere. Dabei wird deutlich, daß die Polizeiführung einerseits die gesellschaftlichen Diskurse rezipiert und sie sich auch argumentativ aneignet, andererseits ihre eigene Erfahrung mit diversen Protestformen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Gesellschaftsdiagnose macht: „Protest wird als Krisenphänomen, als Ausdruck der defizitären gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet; insbesondere gewalttätiger Protest wird als (Über-)Reaktion auf pathogene gesellschaftliche Strukturbrüche interpretiert“ (S. 386). Die Gesellschaftsdiagnose der Polizeiführung ist im wesentlichen eine auf Gewalt zentrierte (S. 386). Man hat das schon immer geahnt, aber bisher fehlten meist die Parameter, an denen eine solche Einschätzung festgemacht werden konnte. Diese Lücke hat Martin Winter gefüllt. Die eingangs gestellte Frage, wo die deutsche Polizei zwischen politischer Instrumentalisierung und Verselbständigung steht, wird aber auch hier nicht klar beantwortet. Zu oft bleibt es bei vagen Vermutungen, weiteren Fragestellungen und Verweisen auf die heterogenen Diskurse.
Der eigentliche analytische Wert der Untersuchung liegt eindeutig im letzten Kapitel. Hier wird herausgearbeitet, daß es so etwas wie eine einheitliche Polizeitheorie oder, wie er es nennt, eine Polizeiphilosophie, für die deutsche Polizei nicht gibt, obwohl sie von Theoretikern wie von Polizeistrategen gefordert wird. Ebenso deutlich wird das Spannungsfeld der Polizei zwischen ihrem Verfassungsauftrag, dem Primat des Politischen und berufsständischer Selbstaffirmation rekonstruiert. Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob es der deutschen Polizei an einer „Philosophie“ ihrer Arbeit fehlt oder schlicht an einer polizeilichen Handlungslehre, die im Ergebnis auf das gleiche hinausläuft: die Zuständigkeit und das Selbstverständnis einer Bürgerpolizei so zu verankern, daß rechtliche Begrenzungen nicht als lästige Behinderung aufgefaßt werden, sondern als verfassungsmäßige Grundlage des Gewaltmonopols (S. 455). Wie weit unsere Polizeieliten von einem solchen Konsens noch entfernt sind, davon gibt Winters Arbeit beredt Zeugnis. Mit den Kriterien Verfassungsrechtsbewußtsein, Rechtsbindung und Transparenz nach außen (S. 455) prüft er den politischen Anspruch an der Praxis und kommt zu dem Ergebnis, daß eine Transformation einer staatszentrierten in eine Bürgerpolizei daran scheitert, daß die Haltung der Polizeiführung eher mit dem Begriff Verfassungslyrik zu charakterisieren ist, es sich aber nicht um ein echtes republikanisches Bekenntnis (S. 454) handelt.
Martin Winter hat einen wichtigen Beitrag zur deutschen Polizeiforschung geliefert. Er bietet ein Kompendium der deutschen Polizei, und er hat eine weitere Perspektive der polizeilichen Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte („protest policing“) hinzugefügt. Die Arbeit gibt so viele Informationen über den intellektuellen und politischen Zustand und die Organisation der deutschen Polizei(führung), daß sie im Regal eines jeden Polizeiforschers/ einer jeden Polizeiforscherin stehen (und auch gelesen worden sein) sollte.
(Rafael Behr, Frankfurt)

Besozzi, Claudio: Organisierte Kriminalität und empirische Forschung, Chur, Zürich 1997 (Verlag Rüegger), 117 S., DM 43,–
Diese knappe Literaturstudie entstand im Rahmen des Schweizer Nationalen Forschungsprogramms „Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität“. In vier Kapiteln beschäftigt sich der Autor mit der Vielfalt des Phänomens ‘organisierte Kriminalität’ (OK), stellt die wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit OK vor, referiert den internationalen Forschungsstand vor allem im Hinblick auf die genutzten Untersuchungsmethoden und gibt eine Übersicht über die Situation in der Schweiz sowie Empfehlungen für zukünftige Forschungen. Verglichen mit der im deutschsprachigen Raum vorherrschenden Wiedergabe von OK-Stereotypen ist die Lektüre des Bandes nicht nur wohltuend, sondern auch anregend. Vor allem die Liste der im zweiten Kapitel aufgeworfenen Fragen, die beantwortet werden müßten, um das Gerede über organisierte Kriminalität durch Analysen zu ersetzen, sollte zur Pflichtlektüre für Polizisten, Politiker und Journalisten gehören. Der Vielfalt der Erscheinungsformen von OK werde man vermutlich am ehesten gerecht, so der Autor, wenn auf strafrechtliche oder moralische Kategorien verzichtet und als analytischer Rahmen das Gemeinsame jener vermeintlichen OK-Phänomene zugrunde gelegt werde: daß es sich immer um illegale Märkte für verbotene Güter und Dienstleistungen handelt. Statt einen nebulösen OK-Begriff weiter zu verwenden, plädiert Besozzi für die „empirisch fundierte Beschreibung der Phänomene, die mit organisierter Kriminalität in Zusammenhang gebracht werden“ (S. 97). Daß Politik und Sicherheitsbehörden daran ein Interesse hätten, ist allerdings nicht in Sicht; weder in der Schweiz noch in Deutschland.

Roulet, Nicolas: Das kriminalpolitsche Gesamtkonzept im Kampf gegen das organisierte Verbrechen (Europäische Hochschulschriften, Reihe II Rechtswissenschaft, Bd. 2219), Bern, Berlin, Frankfurt/M. u.a. 1997 (Verlag Peter Lang), 219 S., DM 69,–
Unter einem auf den ersten Blick mißverständlichen Titel untersucht diese juristische Dissertation die 1994 in das Schweizer Strafgesetzbuch eingefügte Bestimmung über „Kriminelle Organisationen“. Nachdem der Autor einleitend das Gesetzgebungsverfahren nachzeichnet, unternimmt er eine dogmatische Auslegung der neuen Strafbestimmung. Er stellt fest, daß dem Gesetzgeber eine eindeutige begriffliche Bestimmung von ‘organisiertem Verbrechen’ nicht gelungen ist (S. 67). Überzeugend kann Roulet nachweisen, daß die Bedeutung der neuen Norm nicht darin liegt, neues tatbestandliches Unrecht zu fixieren; materiellrechtlich sei sie ohne Relevanz (S. 162). Vergleichbar mit den Organisationsdelikten im deutschen Strafrecht führe die Konstruktion des Tatbestandes vielmehr zur Kriminalisierung im Vorfeld strafbarer Handlungen. Es werde eine neuartige Zurechnungsregel in das Rechtssystem eingeführt, die von einem Verschulden der Organisation ausgehe, aber gleichzeitig darauf abziele, einzelne Personen zu bestrafen (S. 114). Seine eigentliche Wirkung entfalte der neue Straftatbestand durch die mit ihm verbundenen Rechtsfolgen: Er erlaube die schuld-unabhängige Vermögenseinziehung und damit die faktische Umkehr der Beweislast (S. 163-170), und er erleichtere die internationale Rechtshilfe (S. 171-178). Schließlich existiere ein direkter Zusammenhang zwischen der Gesetzgebung gegen das organisierte Verbrechen und der Veränderung des Schweizer Polizeisystems. Der Autor diagnostiziert die Vorverlagerung polizeilicher Tätigkeiten, die Zentralisierung der Apparate, die zunehmende Bedeutung der Informationsarbeit und der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit (S. 179-206). Auch in der Schweiz scheint sich OK als Begründung für vieles zu eignen, was anders nicht (so leicht) durchsetzbar wäre.
(beide: Norbert Pütter)

Wurr, Rüdiger; Dittrich, Irene: Straßensozialarbeit und Jugendgewalt. Erfahrungen und Schlußfolgerungen aus Modellprojekten in Schleswig-Holstein, Kiel 1997 (Agimos-Verlag), 196 S., DM 22,80
„Für drei in besonderer Weise betroffene Standorte“, so heißt es im Vorwort zur Untersuchung von Wurr und Dittrich, „– den Kreis Herzogtum-Lauenburg mit seiner Nähe zur Metropole Hamburg, die Stadt Lübeck, die durch mehrfache Anschläge in der Vergangenheit belastet war und ist, und den Raum Rendsburg, ein Treffpunkt für eine rechtsextremistische Jugend- und Erwachsenenszene – wurden mit Bedacht je zwei Streetworker ausgewählt, um gezielt gewaltbereite und rechtsextremistische Jugendcliquen anzusprechen“ (S. 11).
Die wissenschaftliche Auswertung dieser „Modellversuche“ sollte vor allem dazu dienen, zu überprüfen, ob Streeworker die Kinder und Jugendlichen erreichen könnten, die durch die sonst gegebenen Institutionen und ihre Vertreter nicht erreichbar sind. Die Studie überzeugt, wo sie geradezu handbuchartig Begriffe klärt und Aufgaben im Umkreis von „Straßensozialarbeit“ einleuchtend bestimmt und differenziert vorstellt (S. 17f.). So begründen Wurr/Dittrich plausibel, warum Straßensozialarbeit erforderlich ist, scheuen vor einem eindeutig simplen Gewaltbegriff zurück, greifen das Thema „Gewalt in der Schule“ kenntnisreich auf und äußen sich vor allem einschlägig zu den beruflichen Anforderungen an die Streetworker und den Eigenarten ihrer Jugendarbeit.
Vieles von dem, was die Studie berichtet, wie etwa im Rahmen des für Cilip-Lesende besonders interessanten Kapitels „Dialog mit der Polizei“, regt an und klärt auf. Etwa folgende summarische Beobachtung: „Zu den methodisch bedeutsamen Ergebnissen des Dialogs von Polizei und Sozialarbeit ist der Modus des tendenziell einseitigen Informationsflusses (von der Polizei in Richtung Streetwork) und die Respektierung der straßensozialarbeiterischen Schweigepflicht zu zählen“ (S. 129f.). Die Untersuchung enttäuscht aber dort, wo Autorin und Autor die Modellversuche genauer unter die Lupe zu nehmen versprechen (S. 72ff.). Hier fehlt jegliche dichte Beschreibung der drei Orte und ihrer spezifischen Probleme. Viel zu rasch und geradezu analysefrei wird verallgemeinert. Es fehlen die anschaulichen Beispiele. Selbst wenn das Herzogtum Lauenburg überall in der Bundesrepublik läge, käme es darauf an, die Verallgemeinerungen vom Besonderen her, dem spezifischen Umfeld der Jugendlichen aus zu gewinnen. Vielleicht ist es deshalb nicht zufällig, daß diese Jugendlichen im Bürokratendeutsch zu „Klienten“ werden bzw. solche bleiben.

Wunschik, Thomas: Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF, Opladen 1997 (Westdeutscher Verlag), 514 S., DM 58,–
Tobias Wunschik beschreibt die Mitglieder der RAF – ihre Aktionen, ihre Einstiegs- und ihre Austiegsprozesse –, die im Kampf gegen die Haftbedingungen („Isolationsfolter“) in die RAF hinein ‘sozialisiert’ wurden, deren erste hauptsächliche Aktivität die Befreiung der ‘originären’ „Stammheimer“ gewesen ist und die sich die Ende der 70er Jahre entweder in die DDR abgesetzt haben (und 1990 den größten „Fahndungserfolg“ qua Einigung ermöglichten) oder sonst verurteilt und inhaftiert worden sind. Diese „zweite Generation“ blieb ganz im Schatten der „ersten“, die sie bis zu ihrem Selbsttod im Oktober 1977 nicht nur indirekt, sondern vielfach direkt dirigierte.
Wunschick wertet nicht nur die Sekundärliteratur aus, sondern er schöpft intensiv aus den Vernehmungsprotokollen, zieht RAF-Publikationen und Selbstaussagen aller Art heran, konsultiert die Gerichtsurteile gegen die Mitglieder der „zweiten Generation“, beachtet auch die Unterlagen aus der Stasi-Küche und greift auf eigene Gespräche zurück, die er 1993 und 1994 mit Peter-Jürgen Boock, Werner Lotze und Silke Maier-Witt geführt hat.
Der Autor dieser Münchner Dissertation von 1995 nutzt den Vorteil der Distanz im Hinblick auf die immer noch lückenreichen, nun jedoch insgesamt zahlreich und ergiebig fließenden Quellen ebenso wie im Hinblick auf die eigene Herangehensweise an sein Thema. Das (fast immer) falsche Entweder-Oder des Parteigängers verblendete nicht schon die Beschreibung der Geschehensabläufe, von deren Beurteilung ganz zu schweigen. In diesem Sinne kann der „Nachgeborene“ einen perspektivischen Vorteil nutzen. Darum sind auch eine Reihe der Beschreibungen einzelner RAF-Mitglieder und ihrer RAF-zuführenden Lebensläufe (S. 194ff.), vor allem aber der RAF-Taten zwischen 1977 und 1979 (S. 246ff.) und der inneren Struktur der RAF (S. 341ff.) interessant, z.T. sogar spannend zu lesen, wenngleich sie keine Überraschungen enthalten.
Dennoch vermag diese umfangreiche, insgesamt lesbar geschriebene Studie nicht zufriedenzustellen. Das hat vor allem vier Gründe. Zum ersten langweilt Wunschik im 2. Kapitel durch einen Überblick zum Forschungsstand „zu den Bedingungen des Linksterrorismus in Deutschland“. Dieser Überblick bleibt ohne methodisch-analytische Schlußfolgerungen. Der Autor belegt allein: er ist belesen, ohne daß er seine Lesefrüchte zureichend sortierte und nutzte.
Zum zweiten: Obwohl im Literaturkapitel und in den Schlußbemerkungen (S. 404ff.) über die „Interaktion“ der RAF „mit Staat und Gesellschaft“ berichtet wird, spielt der allgemeine politisch-gesellschaftliche Kontext der Bundesrepublik kaum eine Rolle. Dadurch verbleibt Tobias Wunschik unvermeidlich bei weithin isolierten biographischen und psychologischen Daten und bei Interpretamenten, die just die konkon-artige Existenzweise der RAF sowie deren Handlungs-, vielmehr Reaktionsweise nicht erklären, ja nicht einmal zureichend beschreiben können.
Zum dritten: Der Erkenntnisspaß angesichts des füllig zusammengestellten Materials wird zu einem beträchtlichen Teil vergällt und verstellt, weil zuweilen aus den Quellen nicht kritisch genug geschöpft wird und weil Tobias Wunschik den Stoff nicht so durchsichtig aufbereitet, daß sich der/die Lesende selbst ein fundiertes eigenes Urteil bilden könnte. Dieser allgemeine Eindruck wird dort bestätigt, wo der Rezensent über eigenständige Quellenzugänge verfügt (wie beispielsweise im Falle Monika Haas oder selbst mit zur Quelle gehört, wie im Falle ‘Drittes Internationales Russell Tribunal’). Wenn der Autor auch sonst so geschlampt hätte, wie in diesen beiden Fällen, dann stünde es mit der Verläßlichkeit seiner gesamten Arbeit nicht zum besten.
Zum vierten: Der Autor will zu viel und zu wenig auf einmal. Er will eine ganze Gruppe kollektiv und individuell ausloten. Das ist auf diese Weise in einem Buch, einer Dissertation nicht zu schaffen. Zu wenig will der Autor insoweit, als er auf eine zusammensehende Analyse verzichtet und letztlich nur mehr schlecht als recht präparierte Lesefrüchte und sehr durchwachsen präsentierte Informationen auftischt.

Hirsch, Joachim: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, Berlin 1998 (ID Verlag), 171 S., DM 28,–
Diese Sammlung von Aufsätzen Joachim Hirschs aus den Jahren 1992 bis 1997 verbindet in Titel und Argumentation seine Bücher zum „Sicherheitsstaat“ (1986, 2. Aufl.) und zum „nationalen Wettbewerbsstaat“ (1995).
Der Akzent der Aufsätze liegt stärker auf der zuletzt genannten Publikation, also auf den Veränderungen staatlicher Politik im Zeichen der von Hirsch präziser gefaßten Globalisierung, als auf dem eher binnenzentrierten Konzept des „Sicherheitsstaates“. So wie freilich das, was Hirsch unter Sicherheitsstaat verstand und versteht i.S. eines dynamisch expandierenden Regulierungs- und Repressionskomplexes, eng mit dem Übergang vom fordistischen zum postfordistischen Gesellschaftstypus zusammenhängt, so hebt der „nationale Wettbewerbsstaat“ im globalen Bezugs- und Definitionsrahmen nicht virtuell ab. Dieser nationale Wettbewerbsstaat lebt vielmehr im verstärkten Maße von seinem informationell sublimierten und physisch verstärkten Hauptinstrument zugleich: dem Monopol legitimer, also mit allgemeinem Geltungsanspruch versehener physischer Gewaltsamkeit. Sozialstaatliche Deregulierung und sicherheitspolitische Regulierung greifen wie Zahnräder ineinander (vgl. vor allem den Aufsatz „Globalisierung des Kapitals und die Transformation des Sicherheitsstaats“, S. 70ff.). Insofern alle Aufsätze Hirschs von der einen oder anderen Perspektive die Möglichkeiten und Grenzen nationalstaatlicher Politik behandeln, helfen sie mit, die heute mehr denn je drängenden Fragen zu beantworten: welcher Stellenwert kommt im Zeichen der Globalisierung dem staatlichen Gewaltmonopol im Innern zu; wieweit werden das Gewaltmonopol und seine Institutionen mehr als je zuvor interessenspezifisch im Sinne einseitiger gesellschaftlicher Interessen funktionalisiert; welche institutionellen und normativen Minima sind geboten, um allein den verfassungsgemäßen Legitimationsanspruch zu halten; und anders: wie verändern sich im Zeichen der Globalisierung die nationalstaatlichen, die bürgerlichen und/oder die zwischen den verschiedenen Bürger-Klassen bestehenden Sicherheitsanforderungen- und bedürfnisse?
(sämtlich: Wolf-Dieter Narr)

Internationale Liga für Menschenrechte; Erbe, Birgit (Hg.): Frauen fordern ihr Recht. Menschenrechte aus feministischer Sicht (Edition Philosophie und Sozialwissenschaften 45), Berlin, Hamburg 1998 (Argument Verlag), 136 S., DM 24,80
„Frauenrechte sind Menschenrechte“. So wurde es von den RegierungsvertreterInnen im Abschlußdokument der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking schwarz auf weiß festgehalten. Daß es sich bei diesem Bekenntnis weitestgehend um eine Leerformel handelt, verdeutlicht der vorliegende Band eindrücklich. Er dokumentiert die Beiträge einer Tagung, die 1996 von der Internationalen Liga für Menschenrechte und dem Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz in Berlin veranstaltet wurde. Frauen aus Wissenschaft und politischer Praxis diskutierten das Konzept der Menschenrechte, unterzogen es einer feministischen Kritik und zeigten anhand verschiedener Beispiele die Verletzung der Menschenrechte von Frauen auf. Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge sollen drei Kernprobleme der feministischen Kritik an der herrschenden Menschenrechtspraxis bilden: 1) die Blindheit bei Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen aufgrund ihres Geschlechts, 2) die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre in der Konzeption und Anwendung der Menschenrechte und 3) die Ausblendung des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs von Frauen, d.h. ihrer strukturellen Benachteiligung (S. 9). Anhand der Themen häusliche Gewalt (in Immigrantenfamilien), islamischer Fundamentalismus, Unterdrückung ethnischer Minderheiten, Migrantinnen/Kriegsflüchtlinge in der EU sowie Effektivität des Frauen-/Menschenrechtsschutzes der Vereinten Nationen wird die Situation der Menschenrechte von Frauen aufgezeigt, und Forderungen für einen effektiven Schutz werden aufgestellt. Die Herangehensweise der einzelnen Beiträge unterscheidet sich dabei erheblich. So finden sich Analysen der rechtlichen Schutzinstrumente ( Keller zur UN) neben Einzelfallschilderungen (Ahmadi zur Verschleierung, Vahedi zur Unterdrückung religiöser Minderheiten im Iran), zahlreichen Beiträgen zu Migration und einem Werbebeitrag für das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt (BIG) (Schweikert). Die Analyseebene wird nur selten beschritten. Die meisten Beiträge bleiben deskriptiv und isoliert voneinander, ohne sich auf die zuvor genannten drei Kernprobleme der herrschenden Menschenrechtspraxis explizit zu beziehen.
So wirft dieser Band leider nur ein Schlaglicht auf den aktuellen Stand der feministischen Menschenrechtsdiskussion – zumindest auf der empirischen Ebene; denn theoretische Überlegungen kommen – wie bei Tagungsbeiträgen häufig – zugunsten von Falldarstellungen etwas zu kurz.
(Martina Kant)

von-Hinckeldey-Stiftung (Hg.): Berliner Polizei. Von 1945 bis zur Gegenwart, Berlin 1998 (Jaron Verlag Berlin), 256 S., DM 34,–
In der Einrichtung des ‘Instituts der Schutzmannschaft’ im Gefolge der Revolution von 1848 sieht die Berliner Schutzpolizei ihre historischen Wurzeln. Einen „Überblick über mehr als 50 Jahre Berliner Polizeigeschichte“ verspricht der Band, der aus Anlaß des 150. Geburtstags erschien. Das ging gründlich schief.
Schon der Titel „Berliner Polizei. Von 1945 bis zur Gegenwart“ ist irreführend. Behandelt wird die gesamte Berliner Polizei lediglich in den Berichten über die unmittelbare Nachkriegszeit, denn mit der Ernennung von Johannes Stumm zum Polizeipräsidenten in den Westsektoren der Stadt im August 1948 endete deren gemeinsame Geschichte. Der Beitrag über die Volkspolizei (S. 184-193) hat eher Feigenblattcharakter. Mit insgesamt 6 Textseiten ist er beträchtlich kürzer als jener über die Wasserschutzpolizei, der es auf knapp 18 Textseiten bringt. Zumindest ein ‘West-’ hätte dem Titel also voranstehen müssen.
Daß die Erinnerungen von Beamten der ‘Stunde Null’ sich vielfach gleichen und die so entstehende Wiederholung gleicher Fakten und Vorgänge langsam ermüdet, ist sicherlich in erster Linie ein redaktionelles Problem. Nicht jedoch die Unterschlagung der mehrfach notwendigen Entnazifizierung der deutschen Nachkriegspolizei. In Berlin, so weist eine Tabelle zwar noch aus, schieden allein in der Zeit vom 3. Juli bis zum 31. Dezember 1945 insgesamt 3.779 Mann aus. Der Text erläutert hierzu: „Wenn Polizeiangehörige auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausschieden, dürften die wachsenden Lehrgangsanforderungen häufig der Grund gewesen sein. Außerdem boten sich in der Wirtschaft, die langsam wieder in Gang kam, erneut Erwerbsmöglichkeiten an, die wahrgenommen wurden.“ So einfach ist das. Zwangsweise Entfernung aus der Polizei hat es, diesem Buch zufolge, lediglich in Einzelfällen gegeben. Andere Vorgänge aus dem Innenleben der (West-)Berliner Polizei hingegen sind wieder hoffähig geworden. So beschreibt etwa ein Kriminalhauptkommissar wie er 1962 gemeinsam mit einem Kollegen während der Dienstzeit ein Loch in die Mauer sprengte (S. 79-84). Seine Erinnerungen enden: „Aus Sicherheitsgründen mußte ich (…) innerhalb von 48 Stunden Berlin verlassen. Das teilte mir der Polizeipräsident, Herr Duensing, persönlich mit. (…) ‘Ihre Handlungsweise reicht vom einfachen Dienstvergehen bis zum Verbrechen. Trotzdem verurteile ich das nicht, ich schätze es in diesem Falle eher’. (…) Ich wurde zur Landespolizei Niedersachsen versetzt (…). Erst im Jahr 1970 konnte ich wieder in den Polizeidienst des Landes Berlin zurückkehren.“ Tja, so war das damals.
Bei den jüngeren Ereignissen hingegen wurde wieder kräftig mit dem Retuschierpinsel gearbeitet. Etwa bei den selbstverliebten Darstellungen des früheren Polizeipräsidenten Klaus Hübner über die Polizeireform von 1974 (S. 96-123) oder bei den Erzählungen seines Nachfolgers Georg Schertz über die Abriegelung Kreuzbergs 1987 oder die 1. Mai-Einsätze der Jahre 1987-92 (S. 148-161). Wenn sich Anglerlatein durch Übertreibung auszeichnet, so glänzt Polizeirhetorik durch Auslassungen. Dennoch hat Schertz mit seiner Darstellung über die polizeiliche Situation im Westteil Berlins während der Wendeereignisse des Herbstes 1989 und die Reintegration der Ostberliner Polizei 1990 den spannendsten und wichtigsten Teil geschrieben (S. 163-183). Vieles davon hat man vorher (so) nicht gewußt. Gleichwohl bleiben auch hier die Rolle der Alliierten und ihre Einflußnahme auf die Sicherheitsbehörden weitgehend ausgespart.
Ein Buch über die Geschichte der Berliner Polizei ist somit nicht entstanden. Eher eines über die Geschichtsblindheit der Berliner Polizei. Aber war eigentlich mehr zu erwarten?
(Otto Diederichs)

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