Die elektronischen Instrumente der Abschiebung – Fahndung als Ausländerkontrolle

von Heiner Busch

Die Polizei fahndet nach Kriminellen. Das ist die landläufige Assoziation, die das Wort Fahndung hervorruft. Spätestens beim Blick auf den Inhalt von elektronischen Fahndungssystemen wird man eines besseren belehrt. Mehr als die Hälfte aller im deutschen INPOL-System zur Fahndung ausgeschriebenen Personen sind AusländerInnen aus Nicht-EU-Staaten, die abgeschoben oder an der Grenze zurückgewiesen werden sollen. Im Schengener Informationssystem (SIS) liegt ihr Anteil bei sogar 86%.

Im Oktober vergangenen Jahres hätte die bundesdeutsche Polizei ein besonderes Ereignis zu feiern gehabt: 25 Jahre zuvor war mit dem Anschluß der ersten 35 Terminals an das Informationssystem INPOL der Startschuß für einen bundesweiten polizeilichen EDV-Verbund gefallen, dessen erstes Teilstück die Personenfahndung wurde.

Die Daten der Personenfahndung werden im Zentralrechner des BKA und in den damit verbundenen Rechnern der Landeskriminalämter parallel gespeichert, sind also von allen damit verbundenen Terminals aus abfragbar. Der Fahndungsverbund galt bei seiner Einführung als technisches Meisterwerk. Mit der wachsenden Dichte der Terminals hatte das alte Fahndungsbuch, ein unhandlicher Wälzer, der bereits beim Eintreffen in den Dienststellen inaktuell war, ausgedient. Das neue Instrument der elektronischen Fahndung garantierte einfachere und schnellere Kontrollmöglichkeiten.

INPOL – eine neue Fahndungspraxis

Paradoxerweise verdoppelte sich von 1972 bis 1978 nicht nur die Zahl der durch Festnahmen und andere Maßnahmen erledigten Fahndungen, sondern auch der aktuelle Fahndungsbestand, also die zu einem Stichtag festgestellte Zahl der im System gespeicherten Personen. Der Grund für letzteres ist in der vereinfachten Form der Ausschreibung zu suchen. Bei der Einführung von INPOL war zunächst die alte Ausschreibungspraxis übernommen worden, bei der nur überregional agierende Straftäter und Schwerkriminelle ins Fahndungsbuch resp. in den neuen EDV-Fahndungsbestand aufgenommen wurden.

Mit der Durchsetzung der elektronischen Fahndung wurden Stück für Stück die alten Differenzierungen nach Deliktschwere oder überregionaler Bedeutung fallengelassen. Auch Bagatellfälle, nicht gezahlte Bußgelder oder Geldstrafen, Alimentenschwindel, die Suche nach Zeugen oder eben auch die Durchsetzung von Ausweisungsverfügungen [1] reichten nun für eine Speicherung in der Personenfahndungsdatei.
Schon 1982 entfielen 115.000 der ca. 200.000 Fahndungsnotierungen – rund 57% – auf den Fahndungszweck „Ausweisungsverfügung“. Dies hat sich bis heute gehalten. Die untenstehende Tabelle gibt den Stand der aktuellen Fahndungsnotierungen („F-Gruppen“) zum 1. August 1997 wieder. Die Zahlen sind entnommen aus der internen INPOL-Statistik des Bundeskriminalamts.

Die Tabelle zeigt zunächst die Bandbreite der Personenfahndung und der Gründe, weswegen eine Person ausgeschrieben wird. Dies reicht vom Fahndungsziel der Festnahme (mit und ohne Haftbefehl), über die Ingewahrsamnahme (die vor allem gegenüber Vermißten angeordnet wird), die Aufenthaltsermittlung bis hin zur Durchsetzung von Fahrverboten und den diversen Formen der polizeilichen und zollrechtlichen Beobachtung (Nr. 10-13).

Von über 900.000 sind nur ganze 214.183 Personen wegen einer Straftat ausgeschrieben. Bei drei Vierteln dieser letzteren soll nur der Aufenthaltsort ermittelt werden. Es handelt sich dabei um geringfügigere Straftaten, die eine Festnahme oder einen Haftbefehl nicht rechtfertigen. Auch da, wo es um die Strafvollstreckung geht, kann nicht davon ausgegangen werden, daß es sich um tatsächlich schwere Fälle handelt. Das Kriminalitätsniveau, das in dieser Statistik abgebildet wird, ist also ein recht niedriges.

Es sinkt weiter, wenn man den strafrechtlich relevanten Angelegenheiten die rein ausländerrechtlichen gegenüberstellt: Fast 516.000 Personen werden gesucht, um sie anschließend abzuschieben. Hinzu kommen 371 Verstöße gegen das Asylverfahrensgesetz sowie über 12.000 andere ausländerrechtliche Maßnahmen. In keinem dieser Fälle handelt es sich um Straftaten im eigentlichen Sinne, allenfalls um einen illegalen Aufenthalt in der BRD.

SIS – der europäische Abschiebeverbund

Das Schengener Informationssystem (SIS) ist das erste unmittelbar von lokalen Terminals abfragbare supranationale Fahndungssystem. Es ist wie das bundesdeutsche INPOL-System sternförmig organisiert. In der Mitte des Sterns befindet sich die Straßburger Zentrale (C.SIS), die nur organisatorische Funktionen hat. Sie gewährleistet, daß in allen nationalen Komponenten (N.SIS) jeweils alle Ausschreibungen präsent sind und sorgt für den reibungslosen Betrieb. An die nationalen Komponenten sind jeweils die Terminals der abfrageberechtigten nationalen Behörden angeschlossen.
Von den 30.000 Endgeräten, die beim Start des Systems am 26. März 1995 angeschlossen waren, befanden sich allein 9.000 in deutschen Händen – beim BKA, bei den Länderpolizeien, beim Bundesgrenzschutz und beim Zoll sowie bei den Ausländerbehörden. Zugang haben auch die Konsulate im Ausland, die für die Vergabe von Visa zuständig sind.
Gefahndet wird zum einen nach Sachen: Bei Autos, Waffen, registrierten Banknoten aus Lösegeldern oder Überfällen, bei Blankodokumenten oder gestohlenen ausgestellten Personalpapieren werden jeweils alphanumerische Kennzeichen notiert. Bei der Fahndung nach Personen werden nur die Personalien und gegebenenfalls Aliaspersonalien des betreffenden Menschen erfaßt. Zusätzlich sind die personenbezogenen Hinweise „gewalttätig“ oder „bewaffnet“ möglich. Weitergehende Informationen werden erst nach einem Kontrollerfolg, im Polizeideutsch: einem „Fahndungstreffer“, zwischen den SIRENEn (Supplementary Information REquest at the National Entry) der beteiligten Staaten ausgetauscht, aber nicht im SIS gespeichert.

Das Problem des SIS liegt weniger in der Qualität der einzelnen Datensätze und in der Sensibilität der gespeicherten Daten, sondern in der Quantität der Ausschreibungen und den damit verfolgten Zielen. Das Übergewicht ausländerrechtlicher Zielsetzungen gegenüber solchen der Strafverfolgung ist im SIS noch deutlicher zu sehen als bei der INPOL-Personenfahndung in Deutschland.

Uns liegen zwei Gesamterhebungen der im SIS gespeicherten Fahndungsausschreibungen vor. Die erste datiert vom 7. März 1996, die zweite vom 11. April 1997. Auch wenn die Zahl der Datensätze insgesamt zurückgegangen ist, so blieb doch deren Verteilung auf die bis dahin sieben am SIS beteiligten Staaten weitgehend gleich. Zum Stichtag waren 1996 89,1% und 1997 86,7% aller im SIS ausgeschriebenen Personen AusländerInnen aus Nicht-EU-Staaten, die an der Grenze abgewiesen oder aus dem Schengener Vertragsgebiet abgeschoben werden sollten. In allen beteiligten Staaten machen diese ausländerrechtlich motivierten Ausschreibungen den Löwenanteil der jeweiligen Personendaten aus. In keinem Schengen-Staat zeigt sich dies aber deutlicher als in Deutschland, das in beiden Jahren für über zwei Drittel der SIS-Personendaten verantwortlich war (1996: 73,7%, 1997: 68,4%). Der Anteil der Abzuschiebenden an den von Deutschland gemeldeten Personen betrug jeweils weit über 90% (1996: 99,1%, 1997: 98,6%).

Das SIS ist bis auf weiteres in erster Linie ein Instrument der Abschiebung und nicht der Strafverfolgung. Im Gegensatz zu nationalen Fahndungssystemen können Beschuldigte oder bereits verurteilte Personen nur im SIS ausgeschrieben werden, wenn es um eine auslieferungsfähige Straftat (mindestens ein Jahr Strafandrohung) geht. Ihr Anteil ist daher noch geringer als in vergleichbaren nationalen Fahndungssystemen (1996: 0,7%, 1997: 1,1%). Dieser geringe Anteil der Personendaten des SIS, die einen kriminalitätsbezug aufweisen, wird auch nicht ausgeglichener, wenn man die Aufenthaltsermittlungen nach Art. 98 des Abkommens hinzuzieht (1996: 6,4%, 1997: 6,6%). In dieser Kategorie sind überdies nicht nur Verdächtige, sondern auch Zeugen zur Fahndung ausgeschrieben.

Erfolge einer selektiven Kontrollpraxis

Dieses Mißverhältnis zeigt sich ebenso bei den Kontrollerfolgen. Die sog. Trefferfälle werden bei den SIRENEn gezählt. Gemäß deren Arbeitsweise wird dabei unterschieden zwischen Kontrollerfolgen im Inland aufgrund von Ausschreibungen anderer Schengen-Staaten und umgekehrt „Treffern“ im Ausland aufgrund der eigenen Ausschreibungen im SIS.
Erfolgreich sind die Polizeien vor allem da, wo die Fahndung aufgrund sichtbarer Merkmale ansetzen kann. In der Sachfahndung ist dies bei den Autos der Fall. Weil die Kontrolle an sichtbaren Unterschieden ansetzt, korrespondiert die Zahl der „Treffer“ nicht voll mit den Kategorien der gespeicherten Daten. So liegt der Anteil der Sachfahndungsdaten im SIS zwar rund achtmal höher als jener der Personendaten. Dennoch übersteigen die Kontrollerfolge gegenüber abzuschiebenden AusländerInnen bei weitem die der aufgegriffenen Sachen.

Auch bei AusländerInnen kann die Kontrolle an sichtbaren Merkmalen – der Hautfarbe oder dem „ärmlichen Aussehen“ ansetzen. Schon allein deshalb werden sie häufiger kontrolliert als die weiße und wohlständige Mehrheit der mittel- und westeuropäischen Bevölkerung. Sie passen zudem in eine Politik, die alles daran setzt, Einwanderung und Flucht mit polizeilichen Mitteln zu „bekämpfen“. Praktische und ideologische Kriterien vereinigen sich zu einem institutionellen Rassismus.

Fahndungsziel insgesamt

März 1996

dt. Anteil

März 1996

insgesamt

April 1997

dt. Anteil

April 1997

Festnahme/Auslieferung

3.903

1.068

5.103

1.528

Einreiseverweigerung/
Abschiebung

507.859

416.293

413.054

321.301

Aufenthaltsermittlung:
Vermißte

13.033

995

17.468

1.378

Zeugen etc.

36.668

1.406

31.324

1.024

Polizeiliche Beobachtung

8.254

276

9.424

536

Personen insgesamt

569.737

420.038

476.373

325.767

Sachfahndung insgesamt:

2.896.771

1.690.034

3.765.693

1.906.957

KFZ

875.140

300.596

827.516

317.273

Waffen

111.205

101.660

168.421

106.955

Banknoten

499.641

219.141

535.754

235.062

Blankodokummente

35.335

35.026

33.034

31.825

Identitätspapiere

1.407.450

1.033.611

2.200.968

1.215.842

 

 

Fahndungs-„treffer“ 1996

 

im Inland

aufgrund ausländ. Ausschreib.

alle SIRENEn

im Ausland

aufgrund nationaler Ausschreib.

alle SIRENEn

in Dt.

aufgrund ausländ. Ausschreib.

dt. SIRENE

im Ausland

aufgrund deutscher Ausschreib.

dt. SIRENE

Festnahme/Auslieferung

417

518

85

192

Einreiseverweigerung/Abschiebung

9.814

7.074

297

6.188

Aufenthaltsermittlung
Vermißte

317

127

82

127

Zeugen etc.

1.040

1.048

289

73

Polizeiliche Beobachtung

411

441

196

35

Personen insgesamt

11.999

9.208

949

6.615

Sachfahndung insgesamt

5.646

6.050

608

2.178

„Treffer“ insgesamt

17.645

15.258

1.557

8.793

INPOL-Personenfahndung

aktuelle offene Fahndungsnotierungen, Stand: 1.8.97

insgesamt 904.717

1. zur Festnahme 517.067

2. zur Festnahme m. Haftbefehl 187.584

1. und 2. zusammen 704.651

davon

  • wg. Straftat 50.889
  • wg. Strafvollstreckung 137.428
  • entwichene Strafgefangene 291
  • zur Unterbringung (psych. Anstalten) 142
  • als Zeuge 5
  • spez. Grenzfahndung 9
  • Ausweisungsverfügung 515.887

3. zur Ingewahrsamnahme 2.541

(vor allem Vermißte)

4. zur Aufenthaltsermittlung 176.126

davon

  • wg. einer (kleineren) Straftat 163.294
  • wg. Strafvollstreckung 3.808
  • als Zeuge 2.838
  • Gefahrenabwehr 253
  • vermisste 5.562
  • Verstoss gg. d. Asylverfahrensgesetz 371

5. zur ED-Behandlung 484

6. zur Identitätsfeststellung 54

7. Durchsetzung eines Fahrverbots 717

8. Entziehung der Fahrerlaubnis 3.720

9. Ausländerrechtliche Maßnahmen 12.324

10. Kontrolle (Gewalttäter Sport) 1.868

11. Überwachung eines „Gefährders“ –

12. Zollrechtliche Überwachung 430

13. Beobachtung 1.802

alle ausländer- und asylrechtlichen Notierungen, gesamt: 528.582 (58,42%)

Heiner Busch ist Redakteur und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
(1) ÖVD/online, 1/1982, S. 74