Der „weiche Unterleib“: Das Grenzkontrollregime an der Meerenge von Otranto

von Derek Lutterbeck[1]

Flüchtlinge aus Albanien und der Schmuggel von Drogen, Zigaretten und Waffen machen die Meerenge von Otranto in den Augen der italienischen (und europäischen) Behörden zum „weichen Unterleib der EU“. Nicht umsonst ist der Küstenstreifen zum Experimentierfeld der Grenz- und Migrationskontrolle geworden. Zwei Tendenzen lassen sich dabei beobachten: Die Vorverlagerung der Kontrollen auf die albanische Seite sowie die Vermischung von militärischen und polizeilichen Aufgaben.

Schon zu Beginn der ersten albanischen Flüchtlingskrise im Jahre 1991, als ca. 40.000 albanische „Boat people“ innerhalb weniger Tage die Adria überquerten, wurden die Grundlagen der Abwehrstrategie geprägt: Flüchtlingsströme sollten schon auf der albanischen Seite der Adria unterbunden werden. Der „Wasserhahn“ müsse in Albanien und nicht erst in Italien „zugedreht werden“, erklärte der seinerzeitige Vizepräsident des italienischen Ministerrats, Claudio Martelli.[2] Im September 1991 startete die italienische Regierung die „Mission Pelikan“, eine Militäroperation auf albanischem Territorium. Diese war zwar im Prinzip als „humanitäre Intervention“ deklariert, dennoch machte die italienische Regierung keinen Hehl aus dem Hauptgrund der Operation: Den „bevorstehenden Exodus noch viel größerer Massen“ galt es zu verhindern und „die bereits illegal Eingereisten zu repatriieren.“[3] Im Kontext der Mission Pelikan baute die italienische Kriegsmarine zusätzlich ein Kontrolldispositiv in der Meerenge von Otranto auf. Ein bilaterales Abkommen mit Albanien verlieh ihr das Recht, auch innerhalb albanischer Hoheitsgewässer zu operieren, um einem „allfälligen Exodus schon beim Entstehen entgegenwirken zu können“.[4] Die italienischen Marineeinheiten hatten dabei den Auftrag, die albanischen Boote anzuhalten, zu durchsuchen und ihre Rückkehr zur albanischen Küste zu erzwingen.[5] Zu diesem Zweck wurde auch ein Marinestützpunkt in der albanischen Hafenstadt Durres errichtet. Zur „rechtlichen Deckung“ für diese Kontrolltätigkeiten im albanischen Hoheitsbereich vereinbarte man, dass sich mindestens ein albanischer Beamter an Bord jedes italienischen Schiffes befinden müsse.[6] Obwohl ursprünglich nur für drei Monate geplant, wurde dieses Kontrolldispositiv bis Ende 1993 aufrechterhalten.

Der Flüchtlings- und Migrationsstrom brach auch in den folgenden Jahren nicht ab. Laut offiziellen Schätzungen verließen von 1992 bis 1996 zwischen 100.000 und 200.000 AlbanerInnen ihr Land, meist nach Griechenland und Italien. Immerhin stabilisierte sich die wirtschaftliche und politische Lage Albaniens bis zu einem gewissen Grad, was auch zu einer Beruhigung rund um die Meerenge von Otranto führte.

Schon im Herbst 1994 wurden die Alarmglocken wieder geläutet: Der albanische Gesundheitsminister meldete den Ausbruch einer Cholera-Epidemie. Prompt rief man auch auf der italienischen Seite der Adria eine emergenza cholera aus. Die Kriegsschiffe der Marine wurden wieder in den Kanal von Otranto entsandt, um Boote mit eventuellen Cholerakranken abzufangen.[7] Das ganze erwies sich jedoch als Fehlalarm.[8] Im März 1995 folgte die Operation Salento: Während sechs Monaten überantwortete die italienische Regierung der Armee die Kontrolle der Adriaküste. Die illegale Einwanderung – so die offizielle Begründung – stelle eine „schwerwiegende Bedrohung“ dar, die durch alle Sicherheitskräfte inklusive des Militärs bekämpft werden müsse. Bei dieser Operation konnte die Armee bereits auf frühere Erfahrungen mit Einsätzen auf nationalem Territorium zurückgreifen. Seit Anfang der 90er Jahre war sie vermehrt im Innern eingesetzt worden, v.a. zur Bekämpfung der Mafia in Süditalien.[9]

1997 bewirkte der Kollaps der Pyramideninvestitionsgesellschaften einen erneuten wirtschaftlichen Zusammenbruch Albaniens. Bürgerkriegsähnliche Zustände, aber auch eine erneute Fluchtwelle waren die Folge. Wiederum tauchten die rostigen und vollkommen überladenen Tanker vor den Häfen von Brindisi und Bari auf; offiziellen Schätzungen gemäß versuchten ca. 30.000 Flüchtlinge nach Italien zu gelangen. Wie während der ersten Flüchtlingskrise reagierte die italienische Regierung mit militärischen Mitteln. Im Rahmen der sogenannten Operation Alba, an der sich nun auch andere EU-Staaten beteiligten, wurden ca. 6.000 Soldaten in Albanien eingesetzt, um – in den Worten des damaligen Außenministers Lamberto Dini – die „albanische Bevölkerung auf albanischem Territorium zu stabilisieren“.[10]

Erneut sorgte ein Abkommen mit Albanien dafür, dass auch die italienische Marine in die Flüchtlingsabwehr einbezogen wurde.[11] Ziel ihres Einsatzes sollte – so Ministerpräsident Romano Prodi – nicht weniger als die „vollkommene Unterbindung“ der Flüchtlingsströme sein.[12] Die ent­lang der albanischen Küste errichtete Meeresblockade brachte der italienischen Regierung allerdings nicht nur heftige Kritik von Seiten der UNO und diverser Menschenrechtsorganisationen ein, sie zeitigte schon nach wenigen Tagen schwerwiegende Folgen: Ein italienisches Kriegsschiff kollidierte mit einem albanischen Tanker, die meisten der ca. 100 Passagiere kamen ums Leben.

Für den Einsatz der Marine bedeutete dieses Ereignis einen gewissen Wendepunkt: Obwohl sie nach wie vor bei der „Bekämpfung“ der illegalen Einwanderung mitwirkt, hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sie dabei nur eine sehr beschränkte Rolle spielen kann. Zumindest gemäß offiziellen Erklärungen hat die Marine seither nicht mehr den Auftrag, die von Albanien kommenden Boote selber abzufangen. Sie soll nur noch die Polizeibehörden auf der italienischen Küste vorwarnen.[13] Allgemein scheint sich die Taktik der italienischen Sicherheitskräfte dahingehend geändert zu haben, dass nicht mehr versucht wird, die Boote auf hoher See aufzuhalten. Eingegriffen wird erst im Moment der Landung, um die ImmigrantInnen und Schlepper zu verhaften. Die neue Strategie hat allerdings ihrerseits fatale Folgen: Wegen der verschärften Kontrollen entlang der italienischen Küste zwingen die Schlepper ihre Passagiere nun häufiger, schon vor Ankunft auszusteigen und die restliche Strecke an Land zu schwimmen. Auch dies mit oft tödlichem Ausgang.[14]

Polizeimissionen in Albanien

Eine vorgelagerte Grenz- und Migrationskontrolle stellen auch die verschiedenen italienischen und multinationalen „Polizeimissionen“ in Albanien dar.[15] Zur Zeit sind fünf solcher Missionen auf albanischem Territorium tätig, drei unter der Ägide der Westeuropäischen Union (WEU) und zwei italienische, die sich auf eine Reihe bilateraler Abkommen mit der albanischen Regierung stützen. Ungefähr 500 italienische PolizeibeamtInnen der drei wichtigsten italienischen Polizeikorps (Guardia di Finanza, Carabinieri, Polizia di Stato) sind momentan in Albanien tätig.

Offiziell verstehen sich diese Missionen als Aufbauhilfe an die albanische Polizei. Sie sind angeblich auf reine „Beratungs- und Ausbildungstätigkeiten“ beschränkt. Ihr Schwerpunkt liegt allerdings eindeutig bei der Bekämpfung derjenigen Kriminalitätsformen, welche für die Länder weiter westlich von Bedeutung sind, d.h. bei der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Einwanderung. So befassen sich zwei der drei WEU-Missionen – die CAM (Customs Assistance Mission) und die CAM Sea – mit dem Aufbau der albanischen Grenzpolizei. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Mission der Guardia di Finanza (GF), die mit der Kontrolle der albanischen Küste beauftragt ist. Obwohl auch hier offiziell nur beraten wird, kontrollieren die rund 150 Beamten der GF-Mission mit ihren 10 Booten die albanische Küste praktisch in eigener Regie. Sie nehmen dabei auch eigentliche Hoheitsakte – Festnahmen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen – vor. Einzige Voraussetzung ist einmal mehr, dass sich mindestens ein albanischer Beamte an Bord jedes italienischen Schiffes befindet.[16]

Im Laufe der Zeit wurde dieses Küstenkontrolldispositiv der GF regelmäßig ausgebaut. So errichtete die GF Anfang 1999 zusätzlich zu ihrer Basis in Durres einen weiteren Stützpunkt auf der albanischen Insel Saseno, wo in der Folge auch eine Radarstation installiert wurde.[17] Die Operationen der GF wurden jüngst von den albanischen Hoheitsgewässern auf das albanische Territorium selbst ausgeweitet. Im Zuge eines Abkommens wurde die GF ermächtigt, gegen Schlepper und ihre Passagiere nicht wie bisher erst nach Verlassen der albanischen Küste, sondern schon auf dem Festland einzuschreiten und die Boote zu beschlagnahmen. Auch diese Maßnahmen, so wird jedenfalls auf italienischer Seite beteuert, müssen „in Zusammenarbeit“ mit der albanischen Polizei durchgeführt werden und stellten deshalb keine Verletzung albanischer Hoheitsrechte dar.[18]

Längerfristig werden sich die Grenzkontrolloperationen der italienischen (und multinationalen) Polizeimissionen kaum auf die Westgrenze Albaniens, die Adriaküste, beschränken. Das Land wird immer mehr auch als „Transitland“ für Einwanderer angesehen. Gemäß Auskunft italienischer Behörden seien bereits „Experten“ an die albanische Ostgrenze, welche sich in absolut desolatem Zustand befinden soll, entsandt worden. An Projekten für deren Aufrüstung, so heißt es, werde schon fleißig gearbeitet.

Sicherheit, innen und außen

Bemerkenswert am Dispositiv der Migrationskontrolle in der Meerenge von Otranto sind nicht nur die immer weiter reichenden Eingriffe der italienischen Sicherheitskräfte in den albanischen Hoheitsbereich, sondern auch die zunehmende Vermischung von interner und externer Sicherheit, von polizeilichen und militärischen Aufgaben. Eindrücklicher Beleg dafür ist nicht nur die Einbindung der italienischen Streitkräfte in die Einwanderungskontrolle, sondern auch der Umstand, dass sich die paramilitärische GF als Hauptakteur auf diesem Gebiet zu profilieren vermocht hat, und dies weitgehend ohne gesetzliche Kompetenz. Ähnlich wie der deutsche Bundesgrenzschutz oder die französische Gendarmerie ist die GF eine Art Zwitter: Sie ist zwar in erster Linie mit zollpolizeilichen Aufgaben befasst, aber nach militärischem Muster strukturiert. Sie untersteht nicht nur dem Finanz-, sondern auch dem Verteidigungsministerium. Ihr Einsatz im Bereich der Einwanderungskontrolle wird offiziell damit begründet, dass die illegale Einwanderung Verbindungen zum Drogen-, Waffen- und Zigarettenschmuggel aufweise und daher nicht nur die soziale und wirtschaftliche, sondern auch die militärische Sicherheit bedrohe.

Ihr Einsatz im Bereich der Migrationskontrolle hat der GF und insbesondere ihrer Seeabteilung einen massiven Ausbau beschert. Noch Mitte der 80er Jahre verfügte sie über etwas mehr als 200, heute über fast 600 Boote aller Größen. Hinzu kommen über 100 Flugzeuge und Helikopter, die auch einen Einsatz weit außerhalb der nationalen Hoheitsgewässer ermöglichen.[19]

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich in den „westlichen“ Staaten ein neues Bedrohungsbild herauskristallisiert, wonach die Sicherheit in erster Linie durch transnationale Phänomene wie die grenzüberscheitende Kriminalität und die illegale Einwanderung gefährdet sein soll. Der Aufschwung der GF in Italien, des Bundesgrenzschutzes in Deutschland und ähnlicher Sicherheitsorganisationen in anderen europäischen Staaten legt eine allgemeine Hypothese nahe: dass nämlich die Zwitter-, d.h. weder rein polizeiliche noch rein militärische Organisationen vom neuen Bedrohungsbild in besonderem Maße zu profitieren vermögen.

Derek Lutterbeck ist Politologe und ehemaliger Forschungsassistent an der Universität Genf.
[1]      Der Autor dankt der Société académique de Genève und dem Schweizerischen Nationalfonds für die großzügige finanzielle Unterstützung.
[2]     Corriere della sera v. 8.3.1991
[3]     Missione ‚Pelicano’, www.esercito.difesa.it
[4]     Emergenza immigrazione, www.trasportinavigazione.it
[5]     ebd.
[6]     Cafio, F.: La collaborazione tra Italia e Albania per il controllo delle coste, in: Rivista Maritima 1991, no. 11, pp. 121-123
[7]     Corriere della sera v. 14.9.1994, 15.9.1994, 16.9.1994
[8]     Puddu, F.M.: Le missioni in Albania della marina militare, in: Rivista Maritima 1998, no. 1, pp. 47-56
[9]     Operazione ‚Salento’, Operazioni in territorio nazionale, www.esercito.difesa.it
[10]   La Stampa v. 30.3.1997
[11]    Caffio, F. L’accordo tra l’Italia e l’Albania per il controllo e il contenimento in mare degli espatri clandestini, in: Rivista Maritima 1997, no. 6, pp. 109-118
[12]   La Stampa v. 25.3.1997
[13]   Société internationale de droit militaire et de droit de la guerre, Gruppo italiano: The military contribution to the control of traffic of migrants by sea, ohne Datum
[14]   Integrazione in una terra di passagio, Lecce 1999 (www.svileg.censis.it)
[15]   Siehe dazu auch Tsoukala, A.: Stabilitätspakt für Südosteuropa, in: Bürgerrechte & Poli­zei/CILIP 67 (3/2000), S. 63-69
[16]   Puddu M.P.: Albania – lo stato dell’arte, in: Rivista Italiana di Difesa 1999, no. 4, pp. 68f.
[17]   Caiti, P.: Gli aiuti italiani alle Forze di Polizia albanesi, in: Rivista Italiana di Difesa 1999, no. 3, pp. 66-69
[18]   La Repubblica v. 31.7.2000
[19]   Commando Generale della Guardia di Finanza: La Guardia di Finanza, Rom 1985; dasselbe: La Guardia di Finanza: Situazione e prospettive, Rom 2001