von Wolf-Dieter Narr
Das zweite, füllig gepackte Paket der Gesetze, das nach dem 11. September gegen allen Terrorismus und für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik und der Europäischen Union geschnürt worden ist, um noch dieses Jahr gesetzlich unter Dach und Fach gestellt zu werden, ist noch nicht geschlossen. Zur Zeit, da dieses Editorial geschrieben wird, das sich darauf konzentriert, einzelne neue gesetzliche Gaben genauer unter die Lupe zu nehmen (10./11.12.2001), haben etliche Bundesländer noch Einwände geäußert. Diese Bundesländer, ein Zeichen des exekutivischen, nicht des demokratischen Föderalismus der Bundesrepublik, verlangen, dass auch die Landesverfassungsschutzämter Auskunftskompetenzen bei Post, Telekom und Banken erhalten sollen, so wie das die Koalitionsvorschläge bereits für das Kölner Bundesamt vorsehen.
Ansonsten scheint indes alles politisch bürokratisch so vorbereitet zu sein, dass dieses zweite Paket termingemäß durch den Bundestag geschleust werden kann – unbeschadet des Einwands, den der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Max Stadler, geäußert hat. Stadler – so meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 11. Oktober – „nannte diesen Zeitplan ’skandalös‘. Eine seriöse Beratung sei damit nicht möglich, zumal es sich um ein ‚umfassendes Gesetzespaket mit weitreichenden Einschnitten in die Grundrechte der Bürger‘ handele.“ Also ist es angezeigt, die neuen Gesetzesvorhaben, demnächst Gesetze, allgemeiner einzuschätzen. Nach den Urteilskriterien von Bürgerrechte & Polizei/CILIP heißt das, sie an der unverkürzten Geltung der Bürgerrechte zu messen und daran, inwiefern sie eine streng an den Grundrechten orientierte Polizei gewährleisten.
1. Übermäßige Eile. Der FDP-Abgeordnete hat Recht. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass er mutmaßlich – ohne ihm zu nahe treten zu wollen – seinen zutreffenden Vorbehalt nicht geäußert hätte, wenn er denn einer der Fraktionen angehörte, die die Regierung stellen. Die Hatz, mit der das vielfältige, freilich sicherheitspolitisch zugunsten der Exekutiven einstimmige gesetzliche Potpourri von der Regierung gemischt worden ist und demnächst von der Parlamentsmehrheit abgesegnet werden wird, demonstriert die schwache Kompetenz der Legislative in mehrfacher Hinsicht, die nur noch durch ihre korrespondierende Schwäche in sogenannter äußerer Sicherheit übertroffen wird. Die parlamentarische Schwäche zeigt sich anlässlich der Formulierung und peniblen Diskussion des Gesetzes. Sie äußert sich in der Form der gesetzlichen Änderungen, die voll bespickt sind mit unbestimmten Rechtsbegriffen. Sie wird kund in den gesetzlichen Effekten, die die polizeilich-geheimdienstlichen Exekutiven noch weiter außerhalb der parlamentarischen Kontrolle stellen, als sie jetzt schon stehen. Die Null-Hypothese in Sachen Kontrolle dürfte gerade noch richtig sein.
2. Die Effekte der Eile gehen über die weit unterschrittenen Minima legislativer Mitbestimmung und Kontrolle hinaus. Angeblich sind die beiden Gesetzespakete notwendig, um die Bundesrepublik gegenüber den überall der Chance nach lauernden terroristischen Anschlägen und ihren insgeheimen Präparateuren zu schützen: den neuen, in ihrer dormierenden Scheinhaftigkeit unerkenntlichen Schläfern. Jedoch, wie kann ein solcher Schutz vor hoch gefährlichen, in ihrer Gefährlichkeit jedoch allenfalls umständlich entdeckbaren Tätern im Schlafanzug stattfinden, wenn man überhaupt keine Zeit dafür verwandt hat, die Gefahren genauer auszumachen und die untätigen Täter wenigstens plausibler zu orten? Wenn der exekutive De-facto-Gesetzgeber die potentiell terroristischen Taten selbst ernst nähme – und ebenso sein allgemein erkenntliches „Versagen“ vor dem 11.9. morgens bis ca. 9 Uhr (Ortszeit New York) -, dann hätte seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit darin bestanden (gerade um der Eile und des behaupteten dringenden Bedarfs willen), in nicht allein konventioneller Weise die potentiellen Bedrohungen tiefer auszuloten und in gleichfalls nicht bloß konventioneller Weise sicherheitspolitisch wenigstens plausible Antworten zu finden. Nichts dergleichen. Es sei denn, man gäbe sich mit der enormen Definitionskunst in Sachen Terrorismus zufrieden, die den EU-Staaten und ihren mächtig kompetenten Leuten eingefallen ist. Demgegenüber stellt die Lösung einer Gleichung aus zwei Unbekannten mit zwei Ungekannten, nämlich die Rasterfahndung, geradezu ein einfaches Rechenexempel dar.
3. Die besagte Eile wird indes, darauf deuten fast alle erkennbaren Indizien, nur um legitimatorischer Zwecke willen mit dem 11. September verbunden. Dieser 11. September – das machte schon die Bush-Rede vom 19. November deutlich, die sozusagen die Artikulationsbasis westlicher Staatsräson, global weitergeschrieben, kenntlich machte – dieser 11. September fungiert als Pauschallegitimator nach innen und nach außen. Bislang allemal gebrauchte menschenrechtliche Argumente, so sehr sie interventionistisch missbraucht worden sind, haben offenkundig ausgedient. Sicherheit westlicher Interessen zählt. In dieser Sichtweise gehen äußere Sensibilitäten à la Tschetschenien oder Folter in der Türkei ebenso unter wie innere Sensibilitäten sicherheitspolitisch nicht eindeutig fassbarer Menschenrechte. In Sachen der Anti-Terrorismus-Pakete handelt es sich nämlich nahezu durchgehend um gesetzliche Ermächtigungen exekutiver Behörden, die schrittweise schon seit längerem normiert worden sind. Die Vorlagen zu deren weiterer Vorwärts-Verrechtlichung sind offenkundig weitgehend aus den wohl vorbereiteten Schubladen gezogen worden. Damit die Zeit der Pauschallegitimation durch den 11. September nicht verstreiche, werden alle möglichen Verdächte vorlegt. Alle BürgerInnen, insbesondere alle AusländerInnen sind potentiell verdächtig. Die Unschuldsvermutung muss entsorgt werden. Informationen sind noch und noch zu sammeln. Diese sind dann auch zwischen den allemal zuständigen Behörden freizügiger zu tauschen. Exekutive Eingriffe sind vor aller gesonderten Legitimation zu erlauben. Und so bürger- und menschenrechtlich beliebig weiter und so sicherheitsbürokratisch ex- und intensiver und so fort. Die neuen Gesetze treiben die Ausdehnung sicherheitsbürokratischer Grob- und Feingriffe weiter, die mit der Begründung des Systems Innerer Sicherheit im Jahre 1972 ansetzte[1] und dann in all den weit gesteckten Gesetzen rechtlich geadelt wurde, die ironischerweise dem Volkszählungsurteil des Verfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 folgten.[2]
4. In einem solchen optimalen Legitimationszusammenhang, in dem nahezu nichts mehr penibel begründet und in seinen bürgersichernden, aber auch bürgerverunsichernden Kosten mehr kalkuliert werden muss, versteht es sich dann schier von selbst, dass rechtliche Veränderungen wie der § 129a StGB – verabschiedet in der Panik des Antiterrorismus der 70er Jahre -, die einem liberalen Strafrecht- und Strafprozessrecht zuwiderlaufen und die Unabhängigkeit der Judikative erheblich einschränken, nicht nur erhalten, sondern durch einen zusätzlichen strafrechtlichen Schelmen, den § 129b StGB, ergänzt werden. Ja dass, um die Schelmenhaftigkeit noch zu übertrumpfen, auch noch die Kronzeugenregelung erneuert wird, die nur eines bringt: die Aushebelung von erkennendem Gericht und Verteidigung als mitbestimmenden Faktoren im vollends erreichten Ungleichgewicht solcher Strafverfahren.
5. Noch mehr schlagen die institutionellen Änderungen im Bereich der Polizei und der Geheimdienste durch. Nicht nur wurde der aus gutem bürgerrechtlich demokratischen Grund lange umstrittene Verfassungsschutz zum rocher de bronze , zum ehernen Fels der inneren, Bürger ausspähenden Sicherheit. Vielmehr wird die ohnehin sichtbare Entwicklung des Bundesgrenzschutzes zur Nahezu-Bundespolizei fast abgeschlossen. Außerdem werden dem Bundeskriminalamt Kompetenzen eingeräumt, die es – ohne dass dem seine seitherigen Leistungen entsprächen – weiter zur schwer kontrollierbaren Superbehörde ausbauen. Schließlich kommt hinzu, den allgemeinen Kontrollabbau selbst im Rahmen der Exekutive schier vervollständigend, dass die schon herkömmlich aufgrund moderner Datenverarbeitung schwer kontrollierbare Zusammenarbeit von Intelligence Services und exekutiver Polizei weiter, jedenfalls formal, in Richtung der Gestapo installiert wird.
6. Die Umfunktionierung der Grund- und Menschenrechte zu staatlichen Eingriffsrechten, um die Bürger über und jenseits ihrer durchlöcherten Rechte zu sichern, wird, bezogen auf Ausländerinnen und Ausländer, zum Skandal. Mit den rechtlichen Änderungen, die sich in ihrer Mehrzahl an die Adresse von Ausländerinnen und Ausländern richten, wird nicht nur realistisch kommentiert, was es mit dem Bündnis für Toleranz auf sich hat, das derselbe Innenminister anführt, der nun die Sicherheitsgesetze charaktermaskig vertritt; mit dieser Zuspitzung auf die AusländerInnen wird nicht nur deutlich, was die Bundesrepublik hinfort von Einwanderern halten und wie sie diese behandeln wird. Vielmehr wird mit solchen gesetzlichen Vorgaben, die das menschenrechtsgerechte Leben von AusländerInnen ohne Not ungeheuer beschneiden, Ausländerfeindlichkeit geradezu produziert (um diese dann später bei Rechtsextremen zu bekämpfen, können dann bequem zusätzliche Gesetze stranguliert werden).
7. Innere Sicherheit, ohnehin heute wieder deutlicher als zuvor mit nach außen gerichteten Sicherheitsleistungen gekoppelt – auch das ist ein zusätzliches, mutmaßlich weiterwucherndes Erbe der einseitigen Reaktionen auf den 11. September -, hat selbstredend erhebliche Auswirkungen auf die EU. Im Zentrum weiterer EU-bezogener Aktivitäten mit kräftigem bundesdeutschen Einsatz steht der in der Fülle seiner Anlässe noch nicht abschließend behandelte Europäische Haftbefehl. Der Haftbefehl, so zitiert die FAZ vom 8.12.2001 einen ranghohen Diplomaten , ist schlechthin das Symbol für Europas Reaktion auf die Terroranschläge. Der EU-Haftbefehl, seinerseits seit längerem in der Diskussion, erhöht die exekutivischen Eingriffe, ohne dass das schwache Pflänzlein der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, symbolisch wie es verabschiedet worden ist, auch nur die geringste Rolle spielte. Als ob es in der EU nicht ohnehin an zureichendem Rechtsschutz der eigenen Bürgerinnen und Bürger mangelte, verabschieden deren Minister auch noch eine neue Terrorismus-Definition . Deren Sinn besteht – zusammen mit den weiterhin geltenden bundesdeutschen Definitionen terroristischer Vereinigungen – nicht zuletzt darin, die eigenen Bürger, wenn sie beispielsweise für die etablierte Politik nicht akzeptabel in Göteborg oder Genua demonstrieren, zur europäischen Staatsräson zu bringen.
8. Gerade in der Bundesrepublik wird der Rechtsstaat nicht zuletzt im Zusammenhang mit den neuen Gesetzespaketen hoch gehandelt. Es handelt sich jedoch um nichts anderes als einen in der Tat verbotswürdigen Falsch(münz)handel. Jede einzelne gesetzliche Änderung wie alle Änderungen insgesamt folgen nur einer Logik: die Berechenbarkeit staatlichen Handelns für die Bürgerinnen und Bürger aufzulösen, Rechtssicherheit also abzubauen und die Willkür der Exekutive bis zum Fast-geht-nicht-mehr zu dehnen. Das aber hat mit Rechtsstaat – selbst in der Form des Rechtsstaats des 2. deutschen Kaiserreiches – nichts mehr zu tun. Das ist gesetzlich dem Schein nach angestrichene, vom Parlament fahrlässig verabschiedete Ermächtigung der Exekutive, je nach Gusto zu handeln, also Willkür zu praktizieren.
Wie kommt es nur, das ist die Frage, die am Schluss wenigstens gestellt werden darf und muss, wie kommt es nur, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung, von den eingeschüchterten Ausländerinnen und Ausländern nicht zu reden, auf diesen Abbau der Sicherheit der Grund- und Menschenrechte nicht reagiert? Und dies, obwohl all diese Gesetze, wie immer man Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger bestimmen mag, nichts, aber auch gar nichts erbringen. Letzteres nachzuweisen, wäre eines eigenen Artikels wert, der im nächsten Jahr nachgeholt werden soll.
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Angesichts der Eile, mit der seit September die „Anti-Terror-Gesetze“ vorgelegt und durch das Parlament gejagt werden, sah sich auch Bürgerrechte & Polizei/CILIP gezwungen, kurzfristig die Planung zu ändern, um sich mit den Wegen und Irrwegen der Terrorismusbekämpfung zu befassen. Dokumente und Materialien hierzu finden sich auch auf unserer Homepage (www.cilip.de/terror). Das im Editorial der letzten Ausgabe angekündigte Schwerpunktthema „Überwachung von Informations- und Kommunikationstechnologien“ musste nicht aufgehoben, aber doch auf das erste Heft des Jahres 2002 aufgeschoben werden.