Alter und neuer Anti-Terrorismus – Von den Entgrenzungen ungeahnten Ausmaßes

von Norbert Pütter

Der neue staatliche Anti-Terrorismus steht in ungebrochener Kontinuität zu seinem Vorgänger aus den 70er Jahren. Die Gemeinsamkeiten in der strategischen Orientierung und im reflexhaften Ruf nach dem Ausbau staatlicher Repressionsinstrumente sind unübersehbar. Der Grad der Internationalisierung, das technische Niveau der Überwachungsstrategien und die Skrupellosigkeit gegenüber demokratisch-rechtsstaatlichen Standards machen das Besondere des neuen „Kampfes gegen den Terror“ aus.

In öffentlichen Diskussionen wird häufig der Eindruck erweckt, als habe mit den Anschlägen vom 11. September 2001 die terroristische Bedrohung eine neue Qualität erlangt, die auch eine neue Qualität staatlich-polizeilicher Antworten erforderte. Blickt man zunächst auf den engeren Komplex der polizeilich-kriminalstrategischen Aktionen, so zeigt sich hier aber keine neue Qualität, sondern die forcierte Fortsetzung eines bekannten Musters: Jeder Terrorakt wird zur willkommenen Legitimation neuer polizeilicher, strafrechtlicher und/oder geheimdienstlicher Instrumente genutzt. Die Anlässe sind beliebig. Wurde gestern der Ausbau der Dienste, die Legalisierung von Straftaten Verdeckter Ermittler etc. noch mit dem Kampf gegen den internationalen Drogenhandel begründet, so muss heute die terroristische Gefahr für alles herhalten, was auf den Wunschzetteln der Exekutive und ihrer politischen Förderer steht. Terrorismus produziert die Gelegenheiten, das politisch durchsetzen zu können, was man schon immer wollte. Dass Gefahrenpotentiale dramatisiert werden, ist eine notwendige Begleiterscheinung dieses Geschäfts.

Zum selben Muster gehört der Umstand, dass schlichte Zweck-Mittel-Betrachtungen damals wie heute keine Rolle spielen. Oder wem will es einleuchten, dass biometrische Merkmale in deutschen Pässen als Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus eingeführt werden? Die Beliebigkeit hat praktische (und absehbare) Folgen: Dass die anti-terroristisch legitimierte Erweiterung der Sicherheitsüberprüfungen von ArbeitnehmerInnen dazu genutzt wird, das Personal der Bundesagentur für Arbeit wegen deren Computerproblemen zu überprüfen,[1] steht symptomatisch für diese Art von Politik, die in immer neuen Konjunkturen ihr Heil sucht und dabei bürgerliche Freiheit immer erneut beschränkt.

Betrachtet man die favorisierten Polizeistrategien, so setzt der neue Anti-Terrorismus die in den 70er Jahren begonnene präventive Ausrichtung fort. Was in den 90ern in der Auseinandersetzung mit organisierter Kriminalität professionalisiert wurde, kehrt nun zur Terrorbekämpfung zurück. Unter präventiven Vorzeichen ist der polizeiliche Auftrag weder auf Gefahrenabwehr noch auf Strafverfolgung begrenzt. Angesichts der immensen Schäden, die heute durch Terroranschläge drohen, scheint das Standardargument aller Präventionsbefürworter mehr denn je zu überzeugen: die Polizei dürfe nicht zuwarten, bis Taten geschehen seien, sondern müsse deren Zustandekommen im Vorfeld verhindern. Die polizeiliche Präventionsphilosophie leidet grundsätzlich daran, dass sie etwas verhindern möchte, ohne dessen Ursachen zu kennen oder diese beeinflussen zu können. Auf der Ebene, auf der die Polizei „präventiv“ agieren kann, führt der Ansatz zwangsläufig zum Einsatz verdeckter Methoden, zur Überwachung suspekter Personen und zur Infiltration verdächtiger sozialer Milieus. Die Erhebung von Daten aus unterschiedlichen Quellen und deren Auswertung („Intelligence“-Arbeit) wird deshalb zum Herzstück strategischer Terrorismusbekämpfung. In Deutschland ist auf der Ebene permanenter Verrechtlichungsforderungen nur die Spitze dieser Untergrundarbeit sichtbar. Gegenüber früheren Phasen ist dank der technischen Entwicklung das Kontrollpotential der Behörden enorm angestiegen: Aus der Telefonüberwachung wurde gleichzeitig eine Netzwerk- und Bewegungskontrolle, aus der Observation eine satellitengestützte Ortung, aus den Tipps von Informanten wurden Identifizierungs- und Verdachtschöpfungspflichten ganzer Branchen („Geldwäschebekämpfung“) etc.

Neben den Zentralisierungstendenzen bei den Polizeien ist in den letzten Jahren in apparativer Hinsicht die Aufwertung der Nachrichtendienste auffällig. Neu ist, dass der Abschied vom Trennungsgebot nun offen praktiziert und die Zusammenarbeit institutionalisiert wird. Die Amtshilfe des Bundesgrenzschutzes für das Bundesamt für Verfassungsschutz in der Telefonüberwachung[2] oder der inszenierte Bombenanschlag auf die Justizvollzugsanstalt Celle (1978)[3] zeigt, dass Polizei und Dienste schon lange eine anti-terroristische Koalition bilden. Qualitativ unterscheidet sich die gegenwärtige Entwicklung eher durch die Einbeziehung des Militärs. So als wollte man die Selbststilisierungen der Terroristen als Krieger staatlicherseits bestätigen, wird der Rückgriff auf spezifisch militärische Ressourcen als eine staatliche Option unter anderen gehandelt.

Eine weitere Neuerung ist, dass Polizei, Geheimdienste und Militär einen neuen Verbündeten gefunden haben: die Sicherheitsindustrie.[4] Private Firmen verdienen nicht nur an den jüngeren anti-terroristisch legitimierten Kriegen in Afghanistan und Irak, sondern bieten ihre Waren (vor allem Überwachungstechnologien) und Dienstleistungen (vor allem Know-how und strategische Analysen) im anti-terroristischen Kampf an. Welchen Anteil schlichte Profitinteressen an der konkreten Ausprägung nationaler und internationaler Sicherheitsstrategien haben, ist unbekannt. Dass er wächst, dürfte feststehen.

Rechtsstaatliche Verwahrlosungen

Vergleicht man den deutschen Anti-Terrorismus international, dann fällt die Bilanz nur deshalb vergleichsweise günstig aus, weil etwa die Regierungen der USA und Großbritanniens eine Politik betreiben, die bürgerrechtlichen Kriterien Hohn spricht. Immerhin hat Deutschland sich nicht direkt an dem mit Vorwänden und Lügen legitimierten Krieg gegen den Irak beteiligt. Deutschland betreibt keine Gefangenenlager, in denen Menschen ohne Anklage über Jahre festgehalten und gefoltert werden; Deutschland lässt auch nicht gezielt in anderen Ländern Geständnisse durch Folter erzwingen, um diese dann in Strafverfahren verwenden zu können; und Deutschland hat bislang keine Anstalten gemacht, Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention zu suspendieren.

Es scheint aber nur eine Frage der Zeit, bis deutsche Regierungen sich diesem neuen Niveau der „freien Welt“ anschließen werden. Die Bundeswehr wird zu einer weltweit einsatzfähigen Interventionsarmee umgerüstet. Auf der Ebene der G8-Staaten und auf EU-Ebene ist die Bundesrepublik aktiv an der Entwicklung einer weltweiten Anti-Terror-Strategie beteiligt, in der Grundrechte und rechtsstaatliche Standards – Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit, Rechtsschutz – nach exekutivem Ermessen außer Kraft gesetzt werden können.[5] In naher Zukunft werden diese Pläne als internationale Vorgaben die deutsche Gesetzgebung präformieren – um solche lästigen Verwicklungen wie beim Hamburger Terrorprozess[6] zukünftig auszuschließen.

In Deutschland selbst sind Ansätze einer solchen Entwicklung bereits jetzt durchaus sichtbar. Wenn auch in einem nicht-terroristischen Zusammenhang gibt es in Deutschland eine Diskussion über die Frage, ob Folter nicht nur zulässig, sondern geradezu rechtsstaatlich geboten sein könnte. Es ist nur eine Frage der Zeit und entsprechender Fallkonstellationen, wann die deutsche „Folter-Diskussion“ fortgesetzt wird. „Eskalationsgefahr“ als neuer Haftgrund für Untersuchungshaft, von der niedersächsischen Landesregierung gefordert,[7] wäre eine deutsche Variante der britischen „Control orders“. An den Bestimmungen des „Luftsicherheitsgesetzes“ über den Abschuss von Flugzeugen[8] lässt sich unmittelbar ablesen, wie demokratisch-rechtsstaatliche Standards zu leeren Worthülsen verkommen. Die permanenten Razzien gegen moslemische Gruppen oder Gemeinden – deren strafrechtliche Erfolgsbilanz bezeichnenderweise fehlt – deuten darauf hin, dass für unterschiedliche Bevölkerungsteile auch unterschiedliche bürgerrechtliche Standards gelten.

Anti-Terrorismus als Weltpolitik

Neuer Terrorismus und Anti-Terrorismus unterscheiden sich von ihren Vorgängern durch ihre Globalität. Entführungen in Asien führen zu Gesetzesänderungen in Deutschland. Anschläge in den USA lösen in allen Industriestaaten Ängste und staatliche Reaktionen aus. Von den Selbstmordattentätern in Israel über das Giftgas in der Tokioter U-Bahn bis zu den Massengeiselnahmen in russischen Schulen oder Theatern erscheint der „Terrorismus“ als die Menschheitsgefahr des 21. Jahrhunderts.

Auffallend, aber durchaus nicht neu ist die Beliebigkeit des Begriffs „Terrorismus“ im weltweiten Maßstab. Zum einen wird unter seiner Flagge eine Synthese unterschiedlicher Bedrohungsszenarien versucht: Rauschgift-, Waffen-, Menschenhandel werden als terroristische Hilfsinstrumente stilisiert. Damit wird gleichzeitig begründet, weshalb der Kampf gegen diese bereits mit anti-terroristischem Repertoire geführt werden müsse. Zum anderen wird unter „Terrorismus“ alles das zusammengeführt, was sich mit Gewalt den Interessen der global dominierenden Staaten widersetzt. Der anti-terroristische Konsens erlaubt es, über die Ursachen politisch motivierter Gewalt großzügig hinwegzusehen. Ihm ist es gleichgültig, ob es sich um ökonomische, religiöse oder ethnische Konflikte handelt, welche Rolle der alte Kolonialismus und der neue Imperialismus spielen. Dem entspricht die Koalition der Willigen des Anti-Terrorismus: Sie reicht von saudischen Despoten bis zum deutschen Bundeskanzler, von russischen Tschetschenien-Kämpfern bis zum obersten Kriegsherrn im Weißen Haus. Wo das Gegenüber so böse und gefährlich ist, müssen die auf der anderen Seite besonders eng zusammenhalten. Nähme man Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten, Demokratie jenseits von Sonntagsreden und feierlichen Proklamationen ernst, dann würde „der Terrorismus“ als ein vielschichtiges Phänomen erscheinen, dann würde der Anteil der herrschenden Staatspolitik an der Existenz und der Attraktivität von Terrorismus und dann würde die Heuchelei im antiterroristischen Konsens deutlich werden.

Normaler Ausnahmezustand

Die Folgen des Anti-Terrorismus bleiben nicht auf die Aufrüstung der Sicherheitsapparate und die rechtlichen Entgrenzungen beschränkt. Wer ständig den „Kampf“ oder gar den „Krieg“ vorbereitet, wer den Ernstfall im weiten Vorfeld aufspüren will, der macht den Alltag zum Ausnahmezustand. Die Botschaft lautet, dass die terroristischen Gefahren potentiell überall lauern und jederzeit realisiert werden können. Da erscheint es nur konsequent, die gesamte Gesellschaft der staatlichen Überwachung zu unterwerfen: Sicherheitsüberprüfungen auszudehnen, Reisedaten auszuwerten, Bewegungsprofile und Finanzströme zu verfolgen oder die Telekommunikation lückenlos und präventiv zu überwachen. Der technische Fortschritt trägt dazu bei, dass diese Logik zu immer tieferen Eingriffen in immer weitere Lebensbereiche führt. Nicht „Bürgerrechte“ begrenzen diesen Kontrollschleier, sondern nur das, was technisch noch nicht möglich ist. Auch der neue Anti-Terrorismus sieht den „Bürger als Sicherheitsrisiko“.

Im Kampf gegen „die Terroristen“ und ihre Helfershelfer ist die anti-terroristische Politik auf die Existenz von Feindbildern angewiesen. Waren es in den 70er Jahren die Intellektuellen und langhaarigen Studenten, die als „Sympathisanten“ des Terrorismus denunziert wurden, so ist das neue Feindbild von „Ausländern“, vom Islam oder gleich von „islamistischen Ausländern“ bestimmt. Aus der Feinderklärung resultiert eine generelle Verdachtsvermutung. Ihre Folgen sind nachrichtendienstliche, ausländerrechtliche und polizeiliche Sonderbehandlungen, die bekanntermaßen dazu beitragen, dass sich die so etikettierten und behandelten Gruppen nach innen stabilisieren, statt in die Mehrheitsgesellschaft integriert zu werden. Die Feinderklärungen vergiften das gesellschaftliche Klima (zusätzlich). In der Welt der Vorurteile ist es von den einstürzenden Twin Towers bis zum Kopftuch einer türkischen Schülerin nur ein kleiner Schritt – insbesondere dann, wenn maßgebliche Teile staatsoffizieller Politik die Gefahren des „Islamismus“ hier wie dort am Werke sehen.

Die Widerstände gegen eine Politik der Feinderklärung, der Kriminalisierung und des Ausbaus staatlicher Kontrollen sind vergleichsweise gering. Die neuen Angriffskriege, die willkürlichen Verhaftungen, die Renaissance der Folter haben das diplomatische Business as usual nicht beeinträchtigt. Im Innern der Staaten bleiben die KritikerInnen auf die üblichen datenschützerisch oder bürgerrechtlich motivierten Kreise beschränkt. Dass das islamistische Feindbild als von außen kommend, als nicht zur eigenen Gesellschaft gehörend vorgestellt wird, verringert naturgemäß die Kritik in der Mehrheitsgesellschaft. Im Zeitalter der dauerhaften ökonomischen Krise und deren politisch bewusst herbeigeführter sozialer Zuspitzung („Hartz IV“) haben weite Teile der Bevölkerung zudem näherliegende Probleme als ihre digitalisierten Fingerabdrücke im Ausweis oder die Zustände in US-amerikanischen Gefangenenlagern. Wo materielle (Zukunfts-)Sorgen um Anschlagsszenarien angereichert werden, haben Bürgerrechte keine Konjunktur.

Sicher unsicher

Eine letzte Gemeinsamkeit: Während die Erfolge im „Kampf gegen den Terrorismus“ fraglich sind, sind seine bürgerrechtlichen Folgen offenkundig. Neben der terroristischen schafft er die Gefahr staatlicher Ein- und Übergriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte. BürgerInnen sind in einer solchen Konstellation nicht sicherer, sondern zusätzlich verunsichert durch die staatlichen Ermächtigungen und die rhetorische Inszenierung, mit der sie legitimiert werden.

Zu hoffen bleibt, dass der Anti-Terrorismus durch seine eigenen Widersprüche begrenzt wird. Dass die Kriege in Tschetschenien, Afghanistan, im Irak die Welt sicherer gemacht haben, wird täglich unglaubhafter. Vielleicht wächst hieraus die Bereitschaft, sich mit den Ursachen von Konflikten und alternativen Antworten auseinander zu setzen. Fraglich ist, wie lange es dauern wird, bis die Ernüchterung über die polizeilichen Kontrollstrategien zunimmt. Die aufwändigen Auswertungsverfahren, so ist zu erwarten, werden keine Erkenntnisse, sondern sehr viel Datenmüll produzieren. Mit jeder nicht verhinderten terroristischen Tat wird die Überzeugungskraft der Präventionsdoktrin abnehmen. Indem sie immer weitere gesellschaftliche Bereiche ihrer Kontrolle unterwerfen muss, produziert sie weitere Akzeptanzprobleme, die wiederum auf die Polizei insgesamt zurückwirken. Selbst für die Polizei könnten die gesellschaftlichen Kosten auf Dauer geringer sein, wenn sie sich von ihren präventiven Phantasien verabschiedete.

Norbert Pütter ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] s. Frankfurter Rundschau v. 9.4.2005
[2] § 10 Bundesgrenzschutzgesetz
[3] s. Ellersiek, C.; Becker, W.: Das Celler Loch, Hamburg 1987
[4] s. exemplarisch die Referenten aus Politik, Militär und Industrie bei einem Expertengespräch der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im April 2004, DGAP-Analyse Nr. 29
[5] s. den Beitrag von Tony Bunyan in diesem Heft.
[6] s. Waterkamp, S.: Nur die halbe Wahrheit, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 79 (3/2004), S. 51-58
[7] BR-Drs. 459/03 v. 2.7.2003
[8] Luftsicherheitsgesetz v. 14.1.2005, BGBl. I., S. 78, § 14

Bibliographische Angaben: Pütter, Norbert: Alter und neuer Anti-Terrorismus. Von den Entgrenzungen ungeahnten Ausmaßes, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 80 (1/2005), S. 6-12

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert