von Norbert Pütter
Mit Fünfjahresplänen versucht die EU, die Entwicklung hin zu einem gemeinsamen europäischen Raum von Strafverfolgung und Polizeiarbeit zu beschleunigen. Obwohl die verschiedenen Veränderungen unübersichtlicher kaum sein könnten, zeichnen sich die Umrisse einer europäischen Sicherheitsarchitektur ab.
Seit nunmehr dreizehn Jahren ist die „Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“ ein offizieller Bestandteil der EU. Der Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft trat, machte diesen Politikbereich insgesamt als Dritte Säule der Unionsaktivitäten zum Gegenstand einer intergouvernementalen Zusammenarbeit, bei der alle Entscheidungsgewalt beim Ministerrat liegt und das Europäische Parlament sowie der Europäische Gerichtshof weitgehend ausgeschaltet sind. Die Innen- und Justizpolitik war damit zwar nicht „vergemeinschaftet“, der Weg zu einer europäischen inneren Sicherheitspolitik jedoch eröffnet.
Der Vertrag von Amsterdam (Inkrafttreten 1999) erklärte die „Herstellung“ eines gemeinsamen Raumes „der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu einem Ziel der Union und wertete die polizeiliche und strafjustizielle Zusammenarbeit erheblich auf. „Amsterdam“ brachte auch insoweit eine Weiterentwicklung, als die Schengener Kooperation nun in die Unionsstrukturen integriert und einige vormals der Dritten Säule zugerechneten Regelungsbereiche (u.a. Einwanderungs- und Asylpolitik, Außengrenzkontrolle) in die Erste Säule verschoben, d.h. vergemeinschaftet wurden. Auch in der verbleibenden Dritten Säule bediente man sich fortan „flexiblerer“ Rechtsinstrumente – Beschlüsse und Rahmenbeschlüsse – und ersparte sich so die aufwändige Ratifikation von Abkommen.
Um die „zügige Verwirklichung“ des neuen Unionsziels zu bewirken, legte der Europäische Rat auf einer Sondertagung im finnischen Tampere im Oktober 1999 erstmals ein Arbeitsprogramm für die kommenden fünf Jahre vor. Diesem ersten Fünfjahresplan folgte im November 2004 ein zweiter: das „Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht“.[1] Beide Programme (in Tampere sprach man noch zurückhaltender von „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“) erstrecken sich auf die Bereiche Asyl- und Migrationspolitik, straf- und zivilrechtliche Zusammenarbeit sowie Kriminalitätsbekämpfung, zu der strafverfolgerische und rein polizeiliche Fragen gehören. Beide Beschlüsse (das Haager Programm häufiger und zeitlich enger) geben Fristen für die Realisierung einzelner Vorhaben vor. Und in beiden Dokumenten wird ein „Fortschrittsanzeiger“ (Scoreboard) gefordert, der den Stand der Umsetzung des Programms wiedergibt. Für das Haager Programm wird auch der Stand in den Mitgliedstaaten angebeben (deshalb „Scoreboard plus“).
Elemente der Unübersichtlichkeit
Um Fortschritte und Stagnation in der Polizei- und Strafverfolgungspolitik der EU verstehen zu können, sind zwei Vorbemerkungen erforderlich. Die erste bezieht sich auf die beteiligten Instanzen. Der bereits erwähnte Europäische Rat, also das Gipfeltreffen der Staats- und RegierungschefInnen der Mitgliedstaaten, hat in beiden Programmen den (Minister-)Rat und/oder die Kommission zu konkretem Handeln aufgefordert. Der Rat der Innen- und Justizminister ist das zentrale Entscheidungsgremium in Fragen der Dritten Säule. In fast allen Angelegenheiten müssen die MinisterInnen der 25 Mitgliedstaaten einstimmig beschließen, d.h. bereits ein Mitglied kann Beschlüsse verhindern. Die Kommission, die seit 1999 eine eigene „Generaldirektion für Justiz, Freiheit und Sicherheit“ hat, kann vom Rat beauftragt werden, sie kann aber auch von sich aus an ihn herantreten. Initiativen können jedoch ebenfalls von der jeweiligen Ratspräsidentschaft oder von einzelnen Mitgliedern ausgehen. Einige Fragen, die der Herstellung des „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ dienen, fallen in die Erste Säule. Ist dies der Fall, dann liegt das Initiativrecht für Rechtsakte allein bei der Kommission, das Europäische Parlament muss beteiligt werden (je nach Gegenstand kann es Beschlüsse nur verzögern oder ganz verhindern) und der Europäische Gerichtshof kann angerufen werden.
Zweitens wird der Prozess dadurch unübersichtlich, dass die Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden. Innerhalb der Union kann es sich um Fragen handeln, die auf Unionsebene entschieden werden. Dies können entweder Beschlüsse und die zu deren Umsetzung erforderlichen Maßnahmen sein. Dies können aber auch Rahmenbeschlüsse sein, die ein verbindliches Ziel vorgeben, das die Parlamente der Mitgliedstaaten in anwendbares nationales Recht umsetzen müssen. Parallel zu den beiden Programmen, aber unmittelbar mit diesen zusammenhängend, hat sich die EU spezifische Aktionspläne – namentlich den Aktionsplan zur Drogen- und zur Terrorismusbekämpfung – gegeben.[2] Darüber hinaus haben einige Mitgliedstaaten bi- und multilaterale Polizeiabkommen außerhalb der Unionsstrukturen geschlossen (Vertrag von Prüm, bilaterale Verträge zwischen Nachbarstaaten[3]), die aber faktisch die Unionszusammenarbeit vorantreiben. In den „Scoreboards“ tauchen diese Veränderungen ebenso wenig auf wie die realen Veränderungen, die sich aus anderen oder früheren Programmen entwickelten. Die Angabe des „Fortschritts“ mittels Scoreboards dient deshalb keineswegs der Transparenz und Kontrollierbarkeit, sondern allein der Bilanz bürokratisch-politischer Geschäftigkeit.
Das Haager Programm im Überblick
Im Unterschied zu Tampere folgt die Gliederung des Haager Programms der dreigeteilten Zielsetzung. Die einzelnen Vorhaben des Fünfjahres-plans sind den Zielen „Freiheit“, „Sicherheit“ und „Recht“ zugeordnet. Bemerkenswert an dieser Gliederung ist, was nach Ansicht des Europäischen Rates die „Freiheit“ in der Union stärken soll. Nahezu ausschließlich handelt dieser Komplex von der europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Und neben einigen Vorhaben zur Steuerung legaler Migration, zum Niederlassungs- und Wahlrecht und zur Integration zielen die Programmpunkte auf die Abwehr unerwünschter Migration, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf repressive Maßnahmen. Es bleibt ein Geheimnis der europäischen Staats- und Regierungschefs, inwiefern mehr „Freiheit“ erreicht werden soll etwa durch den Ausbau des Schengener Informationssystems (SIS II), dessen Verknüpfung mit anderen Datenbanken (Visa-Informationssystem – VIS, Eurodac), die Überarbeitung des Handbuchs für einheitliche Außengrenzkontrollen, gemeinsame Instruktionen für die Visa-Erteilung, Minimalstandards für Personalausweise, Maßnahmen gegen Schwarzarbeit und gegen Schleusungen, Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten … (alles Haager Programmpunkte). Das Programm verspricht „Freiheit“; realisiert wird der Ausbau der Festung Europa.
Im Juni 2005 veröffentlichten Ministerrat und Kommission ihren gemeinsamen „Aktionsplan“ zur Umsetzung des Haager Programms.[4] Dieses Dokument teilt jeden Programmpunkt in einzelne Vorhaben auf. In der Regel wird das Jahr vorgegeben, in dem das Projekt umgesetzt werden soll. Ein Beispiel: Als erstes Element zur „Stärkung der Sicherheit“ verlangt das Haager Programm die „Verbesserung des Informationsaustauschs“ zu Zwecken der Strafverfolgung: „Der bloße Umstand, dass Informationen Grenzen überschreiten, sollte nicht länger von Bedeutung sein.“[5] Auf einer knappen Seite nennt das Programm einige Elemente einer solchen Informationsinfrastruktur, die durch den Aktionsplan konkretisiert werden. Der Aktionsplan listet allein zu diesem Programmpunkt 21 Einzelmaßnahmen auf, die vom Rechtsakt über die Vorratsdatenspeicherung (Pkt. 3.1.a) bis zur Definition internationaler Leitlinien für den Umgang mit Fluggastdatensätzen (Pkt. 3.1.o) reichen.[6]
Das „Scoreboard“ für 2005[7] umfasst insgesamt 149 Einzelmaßnahmen; dabei handelt es sich nur um solche Elemente, die nach den Vorgaben des Aktionsplans nicht erst für die Jahre 2006 bis 2009 geplant waren. Unter „Sicherheit“ listet der Aktionsplan knapp 100 Einzelmaßnahmen auf, von denen 49 im Scoreboard für 2005 erwähnt werden. Darunter sind die 39 Vorhaben, die laut Aktionsplan bereits im Jahre 2005 zu erledigen waren. Dies gelang bei 25 Maßnahmen, acht Vorhaben mussten auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, bei sechs weiteren verzögerte sich die Realisierung. Was die Angabe, dass ein Vorhaben umgesetzt wurde, bedeutet, variiert von Maßnahme zu Maßnahme. Häufig besagt dies „nur“, dass die Kommission auftragsgemäß dem Rat (und gegebenenfalls dem Parlament) eine Mitteilung oder einen Vorschlag präsentiert hat. Es kann aber auch bedeuten, dass bereits ein gültiger Beschluss gefasst wurde oder neue verbindliche rechtliche Normen geschaffen wurden.
Entwicklungsfelder
Im Hinblick auf die Polizei- und Strafpolitik der Union lassen sich die in Tampere und Den Haag beschlossenen Vorhaben in vier Bereiche gliedern: die Schaffung neuer und den Ausbau bestehender Institutionen, die Herstellung eines unionsweiten Datenverbundes, die Verbesserung der polizeilich-operativen sowie der Zusammenarbeit in der Verfolgung von Straftaten. Im Hinblick auf die europäischen Institutionen sind im Kontext der Programme sechs Einrichtungen von Bedeutung:
- Das Europäische Polizeiamt existierte bereits vor Tampere. Das Haager Programm fordert nun, die Europol-Konvention bis zum 1. Januar 2008 durch ein Europäisches Gesetz (das der Verfassungsentwurf als neues Rechtsinstrument vorsah) zu ersetzen. Damit sollten die langwierigen nationalen Ratifizierungsprozeduren, die sämtliche Änderungen der Konvention durchlaufen müssen, vermieden werden. Zudem wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, alle bisherigen Zusatzprotokolle in ihr Recht umzusetzen, Europol alle „erforderlichen hochwertigen Informationen“ zur Verfügung zu stellen und eine gute Zusammenarbeit ihrer Behörden mit Europol zu fördern.[8]
- [9] Bereits der Tampere-Gipfel hatte die Einrichtung einer Stelle gefordert, die strafrechtliche Ermittlungen „in Fällen internationaler organisierter Kriminalität koordinieren und unterstützen“ sollte. Gegründet wurde Eurojust durch einen Beschluss des Rates im Jahre 2002.[10] Der Behörde gehören Staatsanwälte, Richter oder Polizisten der Mitgliedstaaten an. Ihr Zuständigkeitsbereich erstreckt sich auf alle Delikte, die in die Zuständigkeit von Europol fallen, sowie auf einige weitere Deliktsgruppen: Umweltkriminalität, Geldwäsche, Computerkriminalität, Korruption und Betrug. Zukünftig – so ist es bereits im Verfassungsentwurf vorgesehen (Art. III-175) – soll Eurojust zu einer Europäischen Staatsanwaltschaft umgewandelt werden.
- Frontex.[11] Die Europäische Grenzschutzagentur ist ein typisches Beispiel dafür, wie die EU sich außerhalb der Programme entwickelt. In Tampere war von einer solchen Einrichtung noch nicht die Rede. Man beschränkte sich darauf, eine „engere Zusammenarbeit und gegenseitige technische Unterstützung der Grenzkontrollbehörden“ zu „wünschen“.[12] Erst nachdem der damalige deutsche Innenminister Otto Schily 2001 die Idee einer gemeinsamen europäischen Grenztruppe in die Welt gesetzt hatte, begann die Entwicklung, die zu Frontex führte. Im Haager Programm begrüßt der Europäische Rat nicht nur die Einrichtung der Agentur. Er beauftragt die Kommission vielmehr, bereits 2007 eine Evaluierung ihrer Tätigkeit vorzulegen und zu der Frage Stellung zu nehmen, ob der Agentur weitere Aufgaben übertragen werden sollen; in diesem Zusammenhang „sollte auch geprüft werden, ob eine Europäische Grenzschutztruppe geschaffen werden könnte“.[13]
- Cepol. Die Einrichtung einer Europäischen Polizeiakademie wurde in Tampere beschlossen. Ende 2000 wurde sie durch Beschluss des Rates eingerichtet. 2005 wurde ihr Rechtsstatus verbessert und sie erhielt ein eigenes Budget; das administrative Zentrum von Cepol wurde ins britische Bramshill verlegt.[14] Das Ziel der Akademie besteht vor allem in der Fortbildung des polizeilichen Führungspersonals der Mitgliedstaaten und der europäischen Institutionen. Die Inhalte erstrecken sich zum einen auf die Wissensvermittlung (Polizei- und Rechtssysteme der Mitgliedstaaten, deren Beziehungen untereinander, Verfahren des internationalen Amts- und Rechtshilfeverkehrs), zum anderen auf gemeinsame Ausbildungen und gemeinsame Ausbildungsstandards. Den Kern von Cepol bildet der Verbund der europäischen polizeilichen Ausbildungseinrichtungen. Die Seminare der Akademie finden denn auch in den nationalen Ausbildungszentren statt. Daneben gibt es eine elektronische Lernplattform.
- COSI. Um die Kluft zwischen den Beratungen des Ministerrates und der Vorbereitung oder Umsetzung ihrer Beschlüsse in konkrete polizeiliche Arbeit zu verkleinern, hatten die Verträge von Maastricht und Amsterdam einen „Ausschuss hoher Beamter“ eingerichtet. Während Tampere dieses Problem vernachlässigte, nimmt das Haager Programm Bezug auf den in der Zwischenzeit vorgelegten Verfassungsentwurf, der die Einrichtung eines ständigen Sicherheitsausschusses („Standing Committee on Internal Security“, COSI) vorsah. Der Rat wird aufgefordert, „Tätigkeitsbereich, Aufgabenstellung, Zuständigkeiten und Zusammensetzung“ festzulegen, damit er „so rasch wie möglich nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrages eingesetzt werden“ kann.[15] Obgleich das Verfassungsprojekt einstweilen auf Eis gelegt werden musste, gehen die Arbeiten in diese Richtung weiter. Im „Scoreboard“ wird ein Vorschlag bis spätestens zum 1. November 2006 angekündigt; Diskussionen hätten auf dem informellen Ministertreffen im Januar 2006 begonnen und machten Fortschritte.[16] Um die Zeit bis zum Inkrafttreten der Verfassung zu überbrücken, beauftragte das Haager Programm den Rat halbjährliche Treffen zu organisieren, an denen die Vorsitzenden des Strategischen Ausschusses für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen (SAEGA) und des Ausschusses hoher Beamter für Fragen der 3. Säule (Artikel 36-Ausschuss, CATS) sowie Vertreter der Kommission, von Europol, Eurojust, Frontex, der Task Force der Polizeichefs (PCTF) und des (geheimdienstlichen) EU-Lagezentrums SITCEN teilnehmen sollten.[17] Am 13. Mai 2005 fand die erste Sitzung des namenlosen Gremiums statt, dessen Gegenstand ein Brainstorming über die eigene und die zukünftige Aufgabe von COSI war.[18] Mit dem Teilnehmerkreis wird die Säulenstruktur der EU bereits überwunden. Es ist offenkundig, dass mit COSI die Keimzelle eines europäischen Innenministeriums entsteht.
- PCTF: Die Einrichtung der „Task Force of Police Chiefs“ wurde in Tampere beschlossen. Seither kommen die Polizeichefs der Mitgliedstaaten zu halbjährlichen Treffen zusammen. In einem Bericht vom Mai 2005 attestierte die Kommission der PCTF „unzureichende Effizienz“; gleichzeitig sollte ihre Wirkung aber nicht unterschätzt werden.[19] In der zukünftigen Sicherheitsarchitektur der EU soll die PCTF auf der operativen Ebene die Verbindung zwischen COSI und den nationalen Polizeibehörden herstellen.
Polizeilicher Datenverbund und operative Polizeiarbeit
Die Herstellung eines umfassenden polizeilichen Datenverbundes ist ein zweites Entwicklungsfeld europäischer innerer Sicherheitspolitik. Der Umfang der zu speichernden Daten und das Spektrum der polizeilich verfügbaren Datenbanken sollen erheblich ausgeweitet werden. Technisch und rechtlich geht es dabei um die Realisierung des „Grundsatzes der Verfügbarkeit“. Flankiert wird dies durch die Vorgabe minimaler Datenschutzstandards, die eher den Sinn haben, die Polizeien vor massenhaftem Datenmüll zu bewahren als die Rechte der BürgerInnen zu schützen.[20]
Eine Reihe von Maßnahmen dient dazu, die „operative Zusammenarbeit“ der Polizeien und zwischen Polizei und Zoll zu verbessern. Drei Elemente sind besonders erwähnenswert:
- Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung, insbesondere an den Binnengrenzen. Im Juli 2005 legte die Kommission dem Rat einen Entwurf für einen entsprechenden Beschluss vor. Die Vorlage, durch die auch die Bestimmungen über Observation und Nacheile des Schengener Durchführungsübereinkommens erweitert werden sollen, beinhaltet ein umfangreiches Repertoire von praktischen Maßnahmen, die vom Informationsaustausch über die Vereinheitlichung der Ausrüstung bis zur Koordinierung gemeinsamer Ermittlungen reichen.[21] Noch für das laufende Jahr ist ein Entwurf über „Mindestnormen für den grenzüberschreitenden Einsatz von Ermittlungstechniken“ geplant, die die operative Zusammenarbeit der Polizeien über die Binnengrenzen hinweg verbessern sollen.
- Die Kooperation von Polizei- und Zollbehörden. Das Haager Programm fordert den Rat auf, die „Zusammenarbeit von Polizei und Zoll auf der Grundlage gemeinsamer Grundsätze (zu) intensivieren.“ Im April 2006 verabschiedete der Rat eine Empfehlung, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert wurden, entsprechende Vereinbarungen „zwischen Polizei, Zoll und anderen spezialisierten Strafverfolgungsbehörden zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität“ zu schaffen. Die nationalen Regelungen sollen u.a. folgende Punkte beinhalten: einen unbeschränkten Datenaustausch (gegebenenfalls bis zum gegenseitigen unmittelbaren Zugang zu Datenbeständen), Verfahren für gemeinsame Aktionen, gemeinsame Ermittlungsteams oder die Nutzung von Ressourcen etc., die Entsendung von Verbindungsbeamten und eine gemeinsame Ausbildung; zudem sollen die Voraussetzung für die Beteiligung an „multilateralen ständigen Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Polizei, Zoll und anderen Strafverfolgungsbehörden in den Regionen an den Binnengrenzen“ geschaffen werden.[22]
- Joint Investigation Teams und Joint Customs Operations. Bereits im Juni 2002 hatte der Rat einen Rahmenbeschluss über gemeinsame Ermittlungsgruppen gefasst.[23] Die Mitgliedstaaten sollten dessen Bestimmungen bis zum 1. Januar 2003 umsetzen. Anfang 2005 bilanzierte die Kommission, dass nur ein Mitgliedstaat diese Frist eingehalten hatte.[24] Die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses haben nur so lange Gültigkeit, bis das Europäische Rechtshilfeübereinkommen – das die selben Bestimmungen enthält – in allen Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist. In welchem Ausmaß gemeinsame Ermittlungsgruppen eingesetzt werden, ist nicht bekannt. Im Haager Scoreboard wird erwähnt, dass die Mitgliedstaaten in der Zwischenzeit „nationale Experten“ benannt haben, die bei der Einrichtung von gemeinsamen Ermittlungsgruppen helfen und als Kontaktstellen dienen sollen. Im Jahre 2005 fanden unter dem Management der Ratsarbeitsgruppe für Zollkooperation (CCWG – Customs Cooperation Working Group) zwei Joint Customs Operations gegen Rauschgifthandel und Terrorismus statt.[25] Aufgrund dieser Erfahrungen aktualisierte die CCWG ihre Anleitung für entsprechende
Strafverfolgung und mehr
Die Folgen, die die europäische Strafrechts- und Strafverfolgungspolitik auf der polizeilichen Ebene haben wird, können hier nur angedeutet werden. Die Entwicklung in einzelnen Sachfragen folgt dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung; gerichtliche Urteile, Feststellungen oder Anordnungen in einem Mitgliedstaat sollen in den Strafverfahren aller Mitgliedstaaten anerkannt bzw. verwertbar sein. Angleichungen im materiellen Strafrecht (Definition von Straftaten und Strafhöhen) sind mit dieser Strategie ebenso verknüpft wie Angleichungen im Strafprozessrecht. Da eine Harmonisierung in diesen Bereichen ungleich schwieriger ist als die Anerkennung gerichtlicher Erkenntnisse, funktioniert die europäische Strafrechtspolitik nach einem Muster, das Austauschbarkeit von Ergebnissen trotz erheblicher nationaler Unterschiede gewährleisten soll. Der Europäische Haftbefehl ist das prominenteste Beispiel für diese Art der Europäisierung, bei der die Schutzrechte der Betroffenen systematisch auf der Strecke bleiben.
Eine Reihe von Maßnahmen soll den Informationsverbund im Strafverfahren stärken. Die Kommission hat z.B. einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über die Verwertbarkeit früherer Verurteilungen in Gerichtsverfahren und ein Grünbuch über das Problem der Doppelbestrafung vorgelegt. Seit 2004 verhandelt der Ministerrat einen Rahmenbeschluss über Verfahrensrechte im Strafverfahren. In den kontroversen Beratungen des Rates sind die Mindestnormen, die die Kommission vorgeschlagen hatte, in der Zwischenzeit weiter aufgeweicht worden.[26] Bei der Ratstagung Anfang Juni 2006 verständigte man sich auf einen Kompromiss, dem zufolge nur Mindeststandards formuliert werden sollen und die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention von den Mitgliedstaaten nicht unterschritten werden dürfen.[27]
Auf der selben Sitzung haben die Innen- und JustizministerInnen auch grundsätzlich der Europäischen Beweisanordnung zugestimmt; einen entsprechenden Rahmenbeschluss hatte die Kommission bereits 2003 vorgeschlagen.[28] Keine Einigung erzielten die MinisterInnen hingegen über das Kernstück der Beweisanordnung: ein Formblatt, durch das die Strafverfolgungsbehörden eines Staates Sachen, Schriftstücke und Daten von Behörden anderer Mitgliedstaaten anfordern können und diese ohne jede weitere Prüfung erhalten. Zudem forderte der Rat im April 2006 zu prüfen, ob Telekommunikations- und elektronische Daten in den Regelungsbereich der Beweisanordnung aufgenommen werden könnten.[29]
Das Spektrum der gegenwärtigen Polizei- und Strafrechtspolitik auf der Ebene der EU ist mit den vorgestellten Elementen keineswegs erschöpft. Neben einer Reihe von deliktischen Initiativen (Drogenhandel, Geldfälschung, Kinderpornografie, Korruption) und neben Maßnahmen, die der Aus- und Fortbildung sowie dem gegenseitigen Austausch des Personals dienen, fallen vier Bereiche auf, denen die EU besondere Aufmerksamkeit zu widmen scheint: Organisierte Kriminalität, Terrorismus und mit diesen Bedrohungen korrespondierend die Bekämpfung der Geldwäsche und der Schutz kritischer Infrastruktur.
Einige Merkmale
Kennzeichnend für die Entwicklung der letzten Jahre ist zunächst der zeitliche Druck, der aufgebaut wird, um den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu verwirklichen. Die Beteiligten – Staats- und Regierungschefs, Ministerrat und Kommission – tun so, als ob ihnen die Zeit davonliefe. Enge zeitliche Fristen werden gesetzt, die die Beteiligten selbst oft nicht einhalten können. Auf der Ebene der Mitgliedstaaten sieht die Bilanz der Umsetzung dann noch schlechter aus. Die Kommission beklagt sich denn auch häufig darüber, dass sie in Fragen der Dritten Säule nicht den Europäischen Gerichtshof anrufen, sondern allenfalls die Mitgliedstaaten brieflich an die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen erinnern kann.
Als größtes Hindernis für einen weiteren Ausbau betrachtet die Kommission die Einstimmigkeitsregel im Ministerrat, durch die ein Land einen Beschluss verhindern bzw. die Verhandlungen in die Länge ziehen kann. Weil ihr dieser Aushandlungsprozess zu lange geht, bedauert es die Kommission zutiefst, dass das Verfassungsprojekt auf Eis gelegt werden musste. Der Verfassungsvertrag hätte die Säulenstruktur aufgehoben und den Gesetzgebungsprozess in der Innen- und Justizpolitik bis auf Ausnahmen dem heute in der Ersten Säule geltenden Verfahren angeglichen: Eine qualifizierte Mehrheit im Rat hätte fortan ausgereicht, das Europäische Parlament hätte mitentscheiden dürfen. Dass dies ein Gewinn sei, so die Kommission, hätten die Erfahrungen mit zwei Projekten aus der Ersten Säule gezeigt: Über die Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten und über den Grenzkodex habe man mit dem Parlament binnen weniger Monate eine Einigung erzielt.[30] Aus bürgerrechtlicher Perspektive zeigt dies aber auch, dass eine stärkere Beteiligung des Parlaments nicht zwangsläufig zu wünschenswerten Ergebnissen führt. Dass das Europa der Inneren Sicherheit nicht noch schneller und repressiver kommt, ist nicht das Verdienst des Parlaments, sondern resultiert daraus, dass der Ministerrat so lange braucht, bis die in ihm versammelten Hardliner eine gemeinsame Linie finden.
Im Hinblick auf die Inhalte erweist sich das Schicksal der Verfassung als irrelevant. Der institutionelle Ausbau der Apparate Innerer Sicherheit schreitet voran. Dabei macht es weder einen Unterschied, ob diese unterschiedlichen „Säulen“ der Union angehören, noch ob es sich um strafverfolgende, polizeiliche, nachrichtendienstliche oder Zollbehörden handelt. Es ist absehbar, dass dieser europäische Verbund die nationalen Arrangements nicht nur überwölben, sondern diese auch direkt verändern wird. Diese Veränderungen beziehen sich auf die polizeistrategische Einsatzphilosophie (Intelligence-Arbeit und Vorfeldermittlungen), die wachsende Bedeutung der Informationsarbeit – einschließlich der Verknüpfung von Datenbeständen unterschiedlicher Zwecksetzungen – sowie die Zusammenfügung unterschiedlicher Kontrollbehörden. Während die Befugnisse der Apparate europäisch erweitert werden, werden zum Rechtsschutz der BürgerInnen allenfalls „Mindeststandards“ formuliert. Mit der Reichweite und der Eingriffstiefe europäischer Regelungen wächst der bürgerrechtliche Schutz nicht, sondern er wird kleiner. Dass gegenüber dem bürokratischen Mehrebenenverbund die Parlamente keine echte Kontrollchance haben – selbst wenn sie wollten –, bedarf kaum der Erwähnung.