Lob und Tadel hatte der Bayerische Innenminister Joachim Herrmann für das Stockholmer Programm bereit, das der Europäische Rat am 11. Dezember 2009 verabschiedete: Tadel gabs für die „falschen Signale“ in Sachen Asyl und Migration. „Für mich ist klar: Deutsche und europäische Arbeitnehmer müssen auf dem Arbeitsmarkt Vorrang haben.“ Und: „auch die Tendenz zu höheren Schutz- und Verfahrensstandards für Asylbewerber geht in die völlig falsche Richtung. Wir dürfen keine zusätzlichen Anreize für illegale Zuwanderung schaffen …“. So weit, so gewohnt fremdenfeindlich.[1]
Lob erhielten die Staats- und Regierungschefs der EU, weil sie ein auf bayerischem Mist gewachsenes Projekt definitiv auf die Agenda der europäischen Innenpolitik setzten. Unter Punkt 4.2.3. des Programms heißt es: „Der Europäische Rat … ersucht die Kommission, eine Durchführbarkeitsstudie über die Notwendigkeit der Einrichtung eines Europäischen Kriminalaktennachweises (EPRIS) und dessen Zusatznutzen zu erstellen und dem Rat im Laufe des Jahres 2012 darüber Bericht zu erstatten.“[2] Herrmanns Kommentar: „Ich bin überzeugt, dass die Kommission den Nutzen eines Europäischen Kriminalaktennachweises feststellen wird.“ Das ist in der Tat zu befürchten.
Das „European Police Records Index System“ war erst im November 2009 in den Entwurf des Stockholmer Programms aufgenommen worden. Bis dahin hatten die Gremien des Rates das Thema ohne öffentliche Aufmerksamkeit und offenbar auch ohne rechte Begeisterung vor sich hergeschoben. Das Projekt eines europäischen Kriminalaktennachweises folgt dem Konzept der gleichnamigen Komponente (KAN) des bundesdeutschen polizeilichen Informationsverbunds Inpol, in der seit 1983 die Personalien von Beschuldigten und Verdächtigen „schwerer“ oder „überregional bedeutsamer Straftaten“ samt oft zweifelhafter „personengebundener Hinweise“ und der aktenführenden Dienststelle gespeichert werden. Der KAN gehört zu den am häufigsten abgefragten Datenbeständen und ist praktisch für alle polizeilichen SachbearbeiterInnen quer durch die Republik zugänglich. Anders als bei (justiziellen) Strafregistern bleiben die Daten auch bei einer Verfahrenseinstellung und bei „Freisprüchen zweiter Klasse“ erhalten. Die Speicherungsfrist beträgt in der Regel zehn Jahre. Im September 2006 waren rund 3,6 Mio. Personen erfasst.[3]
Die deutsche Delegation hatte ihren Vorschlag im April 2007 – damals unter dem Titel „Criminal records information system“ (CRIS) – in der Task Force der Polizeichefs eingebracht. Die bejahten zwar grundsätzlich den Nutzen eines Austauschs solcher Daten, „einige Delegationen“ hatten jedoch Zweifel hinsichtlich „technischen, rechtlichen, finanziellen und Datenschutzaspekten“. Nach einem Workshop in Deutschland kam das Thema im November 2007 erneut auf die Tagesordnung der Polizeichefs. Im April 2008 präsentierten Deutschland und Österreich „vorläufige Erwägungen“ für eine Durchführbarkeitsstudie.
Im Oktober 2008 übergaben die Polizeichefs das Thema an die wenige Monate zuvor vom Rat eingesetzte „Ad-hoc-Arbeitsgruppe Informationsaustausch“, die nun „so schnell als möglich“ für die notwendige Durchführbarkeitsstudie sorgen sollte.[4] Wenn eine solche Studie bei der Kommission in Auftrag gegeben wird, dann ist das in aller Regel ein Zeichen dafür, dass die politischen Vorentscheidungen zugunsten eines Projektes bereits gefallen sind und es nur noch um die Frage der technischen Machbarkeit geht. In der Ad-hoc-Gruppe gab es hier offensichtlich Bedenken: Der schwedische Vorsitz schlug der Gruppe am 9. November 2009 vor, nicht eine Durchführbarkeits-, sondern eine Vorstudie erstellen und darin zunächst „Notwendigkeit, rechtliche Anforderungen und Zusatznutzen“ prüfen zu lassen. Je nach deren Ergebnis könnte man danach „technische, finanzielle und rechtliche Lösungen“ für die Umsetzung dieser nun in EPRIS umgetauften Initiative ins Auge fassen. Das Protokoll vermerkt Einverständnis mit diesem Verfahren, aber auch Kommentare, die vor weiterer Verzögerung warnten. Die Delegationen sollten sich schriftlich bis zum 27. November äußern.[5]
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Rat bereits festgelegt und die Durchführbarkeitsstudie im Stockholmer Programm festgeschrieben. Die Ad-hoc-Gruppe ersucht die Kommission zwar dennoch um ihre Vorstudie, die bis März 2010 vorliegen soll. Nach dem Willen der deutschen Delegation soll es darin aber nicht mehr um Notwendigkeit und Nutzen, sondern nur noch um Lösungen gehen.[6] Bis zur Realisierung dieser neuen EU-Datenbank dürften zwar noch einige Jahre ins Land gehen. Die grundsätzliche Entscheidung, allen möglichen Polizeidienststellen quer durch Europa Daten über Millionen – nicht-verurteilter – Personen zugänglich zu machen, ist jedoch gefallen.
(Heiner Busch)