Das Netz als Ort des Protests – Gilt die Demonstrationsfreiheit auch im Internet?

Interview mit Hans-Peter Kartenberg

Das Internet eröffnet nicht nur Ermittlungsbehörden ungeahnte Möglichkeiten. Es ist auch Ort politischer Vernetzung und Engagements. Trendsetterfunktion in Deutschland hatte vor zehn Jahren die Onlinedemonstration gegen das Abschiebegeschäft der Lufthansa. Über die damalige Aktion sprach Martin Beck mit Hans-Peter Kartenberg von der Kampagne Libertad!

Ihr seid weder als Internetnerds bekannt noch als Flüchtlingsaktivisten. Libertad! setzt sich vielmehr für politische Gefangene weltweit ein. Gleichwohl habt ihr 2001 maßgeblich die Onlinedemonstration gegen Lufthansa gestemmt, warum?

Die Onlinedemonstration war eingebettet in die Kampagne von „kein mensch ist illegal“ gegen die „deportation.class“, wie die massenhafte Abschiebung von Flüchtlingen mit Lufthansa-Flügen damals anschaulich beschrieben wurde. Sie sollten den öffentlichen Druck auf die Lufthansa AG erhöhen und so den Konzern zur Aufgabe der Abschiebeflüge bewegen. Bereits auf der Hauptversammlung des Konzerns im Jahr 2000 hatte man das Abschiebegeschäft erfolgreich thematisiert und in Misskredit gebracht. Dies sollte 2001 wiederholt werden. Dabei kam die Idee auf, die geplanten Aktivitäten um eine Aktionsform zu ergänzen, die es hier bis dahin noch nicht gegeben hatte. Es schien uns faszinierend, eine Praxis zu entwickeln, die eingreift und gleichzeitig viele mobilisiert, die innovativ und zeitgemäß in der Wahl der Mittel ist. Am Ende beteiligten sich mehr als 13.000 Menschen am virtuellen Protest gegen das Geschäft mit Abschiebungen der Lufthansa.

Was stand hinter der Idee, den Protest ins Internet zu tragen?

Wir wollten das Internet als Protestmittel ausprobieren, auch mit der Hoffnung, dass diese Aktionsform Nachahmer findet. Allerdings ging es nicht nur darum, ein neues Protesttool einzuführen. Wir wollten auch in den damaligen Internethype intervenieren. Trotz der Dotcom-Blase vom März 2000 war überall von New Economy, E-Commerce und dergleichen, aber auch von Netzcommunity oder Virtual Civil Disobedience, also virtuellem zivilen Ungehorsam, die Rede. Alle Welt sprach von einem Paradigmenwechsel. Insofern war unser Engagement breiter angelegt. Wir wollten nicht nur eine neue Protestkultur erschließen, sondern versuchen, diesen Diskurs von links zu besetzen.

Verstehe ich das richtig, dass sich die Lufthansa AG wegen ihres E-Com­merce-Engagements für eine solche Art des Protests anbot?

Ja, die Konzernstrategie der Lufthansa war ein wichtiger Aspekt. Die Fluglinie plante damals, jedes vierte Ticket online zu verkaufen. Es gab seinerzeit einige kritische Stimmen, die „kein mensch ist illegal“ vorwarfen, mit der Lufthansa würden sie nicht den Hauptverantwortlichen für die Abschiebungen treffen. Die Airline sei doch nur Dienstleister, verantwortlich jedoch das Innenministerium. Natürlich ist da etwas dran. Aber: Mit der Lufthansa hatte man sich das im machtpolitischen Sinne schwächste Glied der Kette ausgesucht. Ohne die Fluglinie funktionieren Abschiebungen nicht, gleichzeitig hat sie kein eigenes Interesse daran – außer Geld. Also packen wir sie hier und drücken den Shareholder Value in den Keller. Das hat ja auch funktioniert. Der Aktienkurs der Lufthansa erreichte am 20. Juni 2001 den Tiefststand des Jahres. Dahinter stand die politische Überlegung und Strategie, die Flüchtigkeit des Aktienkurses anzugreifen, indem man zuerst das Image – auch als Netzkonzern – beeinträchtigt, dann hat man einen Hebel, um sein tatsächliches politisches Ziel umzusetzen.

Ihr habt die Aktion damals als Demonstration angemeldet. Wie muss ich mir das vorstellen?

Weil es etwas Neues war, hatte die Aktion im Vorfeld enorme Ängste hervorgerufen. Es gab viele falsche Vorstellungen, was überhaupt gemacht werden sollte, z.B. dass es sich um einen Hackerangriff auf die Seiten der Lufthansa handeln würde. Um dem entgegenzuarbeiten und auch die Möglichkeit zur Teilnahme zu erhöhen, haben wir von Anfang an auf Transparenz gesetzt. Deshalb haben wir, wenn auch mit einem Augenzwinkern, die Demo angemeldet. Wir haben die Behörden per E-Mail nach dem Muster informiert, wie man eine Straßenversammlung anmeldet. Danach war erst einmal Sendepause. Dann erklärte sich das Ordnungsamt Köln – in der Domstadt fand die Lufthansa-Haupt­ver­samm­lung statt – für den virtuellen Raum nicht zuständig, weil nach Artikel 8 Grundgesetz die Versammlungsfreiheit nur für Veranstaltungen unter freiem Himmel gilt, meinte aber, wir sollten es beim Polizeipräsidium Köln versuchen. Also haben wir uns auch dort gemeldet. Aber von dort haben wir gar nichts gehört. Da es nicht antwortete, sich weder für nicht zuständig erklärte, noch die Demo untersagte, noch Auflagen erließ, war die Demonstration angemeldet. Insgesamt stellte sich die Entscheidung, die Demo anzumelden, als sehr positiv heraus, unterstrich sie doch den Charakter des Onlineprotests als politische Manifestation im Internet.

Eine Anmeldung als Demonstration ist ja eher ungewöhnlich. Eure Onlinedemo war eine Form von Denial of Service (DDoS)-Attacke. Die sind in letzter Zeit ja durchaus populär geworden, denkt man z.B. an die Reaktionen auf die Sperrungen von Wikileaks-Konten bei PostFinance, MasterCard, Visa, PayPal und Amazon. Deren Webseiten wurden im Dezember vergangenen Jahres angegriffen und, bis auf die Amazon-Seite, zeitweise in die Knie gezwungen.

Das stimmt. Aber wir wollten eine transparente Aktion. Ziel war, die Flugroutenabfrage der Lufthansa zum Absturz zu bringen. Mittels einer Denial-of-Service-Aktion wollten wir das Portal der Airline blockieren, indem möglichst viele Menschen zu einer vereinbarten Zeit auf diese Seiten zugreifen. Um ein automatisiertes effektives Zugreifen auf die Webseiten der Lufthansa zu gewährleisten, haben wir eine Protestsoftware zur Verfügung gestellt. Das von uns zur Verfügung gestellte Programm sollte genau das machen, was ein User vor dem Rechner macht, nur schneller. Alles was darüber hinaus technisch möglich gewesen wäre, haben wir nicht genutzt.

Die von dir angesprochene Operation „Payback“ gegen MasterCard und andere war insofern mit unserer Aktion vergleichbar, als einzelne Leuten mit einem Programm auf ihren Rechnern die Server der Finanzdienst­leis­ter aufgerufen und dadurch in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt haben. Der Unterschied liegt auf der politischen Ebene. Die Onlinedemo war von Anfang an eingebettet in eine politische Kampagne. Nicht zufällig fand sie parallel zur Hauptversammlung der Lufthansa statt und wurde bei einer Kundgebung vor der Lufthansa-Aktionärs­ver­sammlung in Köln durch einen symbolischen Startklick eröffnet. Zwar gab es bei der Aktion wegen Wikileaks auch eine organisierende Struktur, ein Manifest und eine politische Begründung, aber das ganze Setting ist der Unterschied.

Wie hat die Lufthansa auf den Protest reagiert?

Sie haben darauf sehr ungeschickt reagiert, indem sie unsere Aktion in die Nähe des Terrorismus gerückt haben. Das war zu offensichtlich. Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit haben sie uns in die Karten gespielt.

Die Lufthansa hat Eure Protestaktion in die Nähe des Cyberterrorismus gerückt?

Ja. Ungefähr ein Jahr zuvor waren Amazon, Yahoo und Microsoft durch Botnetzangriffe lahm gelegt worden. Vor diesem Hintergrund sahen sie in unserer Onlinedemonstration einen Hackerangriff, der ihre Websites ka­puttmachen wollte. Das haben sie eins zu eins so nach außen kommuniziert. Das passte natürlich nicht zu der Art und Weise, wie wir den Protest angelegt hatten. Wir hatten die Aktion angemeldet, es gab Leute, die für die Öffentlichkeit und die Presse ansprechbar waren, die Demonstration wurde von über 250 Gruppen, darunter Gewerkschaften und NGOs wie Pro Asyl, unterstützt. Das alles entsprach so gar nicht dem Bild von sinistren Hackern oder Cyberterroristen. Die Lufthansa kam in diesem Setting als beleidigte Leberwurst rüber.

Gab es im Vorfeld Kontakte zwischen der Lufthansa und dem Bundeskriminalamt?

Die gab es auf jeden Fall. Bundesjustizministerium, BKA und Verfassungsschutz gaben in den Konzernmedien der Lufthansa quasi Rechtsberatung, wiesen auf entsprechende Paragrafen hin und ermunterten die Airline Anzeige zu erstatten, damit sie ermitteln können. Die Strafverfolgungsbehörden standen sozusagen Gewehr bei Fuß.

Wie sah die rechtliche Situation damals aus?

Mit der Aktion hatten wir juristisches Neuland betreten. Zwar waren wir der Meinung, dass es unser gutes Recht ist, im Internet zu demonstrieren, konnten uns aber auch ausrechnen, dass nicht alle der Überzeugung waren, dass der Protest durch die Versammlungsfreiheit gedeckt sei. Am ehesten wäre dann mit einer strafrechtlichen Verfolgung wegen „Nötigung“ zu rechnen, hieß es von Anwälten, die uns beraten hatten. Dies war aber auch umstritten, weil der Vorwurf der Nötigung sich nur daraus ableiten konnte, dass eine Analogie zu Urteilen bei Sitzblockaden gemacht würde – die Onlinedemonstration aber keine Verkehrsteilnehmer dadurch nötigt, dass sie um Leib und Leben fürchten müssen. Die Erstellung der Software schien strafrechtlich ebenso kaum relevant. Anders die zivilrechtliche Seite. Es schien zwar unwahrscheinlich, konnte aber nicht ganz ausgeschlossen werden, dass die Lufthansa Teilnehmende für ihren durch die Demonstration entstandenen materiellen Verlust gesamtschuldnerisch zur Verantwortung ziehen würde.

Wie seid ihr mit dieser Möglichkeit umgegangen?

Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir diese Protestform für gerechtfertigt halten, gleichzeitig aber auch nicht verschwiegen, dass man dafür gegebenenfalls haftbar gemacht werden kann. Wir haben auf das Risiko hingewiesen und gleichzeitig gesagt, wenn wir viele sind, dann wird nichts passieren. Es ist dieselbe Strategie wie z.B. bei „Dresden Nazifrei“ oder „Block G8“: Selbst wenn sie uns belangen wollen, wird bei einer massenhaften Beteiligung nichts passieren. Im Vorfeld hatten über 250 Organisationen aus den Bereichen Menschenrechtsarbeit, Asylpolitik und Gewerkschaften und hunderte Einzelpersonen unseren Aufruf „Wir machen mit“ unterschrieben, um die Breite und Legitimität der Aktion zu dokumentieren. Auch das ist eine Parallele zu „Castor? Schottern!“ oder „Dresden Nazifrei“.

Aber dennoch gab es ein Strafverfahren …

Ja, aber nicht gegen einen Protestteilnehmer, sondern gegen den Domaininhaber von libertad.de wegen Aufruf zur Nötigung. Erst im September 2001 erstattete die Lufthansa Strafanzeige, und ein Ermittlungsverfahren gegen den Betreiber der Libertad-Domain und den presserechtlich Verantwortlichen der Kampagnenzeitung deportation.class wurde eingeleitet. Einen Monat später durchsuchte die Polizei das Libertad!-Büro in Frankfurt am Main und die Privatwohnung des Libertad-Domain­inha­bers.

Wie lautete die strafrechtliche Begründung für diese Aktion?

Der Durchsuchungsbeschluss bezog sich auf den Vorwurf der Nötigung. Eingeleitet war das Ermittlungsverfahren allerdings wegen des „Verdachts auf Datenveränderung und Computersabotage“. Diese Vorwürfe wurden fallengelassen. Der Staatsanwaltschaft schien es wohl nicht realistisch, daraus eine Anklage zu konstruieren. Auch hier ist wieder eine Ähnlichkeit zum Vorgehen der Justiz im Fall von „Dresden Nazifrei“ zu erkennen. Es wird nicht versucht, gegen die einzelnen Demonstrationsteilnehmenden vorzugehen, sondern man greift sich einzelne Personen an exponierter Stelle heraus. Zu einem anderen Vorgehen ist der Justizapparat auch gar nicht in der Lage. Dort stapeln sich die Verfahren. Insofern gehen die Strafverfolgungsbehörden generalpräventiv vor. Früher hat man gesagt: Sie statuieren ein Exempel. Weil es nicht darum geht, Rechtspflege zu betreiben und dem Recht zu seiner Geltung zu verschaffen, sondern weil man Politik macht, zerrt man zum Beispiel Bodo Ramelow wegen der Blockaden gegen den Naziaufmarsch in Dresden 2010 vor den Kadi. Das verspricht größtmögliche Aufmerksamkeit und damit größtmöglichste Abschreckung. Wobei das ein Trugschluss ist, das zeigt zumindest Dresden 2011.

Kam es zu einem Prozess?

Im Juli 2005 wurde der Domaininhaber wegen Nötigung verurteilt, das Urteil allerdings im Mai 2006 durch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main wegen Verletzung geltender Gesetze kassiert und der Angeklagte freigesprochen.

Wie hat das Amtsgericht sein Urteil begründet?

In der Begründung bezog es sich auf Urteile bei Sitzblockaden. Dabei geht es vor allem um den Gewaltbegriff. Das Amtsgericht folgte damit in weiten Teilen der Argumentation der Staatsanwaltschaft und verurteilte den Angeklagten wegen „Nötigung“, das heißt sowohl „Gewaltanwendung“ wie auch „Androhung eines empfindlichen Übels“, zu einer Geldstrafe von 900 Euro. Das Amtsgericht sah allein „durch die Kraftentfaltung des Mausklicks“ bereits eine „Zwangswirkung“ auf potenzielle User der Lufthansa-Website, die zum Zeitpunkt der Protestaktion das Onlineportal der Airline hätten besuchen wollen. Gleichzeitig sprach es dem Onlineprotest nur den Charakter einer „Ansammlung“ zu, die wie eine illegale „Blockade“ des Lufthansaportals gewirkt habe. Das Urteil konnte kaum verwundern, war die Amtsrichterin doch wegen ihrer harten Verurteilungen von Irakkriegsgegnern, die 2003 die US-Rhein-Main-Airbase blockiert hatten, bekannt.

In der Sprungrevision vor dem Oberlandesgericht wurde das Urteil schließ­lich gekippt …

Ja. Das Oberlandesgericht ging ausführlich auf den ausufernden Gewaltbegriff im Urteil des Amtsgerichts ein und nahm es regelrecht auseinander. Kategorisch stellte es fest: Onlinedemos sind keine Gewalt, keine Nötigung, keine „Drohung mit einem empfindlichen Übel“, keine „Datenveränderung“; auch eine Verurteilung als Ordnungswidrigkeit käme nicht in Betracht. Eine Ohrfeige für das Amtsgericht. Das OLG stellt ausdrücklich fest, dass die Online-Demo auf die Meinungs­beein­flussung zielte. Damit wurde nach fünf Jahren unsere Auffassung bestätigt: Auch das Internet ist ein Ort für Proteste und Demonst­ra­ti­onen.

Ihr wart Trendsetter mit der Aktion, aber Nachahmer habt ihr nicht so richtig gefunden. Warum?

Da gibt es mehrere Gründe. So erfolgreich die Aktion war, so haben wir doch einige Fehler gemacht. Dem großen Misstrauen, das damals noch dem Internet entgegengebracht wurde, haben wir weder durch die von uns zur Verfügung gestellte Technik noch durch unsere Öffentlichkeitsarbeit ausreichend entgegenwirken können. Gleichwohl muss man in Rechnung stellen: Es war eine sehr populäre Aktion. Vom Feedback hätte man erwarten können, dass diese Protestform Nachahmer findet. Doch da gibt es ein paar handfeste Hindernisse. Die technische Umsetzung einer solchen Aktion ist nicht so einfach. Viele, die über das notwendige technische Know-how verfügen, sehen DDoS-Aktionen kritisch – das hat sich bis heute gehalten. Von dieser Seite und aus den damals noch vornehmlich offline-agierenden NGOs und der Linken gab es nicht genug Treibkraft, sich die notwendigen Fähigkeiten anzueignen.

Gleichwohl spielt das Internet inzwischen für politischen Protest eine große Rolle …

Ja, da hat sich in den letzten Jahren viel getan. Viele Aktivitäten sind inzwischen netzbasiert. Sie funktionieren allerdings anders. Ich will beispielsweise an die Campact-Mailingliste erinnern. Sie ist eine absolut wirkmächtige Form der Nutzung des Internets für politischen Protest. Nicht zu vergessen: YouTube. Die Bedeutung von YouTube hat man damals nicht voraussehen können. Oder die Kampagne „Kein Facebook für Nazis“, an der sich eine Million Menschen beteiligt haben. Die sozialen Netzwerke haben ganz neue Formen des Protests im Internet möglich gemacht.