Am 25. September 2015 hat das schweizerische Parlament das Nachrichtendienstgesetz verabschiedet. Exakt ein Jahr später haben die BürgerInnen des Landes die Chance, beim Referendum diese Fehlentscheidung zu korrigieren.
Die Landesregierung (der Bundesrat) und die Parlamentsmehrheit wollen aus dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB) einen wirklichen Geheimdienst machen. Er soll Telefone abhören, E-Mails mitlesen und sich an den Verbindungsdaten bedienen, die bei der Telekommunikation anfallen. Er soll fremde Computer hacken, Wohnungen durchsuchen und Wanzen und Videokameras darin installieren dürfen. Und schliesslich will man ihm erlauben, die „leitungsgebundenen Netze“ der Telekommunikation mit dem elektronischen Staubsauger zu bearbeiten; diese „Kabelaufklärung“ soll zwar nur bei „grenzüberschreitenden Signalen“ möglich sein, d.h. also wenn entweder SenderIn oder EmpfängerIn im Ausland sitzen – eine Filterung, die im Internet-Verkehr nur schwer möglich ist und die selbst grössere Geheimdienste nicht hinbringen.
Damit es der Bevölkerung angesichts des bedrohlichen Arsenals nicht angst und bange wird, verteilt der Bundesrat Beruhigungspillen: Die neuen Maßnahmen seien erstens „genehmigungspflichtig“. Konkret heißt das, dass ein einsamer Richter oder eine Richterin des Bundesverwaltungsgerichts das Ja-Wort geben muss. Kaum vorstellbar, dass er oder sie sich den Wünschen des NDB verweigert, wenn dieser eine ernsthafte Bedrohung durch Terroristen an die Wand malt.
Zweitens behauptet der Bundesrat, es gehe nur um etwa zehn Fälle pro Jahr. Für diese quantitative Zurückhaltung gibt es aber in dem Gesetz nirgendwo eine Garantie. Und drittens sollen sich die Überwachungen nicht gegen den „gewalttätigen Extremismus“ richten dürfen. Wer aber beispielsweise die Darstellungen des NDB über die kurdische PKK liest, wird schnell merken, dass die Grenzen zwischen dem, was der Dienst für „extremistisch“ und dem, was er für „terroristisch“ hält, recht fließend sind.
Langer Anlauf
Seit dem 11. September 2001 haben der Geheimdienst und seine politischen LiebhaberInnen für diese Ausweitung der Befugnisse geweibelt, die zunächst im Bundesgesetz über die Wahrung der Inneren Sicherheit (BWIS) verankert werden sollten. 2005 veröffentlichte die „Weltwoche“ einen noch internen Entwurf. Der öffentliche Aufschrei war gross, der Entwurf gescheitert. 2006 legte Justizminister Blocher einen Neuentwurf vor. 2009 scheiterte auch der – und zwar an einer „unheiligen Allianz“ von SP und Grünen mit der SVP. Nach der Vereinigung des Inlands- und des Auslandsgeheimdienstes zum NDB konnte der nun zuständige Verteidigungsminister nur eine light-Version, ohne die „besonderen“ Beschaffungsmethoden, durchsetzen.
2015 wollten sich jedoch nur noch die Grünen und ein Teil der SP-Fraktion erinnern, dass bereits der Instrumentenkasten des geltenden BWIS reichlich bestückt ist: Der NDB darf sich schon jetzt an allen möglichen öffentlichen Datensammlungen bedienen, einige sogar direkt abfragen. Öffentliche Institutionen sind ihm auskunftspflichtig. Er darf „Vorgänge“ im öffentlich zugänglichen Raum – von Demos bis zu privaten Gesprächen – bespitzeln und aufzeichnen. Er führt hauptamtliche und freischaffende Spitzel und anderes mehr.
Eine Frage des Gedächtnisses
Schon 1995, während der parlamentarischen Beratungen des BWIS, hatte eine reaktionäre Clique in der kleinen Parlamentskammer, dem Ständerat versucht, den Staatsschutz zur Telefonüberwachung und zur Verwanzung von Privaträumen zu ermächtigen. Dem Bundesrat ging das damals zu weit. Er fürchtete, dass das Gesetz als Ganzes in der Volksabstimmung scheitern könnte. Schließlich war der Fichenskandal im öffentlichen Gedächtnis durchaus noch präsent.
Zur Erinnerung: Im November 1989 hatte eine Parlamentarische Untersuchungskommission aufgedeckt, dass die Vorläuferin des NDB, die damalige Bundespolizei, 900 000 Personen und Organisation fichiert – auf Karteikarten (Fichen) und in Akten registriert – hatte.
An die Stelle der papiernen Fichen trat seit 1992 das Computersystem ISIS. Die Menge der Daten wuchs kontinuierlich. 2010 musste die Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments vermelden, dass erneut über 200 000 Personen beim NDB registriert waren.
Dieser zweite Fichenskandal hielt das Parlament jedoch nicht davon ab, den Geheimdienst mit mehr Macht auszustatten. Bleibt zu hoffen, dass die Stimmbevölkerung der Schweiz am 25. September ein besseres Gedächtnis hat.