Von Norbert Pütter
Längst vorbei oder weit entfernt von der Bundesrepublik sind die Einsätze, die die bewaffnete Staatsmacht gegen rebellierende Arme führt. „Arme“ sind heute nicht mehr diejenigen, deren Proteste in Form von „Hungerunruhen“ oder Marktprotesten durch Polizei (und Militär) niedergeschlagen werden müssen. Mit der Form der Armut, haben sich auch die Formen des polizeilichen Umgangs mit den Armen gewandelt.
Was „Armut“ ist, hängt ab vom zugrunde gelegten Armutsbegriff: absolute und relative, bekämpfte und verschämte, objektive und subjektive, Einkommens- oder Vermögensarmut … Je nach dem Verständnis von Armut verändert sich das Bild der Armen und deren Anteil an der Bevölkerung. Der gängigste – wenn auch nicht unumstrittene – Indikator ist das verfügbare Haushaltseinkommen. Wie bei allen anderen Armutsbegriffen handelt es sich hierbei um eine Übereinkunft, wie und wo die Grenze zwischen den Armen und den Nicht-Armen verlaufen soll. Der gegenwärtige Stand des Verfahrens[1] besteht darin, dass das „Nettoäquivalenzeinkommen“ von Haushalten bestimmt wird. Die „Äquivalenz“ bezieht sich dabei auf die Haushalte in gleicher Größe und Alterszusammensetzung. Wer nun weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen (= Median-)Einkommens „seiner“ Haushaltsgröße innerhalb der Gesellschaft erzielt, der gilt als arm.[2] Legt man diesen Armutsbegriff zugrunde, dann waren in Deutschland im Jahr 2015 23,4 Prozent der Bevölkerung arm. Die Quote ist in den letzten beiden Jahrzehnten gestiegen; 1995 lag sie noch bei 18,9 Prozent. Allerdings geben diese Zahlen die Einkommensverteilung ohne jene sozialstaatlichen Leistungen wieder, durch die die Armut „bekämpft“ werden soll. Durch diese sank die Quote der Armen auf 15,8 Prozent im Jahr 2015 (1995 war sie noch auf 11,6 Prozent gesunken).[3] Sozialpolitisch betrachtet ist das ein Armutszeugnis: Denn der wachsende Reichtum (das Bruttoinlandsprodukt stieg im selben Zeitraum von 1.900 auf über 3.000 Mrd. Euro) führte nicht zu weniger, sondern zu mehr Armut.
Mit den Mitteln der Sozialpolitik wird der Armut hingegen ihre Spitze genommen: Die Höhe der Grundsicherungsleistungen (ALG II, Sozialhilfe, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz) werden nicht im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen ermittelt, sondern aus den Ausgaben der ärmsten 15 bzw. 20 Prozent der Bevölkerung – abzüglich deren Ausgaben für Alkohol, Tabakwaren, Restaurantbesuche, Hotelübernachtungen etc.[4] Armut im Sozialstaat resultiert einerseits aus den bewusst niedrig gerechneten Regelsätzen der Grundsicherung. Andererseits ergibt sie sich aus der mangelnden Inanspruchnahme: Aus unterschiedlichen Gründen verzichten zwischen knapp 34 Prozent bis zu mehr als 60 Prozent darauf, jene Leistungen zu beantragen, die ihnen von Rechts wegen zustehen.[5] Materielles Elend wird auf eine vergleichsweise kleine, gesellschaftlich nicht ins Gewicht fallende Gruppe beschränkt, während die Mehrzahl der Armen auf bescheidenem Niveau in unterschiedlichen Armutsmilieus „integriert“ bleibt. Die beabsichtigte Kleinlichkeit der „Regelsatzberechnung“ für Grundsicherungsempfänger*innen[6] führt zum Leben in Armut, sie schafft die Nachfrage nach den Lebensmittel- und anderen Tafeln, und sie erhöht den Druck in der Alltagsbewältigung und nicht zuletzt den Druck, „jede“ zumutbare Arbeit (§ 10 SGB II) anzunehmen.
Man muss sich dieses zugleich pazifizierende und disziplinierende sozialstaatliche Arrangement vor Augen führen, um genauer bestimmen zu können, wo und inwiefern Armut bei uns zu einem polizeilichen Problem wird. Am Anfang steht der soziale Sachverhalt, dass fast ein Viertel der Bevölkerung arm ist. Durch Sozialstaatstransfers wird dieser Anteil auf über 15 Prozent reduziert. Diese Transfers werden nach einer individualisierenden Logik zugeteilt: individuelle Antragstellung, individuelle Prüfung von Anwartschaften oder Bedürftigkeiten, Zuweisung individuell unterschiedlicher, in der Regel befristeter Leistungen. „Armut“ zerfällt so in eine Ansammlung von Einzelschicksalen. Je mit den Nachweisen von Ansprüchen und Bedürftigkeit beschäftigt, ist Armut kollektiv nicht erfahrbar. Ohne gemeinsam erlebte Erfahrung kommt es weder zur Artikulation, noch zur Organisation gemeinsamer Interessen; Armut wird politisch neutralisiert. Durch die Hartz-Gesetzgebung sind diese Mechanismen deutlich verschärft worden: Arbeitslosigkeit wurde zum Versagen der Einzelnen umdefiniert („Responsibilisierung“), und alle Erwerbsfähigen wurden dem Regime der Jobcenter unterstellt, das sie qua Eingliederungsvereinbarung in den Arbeitsmarkt zu zwingen versucht oder sie durch teils unsinnige Maßnahmen auf Trab hält.[7] Dass die verkürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe den Weg von der Arbeitnehmer*in zur/zum Bedürftigen beschleunigte, hat sozialen Abstiegsängsten eine neue Virulenz verliehen, die neben ihrer disziplinierenden auch politisch verheerende Wirkungen entfalteten.
All dies geht ohne Polizei vonstatten. Und betrachtet man die sozialen Gruppen, die besonders von Armut betroffen sind, dann zeigt sich auch, dass diese „Armen“ durchweg kein besonderes polizeiliches Problem darstellen. 2015 waren fast 60 Prozent aller Arbeitslosen arm; fast 44 Prozent aller Alleinerziehenden und fast 32 Prozent aller Menschen, die die Hauptschule ohne Abschluss verlassen hatten, waren arm. An vierter Stelle folgten mit 27,7 Prozent Armenanteil die Menschen mit „Migrationshintergrund“.[8] Einzig bei ihnen lässt sich eine polizeiliche Relevanz als Gruppe feststellen. Arbeitslose, Alleinerziehende, Menschen ohne Schulabschluss – diese besonders von Armut Betroffenen stellen keine polizeiliche „Zielgruppe“ dar. Insofern liegt der Schluss nahe, dass die soziokulturelle Kategorie „Armut“ für die Polizei in Deutschland keine Rolle spielt, weil in einem Rechtsstaat nicht der Status, sondern die Rechtstreue darüber entscheidet, ob man polizeiliche Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Armut ein Polizeiproblem?
Armut wird sozialstaatlich entdramatisiert: Quantitativ sorgen Sozialtransfers für eine basale Absicherung nach unten, qualitativ wird Armut individualisiert und entpolitisiert. Die Armutspopulation setzt sich aus heterogenen Gruppen zusammen; Armut erscheint deshalb nicht als eine Klassenfrage, sondern als eine Frage spezifischer Gruppenzugehörigkeit. Aus sicherheitspolitischer Sicht kommen Armutslagen erst dann ins Spiel, wenn die beschriebenen Integrationsmechanismen versagen, wenn Gruppen oder Milieus sozialstaatlich nicht erreichbar sind oder sie sich mit dem gebotenen Arrangement nicht „beruhigen“ lassen. Sicherheitspolitisch geht es dann nicht mehr um Armut, sondern um bestimmte, Sicherheit und/oder Ordnung gefährdende Problemgruppen, um unerwünschte Formen der Lebensführung, um Submilieus, die sich der (wohlmeinenden) Zwangsintegration widersetzen. Armut wird nur da zum polizeilichen Problem, wo der Sozialstaat nicht greift und wo die Armen zugleich störend in Erscheinung treten.
Dabei nimmt der polizeiliche Umgang mit Armen nur selten derart brachiale Formen an, dass die Öffentlichkeit ihn zur Kenntnis nimmt. Typischerweise geschieht das in Feldern, in denen soziale bzw. sozialstaatliche Netze, die die Unerwünschten soweit „integrieren“, dass sie nicht mehr störend in Erscheinung treten, (noch) nicht vorhanden sind: Die polizeilichen Räumungen von „Obdachlosen-Lagern“ in Berlin und Frankfurt am Main galten Menschen aus Südosteuropa, die als Arbeitsuchende nach Deutschland kamen, keine Beschäftigung fanden und deshalb von sozialstaatlichen Leistungen ausgeschlossen wurden.[9]
Der öffentliche Raum ist das bevorzugte Feld, in dem sich der polizeiliche Umgang mit Armen abspielt. Gruppen im öffentlichen Raum sind nicht identisch mit den Armen. Aber der öffentliche Raum ist für arme Menschen von besonderer Bedeutung. Je schwächer soziale Gruppen sind, umso wichtiger ist für sie der öffentliche Raum. Beengte, schlechte, prekäre Wohnverhältnisse, mangelndes Geld, kommerzielle Räume der Geselligkeit (Kneipen, Restaurants, Kinos …) aufzusuchen, machen den öffentlichen Raum mehr als bei anderen sozialen Gruppen zum Lebensraum. Schließlich bieten die Innenstädte auch die Infrastruktur, die manche Gruppen zum Überleben brauchen. Dies gilt explizit für jene Drogenszenen, bei denen Drogenabhängigkeit und soziale Randständigkeit zusammenfallen; dies gilt aber auch für Bettelnde, Obdachlose und lokale Trinkerszenen. Damit sind erste Gruppen von Armen genannt, die sozialstaatlich kaum erreicht und die zugleich als Sicherheitsproblem definiert werden.
Bettelnde, Penner und Junkies
Die „Polizierung“ dieser Gruppen steht zunächst vor dem Problem, dass es sich um legale Verhaltensweisen handelt: Weder steht (seit 1974) das Betteln unter Strafe, noch ist Erwachsenen der Genuss von Alkohol in der Öffentlichkeit untersagt, das Betäubungsmittelgesetz stellt selbst den Konsum illegalisierter Drogen nicht unter Strafe (allerdings den Besitz – und Konsumieren scheint ohne vorherigen Besitz kaum möglich …). Diese Hürde, sozial unerwünschten Phänomenen mit den Mitteln des kontrollierend-strafenden Staates zu begegnen, wird seit Jahren durch Kriminalisierungsversuche zu umgehen versucht: Mit lokalen Satzungen werden bestimmte Formen des Bettelns verboten, an bestimmten Orten wird das Trinken von Alkohol untersagt etc.[10] Gleichzeitig werden die kommunalen Ordnungsämter mit exekutivem Personal ausgestattet, das diese Verbote durchsetzen soll. Damit wird der Rückzug der staatlichen Polizei aus dem öffentlichen Raum kompensiert. Der Umgang mit den Randgruppen wird kommunalen Arrangements übertragen, in denen die wachsenden Gemeindepolizeien allein oder gemeinsam mit der Polizei agieren.
Strategisch ist allen Beteiligten klar, dass die zugrundeliegenden Probleme nicht mit polizeilichen und ordnungsrechtlichen Mitteln angegangen werden können. Angelegt sind diese Konzepte deshalb darauf, die entsprechenden Personen(gruppen) von zentralen Orten zu verdrängen, im günstigsten Fall sie in Einzelnen aufzulösen, so dass sie nicht weiterhin als störend wahrgenommen werden. Die Mittel, mit denen dies geschieht, werden aus dem Repertoire des Polizeirechts genommen: Durch vermehrte Streifentätigkeit wird der Aufenthalt „ungemütlich“ gemacht. Notorische Berühmtheit erlangte die systematische Vertreibung der offenen Drogenszene in Frankfurt am Main, die unter der Bezeichnung „Junkie jogging“ bekannt wurde.[11] Auf Bahnhöfen und -geländen oder an „gefährlichen Orten“ lässt sich dies durch „anlasslose“ Identitätskontrollen verschärfen. Wo störendes Verhalten auftritt, können Platzverweise verhängt werden. Und schließlich existiert das Mittel des „Verbringungsgewahrsams“, der darin besteht, dass die Polizei Personen an den Stadtrand bringt und dort aussetzt.[12] Diese Instrumente geben einen ersten Hinweis darauf, worin die besondere Qualität des polizeilichen Umgangs mit Armen besteht: Er fußt auf einer rechtlich schwachen Basis: Verbringungsgewahrsam und Streifen beruhen auf der polizeilichen Generalklausel. Platzverweise sind zwar eher rechtlich anfechtbar, aber die verwiesenen Gruppen verfügen in der Regel nicht über die Ressourcen, Verwaltungsgerichte anzurufen.
Institutionell betrachtet zeigen sich im Feld der repressiven Kontrolle von Randgruppen deutliche Verschiebungen. Zum einen ist die (staatliche) Polizei bemüht, sich dieser „niedrigen“ Aufgaben zu entledigen. So entsteht der Raum, in dem die kommunalen Ordnungsdienste, aber auch die neuen Hilfspolizeien und – sofern es sich um die privat verfassten öffentlichen Räume handelt (Einkaufszentren, U-Bahnen) – auch private Sicherheitsdienste tätig werden. Zum anderen tritt das Ziel der „Kontrolle“ an die Stelle der „Bekämpfung“: Aufgeklärte Polizeiarbeit weiß, dass sie Drogensucht oder Obdachlosigkeit nicht bekämpfen kann (deshalb sucht man nach Partner*innen aus dem sozialen Bereich, etwa im Rahmen von „Präventionsräten“).[13] Mit ihren Mitteln kann sie allenfalls die Gruppen „kontrollieren“, d.h. sie in einen Zustand versetzen, dass sie den gesellschaftlichen Alltag der Mehrheit nicht stören. Deshalb werden die Menschen aus den zentralen Orten vertrieben oder so vereinzelt, dass sie nicht mehr wahrnehmbar und an anderen Orten (kontrolliert) toleriert werden können – bis auch dort Probleme und Beschwerden überhand nehmen.
Jugendliche Subkulturen
Auch jugendliche Subkulturen sind nicht identisch mit armen Subkulturen. Aber gerade bei jenen Milieus, die besonderes polizeiliches Interesse auf sich ziehen, spricht Vieles dafür, dass es sich eher um ärmere als um die wohlhabenden unter den Jugendlichen handelt. Mit den Wandlungen der Jugendkulturen wandelt sich auch, wer polizeilich im Fokus steht. Häufig befinden sich Jugendkulturen an der Grenze zwischen einem bestimmten Lifestyle und kriminalisiertem Verhalten. Das gilt etwa für bestimmte Fußballfans (früher „Hooligans“, heute „Ultras“), das gilt für Graffiti-Sprayer*innen oder für Jugendliche, die an öffentlichen Plätzen regelmäßig „abhängen“.
Durch die Nähe zum Kriminalisierten und durch ihr als störend (oder gefährlich) empfundenes Verhalten werden diese Gruppen zu Adressaten polizeilicher Maßnahmen. Der sicherheitsstrategische Ansatz besteht in einer Mischung aus verunsichernder Kontrolle und präventiver Repression. Anlassbezogen werden traditionelle Kontrollen genutzt: Gezielte Streifentätigkeit, „Begleitung“ von Fangruppen etc. Ein besonderes Instrument der Kontrolle ist der Einsatz „szenekundiger“ Beamt*innen (namentlich bei den Fußballfans, aber auch bei anderen Jugendgruppen), die offen als Polizist*innen auftreten, aber in Outfit, Habitus, Sprache etc. dem „Zielmilieu“ entsprechen.[14] Der Staat ist vor Ort. Und er erfährt auf diese Weise mehr als durch den uniformierten Einsatz; er hofft auf Verhaltensänderungen durch bloße Anwesenheit. Kombiniert wird dies zunehmend mit präventiven Interventionen in Form von „Gefährderansprachen“:[15] Vor einem Ereignis werden die Jugendlichen zu Hause, an Treffpunkten oder am Arbeitsplatz von Polizist*innen aufgesucht, um ihnen nahezulegen, nicht zum Fußballspiel (oder zur Demo etc.) zu gehen. Die „Gefährderansprachen“ setzen weniger auf die Einsicht der Angesprochenen darin, dass sie Ärger vermeiden, wenn sie fernbleiben, sondern sie setzen auf den sozialen Druck, der durch die Ansprache im privaten Umfeld entsteht. Allerdings gibt es (bisher) weder in den Polizeigesetzen eine ausdrückliche Befugnis für „Gefährderansprachen“, noch kennen die Gesetze eine Sanktion, die darin besteht, dass das soziale Umfeld über das Freizeitverhalten einer Person informiert wird.
Migrant*innen
„Ausländer*innen“ sind die einzige Gruppe, die einerseits überproportional arm ist und andererseits als Gruppe eine besondere polizeiliche Aufmerksamkeit erfährt. Das ist in doppelter Weise bemerkenswert: Für Nichtdeutsche besteht ein Sonderrecht, das Kriminalisierungen und damit Eingriffsbefugnisse bereitstellt: vom Erlaubnisvorbehalt der Einreise, über Beschränkungen, die aus unterschiedlichen Aufenthaltstiteln resultieren, bis hin zu Wohnsitzauflagen, Residenzpflichten, Beschäftigungsverboten und zur Pflicht, Identitätspapiere stets mit sich zu führen. Das Ausländerrecht in Deutschland ist Teil des Polizeirechts.[16] Das gilt nicht nur rechtssystematisch, sondern bestimmt auch dessen Geist: „der Ausländer“ gilt in Deutschland per se als verdächtig, weshalb er/sie besonderen Kontrollen unterworfen werden muss. Damit ist zweitens bemerkenswert, dass die staatsoffizielle Kriminalstatistik weiterhin das Phänomen der „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ ausweist – und damit so tut, als ob die Staatsangehörigkeit ein kriminalistisch relevantes Merkmal sei.[17] Nähme man die Kriminologie ernst, dann würde man die soziale Lage von Verdächtigten erfassen. Dann würde allerdings auch deutlich, in welchem Ausmaß welche Formen von Kriminalität offenkundig soziale Ursachen haben. Und dann ließe sich Kriminalität nicht weiter als von Ausländer*innen ins Land gebrachtes Phänomen darstellen. Statt eine offene Flanke für Rassismus zu bilden, könnte derart „Sicherheit“ auch einen zusätzlichen Blick auf die soziale Lage erlauben. Weil soziale Problemlagen aber vorzugsweise verdrängt, individualisiert und entpolitisiert werden, liegt es nahe, mit Migration verbundene Probleme als „Ausländerkriminalität“ zu behandeln.
Das polizeiliche Repertoire im Umgang mit Nichtdeutschen ist ein weites Feld. Seine Weite ergibt sich zum Teil aus den spezifischen Kriminalisierungen, denen nur Ausländer*innen ausgesetzt sind. Zu einem anderen Teil beschäftigt sich die Polizei überproportional mit Migrant*innen, weil verschiedene Faktoren zusammenwirken: Spezifische Formen der Desintegration befördern kriminelle Handlungen, verunsichernde Fremdheit und Rassismus führen zu erhöhter Anzeigebereitschaft, polizeiliche Konzepte und Spezialisierungen verkleinern das Dunkelfeld. So steht am Ende eine selffulfilling prophecy. Was von Anfang an in „nationalen“ Kategorien gedacht wurde, wird durch die Praxis bestätigt: Nicht die soziale Lage führe zu Kriminalitäts- oder (vermeintlichen) Sicherheitsproblemen, sondern ethnische oder kulturelle „Wesensmerkmale“ fremder Volksgruppen. Der Status als „Staats“-Fremde*r führt dazu, dass Migrant*innen selbst in jenen Bereichen, in denen sie die Opfer krimineller Handlungen sind („Schwarzarbeit“, Menschenhandel, Zwangsprostitution), durch das Ausländerrecht doppelt viktimisiert werden (Ausweisung, Abschiebung).
In dem Wechselspiel zwischen kriminellen Handlungen, kriminalisierten Sachverhalten, genereller Verdächtigung und intensivierter Verdachtsschöpfung spielen die „verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen“ eine prominente Rolle. (Wenngleich häufig zu kurz kommt, in welchem Ausmaß migrantische Milieus zunehmend sicherheitsstaatlich überwacht und infiltriert werden. Aber diese verdeckten Methoden sind weitaus schwieriger erkennbar als die Personenkontrollen im öffentlichen Raum.) Die „Schleierfahndung“ wurde als Kompensation für die Abschaffung der systematischen Kontrollen an den EU-Binnengrenzen eingeführt. Sie war deshalb von Anfang an auf Migrant*innen ausgerichtet. Zwar trifft sie systematisch alle Personen, die polizeiliche Normalitätserwartungen zu verletzen scheinen, aber der besondere Blick auf Menschen, die phänotypisch nicht dem Bild der weißen Deutschen entsprechen, wird durch die Logik der Maßnahme bereits nahegelegt.[18] Dass sie als probate Methode erscheint, diffus suspekte, weil fremd aussehende Personen zu kontrollieren, zeigen die juristischen Auseinandersetzungen um Kontrollen in Nahverkehrszügen ohne jeden Grenzbezug.[19]
Rechtssystematisch verlassen die „verdachts- und ereignisunabhängigen Personenkontrollen“ die Vorstellung, dass Bürger*innen in liberalen Gesellschaften so lange von der Staatsmacht unbehelligt bleiben, wie sie durch ihr Verhalten oder durch ein bestimmtes Ereignis nachvollziehbaren Anlass zur Kontrolle ihrer Identität geben. Einziges Kontrollkriterium bleibt der bloße Aufenthalt oder das Passieren eines bestimmten Ortes. Will das Kontrollsystem nicht zusammenbrechen, müssen Selektionskriterien entwickelt werden; naheliegend können das nur sichtbare Kriterien des äußeren Erscheinungsbildes sein. Die so Markierten können der Kontrolle nicht entgehen – es sei denn, sie mieden die entsprechenden Orte.
Deutlich wird auch hier: Polizeiliche Maßnahmen, die sich vornehmlich gegen Menschen am Rande der Gesellschaft richten, unterliegen nur schwachen, bis zur Wirkungslosigkeit verdünnten rechtlichen Vorschriften. Zugespitzt: Wo die Polizei mit Armen zu tun hat, wird der Rechtsstaat großzügig. Er nutzt die Generalklausel, um den Betroffenen lästig zu werden (gezielte Präsenz, Verdrängungen), um sie in den städtischen Peripherien auszusetzen (Verbringungsgewahrsam) oder um sozialen Druck zu erzeugen (Gefährderansprachen). Er nutzt Befugnisse, die nur schwer justiziabel sind (Platzverweise), oder er schafft neue Befugnisse, die randständige Gruppen besonderer Kontrolle unterwerfen (Schleierfahndung).
Unwissenheit und halbe Wahrheiten
Symptomatisch für das Verhältnis zwischen Polizei und Armen ist, dass es weitgehend an verlässlichen Daten fehlt. Denn entsprechende Daten werden – soweit ersichtlich – nicht nur nicht veröffentlicht, sie werden wohl auch nicht erhoben. Dabei wäre durchaus von gesellschaftlichem Interesse zu erfahren, wie häufig Identitätsüberprüfungen aus welchen Gründen stattfinden. Im Hinblick auf Armut wäre von Interesse, welchen sozialen Status die Kontrollierten haben. Das gilt für Personenkontrollen, aber auch für Gefährderansprachen, Platzverweise und Aufenthaltsverbote. Gäbe es solche Daten, ließe sich ein klareres Bild davon zeichnen, wie die Polizei mit armen Menschen umgeht. Nimmt man zum Vergleich die offizielle Zählung polizeilicher Todesschüsse, die sich bekanntlich in der Angabe bloßer Fallzahlen erschöpft,[20] dann wird klar, dass Daten zur sozialen Lage polizeilicher Klientel deshalb nicht erhoben werden, weil solches Wissen nicht interessiert. Und es interessiert nicht, weil es ein Licht darauf werfen würde, in welchem Ausmaß die Polizei mit den Folgen sozialer Marginalisierung befasst ist.
Der Blick auf die Polizei zeigt nur einen Ausschnitt des staatlich-kontrollierenden Umgangs mit den Armen. Sieht man auf das Ende des Sanktionensystems, in den Strafvollzug, dann wird das Ausmaß der Repression der Armen deutlich: Im Jahr 2018 – mit steigender Tendenz – waren 10 Prozent aller erwachsenen Strafgefangenen in Deutschland „Ersatzfreiheitsstrafler*innen“, d. h. Menschen, die so arm sind, dass sie ihre Geldstrafe nicht bezahlen können.[21] Repräsentative Daten zum (vorherigen) sozialen Status von Strafgefangenen existieren nicht. Die vorliegenden Untersuchungen zeigen aber übereinstimmend, dass die Strafgefangenen überdurchschnittlich Merkmale sozialer Randständigkeit aufweisen: ohne Schulabschluss (je nach Studien zwischen 13 und 32 Prozent) oder mit Hauptschulabschluss (zwischen 37 und 47 Prozent), keine Berufsausbildung (zwischen 49 und 61 Prozent), ALG II-Bezug (zwischen 44 und 50 Prozent).[22] Die Kontrolle der Armutsbevölkerung erschöpft sich nicht in polizeilichen Maßnahmen. Sie setzt sich in den Instanzen des Kriminaljustizsystems fort. Wer mit den sanften (und in Zeiten aktivierender Sozialpolitik: weniger sanften) Mitteln des Sozialstaates nicht aufgefangen werden kann und wer sich durch die ausgeweiteten Kontrollregime nicht zum/zur rechtschaffenen Staatsbürger*in bekehren lässt, der oder die wird aus dem alltäglichen gesellschaftlichen Verkehr entfernt.