Literatur

Zum Schwerpunkt

Das Thema Sexualität und Gender lässt sich nicht ohne weitere Herrschaftsverhältnisse betrachten. Wir verweisen daher einerseits auf unsere ausführliche Literaturbesprechung feministischer Perspektiven auf Alternativen zu Polizei im Sinne von #BlackLivesMatter in unserer letzten CILIP-Ausgabe (Nr. 125, April 2021, S. 104-108). Zum anderen widmen wir die folgende Rezensionssektion dem Thema Intersektionalität.

Gruber, Aya: The Feminist War on Crime. The Unexpected Role of Women’s Liberation in Mass Incarceration, Oakland (University of California Press), 2020, 304S., 31,30EUR

In dem Buch macht die frühere Pflichtverteidigerin und Rechtswissenschaftlerin Aya Gruber die Verstrickungen zwischen Feminismus und dem System der Masseninhaftierung in den USA deutlich.Trotz der Unterschiede zum deutschen Strafrechtssystem ist ihre Analyse für eine feministische Politik, jenseits dessen, was Elizabeth Bernstein „Carceral Feminism“ genannt hat, wichtig.

Gruber setzt Mitte des 19. Jahrhunderts,in der Zeit in der ersten Frauenbewegung, an. Zur Eindämmung männlicher Gewalt forderten Feministinnen eine Erhöhung des allgemeinen Schutzalters für Heirat (und damit Sex) von 10 oder 12 auf 16 bzw. 18 Jahre, Alkoholprohibition und Prostitutionsabschaffung. In der Praxis betraf Letzteres auch Frauen,etwa bei der Ingewahrsamnahme „gefallener“ Mädchen. Die Frauenbewegung trug zudem zu Veränderungen der Polizeiarbeit in den Städten bei, indem sie zum Beispiel Praktiken wie Beschattung und vorbeugende Inhaftierung forcierte. Zwecks Polizierens von Sexarbeit brachten Frauenorganisationen den Act 1875 auf den Weg: das erste US-Bundesgesetz zur Kontrolle und Begrenzung von Einwanderung. Todesstrafen gegen schwarze Männer wegen der (vermeintlichen) Vergewaltigung weißer Frauen legitimierten das Jim-Crow-Regime und festigten einen rape/race-Nexus, der bis heute nachwirkt: etwa wenn Trump das rassistische Bild des „vergewaltigenden Mexikaners“ für exkludierende Einwanderungspolitiken bemüht. Gruber zeigt damit, dass Strafrechtsfeminismus kein Kind allein des Neoliberalismus ist, sondern durch diesen verstärkt wurde.

Nach dieser historischen Einordnung zeichnet sie detailreich und unter gesellschaftspolitischen Einordnungen die Strafrechtspolitiken der feministischen Bewegung seit den 1970er Jahren nach. Sie problematisiert die Tendenz eines weißen Mittelschichtsfeminismus, gewalttätige Männer als zentrales Problem und unzureichende staatliche Strafen als zentrale Ungerechtigkeit anzusehen, ohne den gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Gruber dekonstruiert die strikte Täter*innen-Opfer-Trennung: Sie zeigt, dass die Bestrafung von Täter*innen auch Opfern schaden kann. So trugen etwa rechtliche Reformen im Bereich Vergewaltigung und häuslicher Gewalt zu einer Intensivierung von (staatlicher) Gewalt gegen arme Frauen of Colour bei.Bereits Beth Ritchie kritisierte im Buch„Arrested Justice“ (2012, New York University Press) das „everywomen-Argument“: die verallgemeinernde Annahme (weißer) Feminist*innen, dass zum Beispiel mandatory-arrest-Politiken bei Notrufen wegen häuslicher Gewalt allen Frauen helfe. Diese arrest-is-best-Politiken sind „Errungenschaften“ des „battered women movements“ der späten 1970er Jahre. Sie führten jedoch auch zu einer Reihe negativer Effekte: Jobverlust nach Ingewahrsamnahme und damit Einkommens- und gegebenenfalls Wohnungsverlust für die ganze Familie, Anstieg der ohnehin hohen Zahlen inhaftierter Männer, Ingewahrsamnahme beider Parteien in strittigen Fällen und insgesamt mehr inhaftierte Frauen sowie Gefährdung durch Polizeieinsätze aufgrund rassistischer Stereotype.

In einem Überblick über die Reformdebatten, zeigt Gruber, dass ein solcher Umgang mit häuslicher Gewalt keinesfalls die einzige feministische Herangehensweise war, sondern sich „legal feminists“ gegen antiautoritäre, wohlfahrtsstaatorientierte und schwarze Feminismen durch­setzten. In der US-amerikanischen Rechtslogik sind individuelle Rechte negative Rechte, die vor staatlichem Eingriff schützen, keine positiven Rechte auf staatliche Unterstützung. In den späten 1970er Jahren existierte noch ein breiter feministischer Konsens, dass Gewalt gegen Frauen auf fehlenden Rechten, aber auch ökonomischer Ungleichheit und rassistischer Diskriminierung beruht. Demgegenüber verengten mandatory-arrest-Politiken die feministische Vision drastisch.Denn weitere, auch materielle und präventiv wirkende Rechte wie Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung und Antidiskriminierunggerieten in den Hintergrund. Zugleich beschnitt diemandatory-arrest-Politik den Schutz vor staatlichen Eingriffen soweit, dass Betroffene, die sich an die Polizei wandten, Verhaftungen und Verfahren gegen gewalttätige Partner*innen nicht mehr stoppen konnten.In Notsituationen die Polizei zurufen, wurde dadurch insbesondere für Frauen in ökonomischer oder aufenthaltsrechtlicher Abhängigkeit schwerer statt leichter.

Mit solchen und weiteren, teils überraschenden Argumenten hebelt Gruber auch fest etablierte feministische Begründungen für mehr Polizei und Strafe aus. Ohne Sexismus in der Polizei zu negieren, zeigt Gruber anhand von Interviewmaterial mit Polizeibeamten aus den Jahren 1978 bis 1980, dass nicht vorrangig deren individuelle, oft sexistische Haltung das (Nicht-)Eingreifen bei Fällen häuslicher Gewalt beeinflusste, sondern die komplexe Situation, in der mancheBetroffene eine Verhaftung verhindern wollen oder unklare Tatgeschehen,die polizeilichen Retter-und-Beschützer-Selbstbilderin Frage stellen. Gruber bespricht auch die Uni-Campus-Vergewaltigungsdebatte der 2010er Jahre. Die dort propagierte Ja-heißt-Ja-Politik und Ansätze der Betroffenenparteilichkeit wurden zunehmend ins Strafrecht übertragen, wo statt College-Ausschluss Gefängnisstrafen und lebenslange sex-offender-Registrierung drohen.

Angesichts solcher Konsequenzen einer auf strafrechtliche Lösungen verengten Perspektive schlägt Gruber vor, bei der Formulierung feministischer Forderungen erstens immer die Strukturebene zu berücksichtigen. Denn sexualisierte Gewalt und eine damit verbundene „rape culture“ sind soziale Probleme und können nicht durch individualisiertes Strafrecht gelöst werden (sondern etwa durch eine sexpositive und konsensorientierte Sexualaufklärung). Zweitens regt sie an, jede rechtliche Veränderung mit einer „distributional analysis“ zu durchleuchten, also die Auswirkungen auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und abzuschätzen, wie viel Geld und Menschenleben im Strafrechtsapparat gebunden wird.Drittens lehnt Gruber jegliche Investition in Polizei, Strafjustiz oder Gefängnis ab und ist Strafrechtsreformen gegenüber grundlegend skeptisch, wenn diese nicht direkt zu insgesamt weniger Verurteilungen und weniger Gefängniszeit führen.

Auch in Deutschland sind wirkmächtige feministische Positionen stark an die politische Institution der Strafjustiz geknüpft. Aya Gruber macht deutlich, wie zentral das Verlernen von strafrechtlichen und strafenden Vorstellungen von Gerechtigkeit für intersektional aufgestellte feministische Kämpfe ist. (Nina Fraeser)

Sonstige Neuerscheinungen

Kempen, Aiko: Auf dem Rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei, München (Europa Verlag) 2021, 240 S., 20,00 EUR

Rechtsradikale Äußerungen in Chats von Polizeieinheiten, islamfeindliche Parolen an Polizeihochschulen, „Heil-Hitler-Rufe“ von Beamten des Bundeskriminalamts … die Gründe, sich „Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei“, so der Untertitel von Kempens Buch, zuzuwenden, sind vielfältig. Umso notwendiger erscheint es auch, sich den oft als „Einzelfälle“ propagierten Ereignissen systematisch zuzuwenden. Der Leipziger Journalist Aiko Kempen hat sich dies zur Aufgabe gemacht und legt eine minutiös recherchierte und detaillierte Bestandsaufnahme verschiedener Fälle rassistischer Polizeigewalt der letzten Jahrzehnte vor. Kempen beginnt mit seinen Aufführungen in den 1990er Jahren und thematisiert die systematischen und rassistischen Umgangsweisen mit sogenannten Vietnamesischen Zigarettenhändlern und verweist auf den Hamburger Polizeiskandal, bei dem bereits 1994 festgestellt wird, dass ein „scheinbar recht großes problematisches Dunkelfeld“ (S. 29) rassistischer Polizeigewalt in der (Hamburger) Polizei existiere. Kempen zeichnet damit ein Bild eines mangelnden bis nicht existenten Umgang von Innenministerien und polizeilicher Führungsebene mit diesem Thema, das sich bis heute fortsetzt.

Trotz eines kritischen und teils scharfen Tons, handelt es sich bei diesem Buch jedoch nicht um eine unreflektierte Anklage der polizeilichen und politischen Verhältnisse, vielmehr versucht sich der Autor an einem kritischen Verstehen polizeilicher Strukturen, die diesen Rassismus überhaupt ermöglichen und nicht zuletzt auch fördern. Dafür interviewt er Polizist*innen, Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und andere Exper­t*innen und stellt so einen überzeugend argumentierten Zusammenhang zwischen arbeitsrelevanten Strukturen und dem polizeilichen Handeln selbst her. Es sind dabei, so Kempen, unter anderem auch spezifische Gesetze, die das polizeiliche Handeln anleiten und rassistische Praktiken fördern. Doch auch fehlerhafte Lagebilder, als Folge einer mangelnden Analyse und Erfassung rechter Gewalt, führen dazu, dass die Gefahr von Rechts innerhalb der Polizei systematisch unterschätzt wird. Kempen zeichnet nach, wie darüber hinaus auch die polizeiliche Ausbildung und sozialen Strukturen in der Polizei zu einem Verständnis einer exklusiven „Polizeifamilie“ führen können, durch die nicht nur das Schweigen bei Fehlverhalten von Kolleg*innen begünstigen wird, sondern die auch einen Beitrag dazu leisten, fremdenfeindliche Positionen innerhalb der Polizei zu normalisieren.

Scharf kritisiert Kempen auch die Polizei-Gewerkschaften und die Politik, die immer wieder das Bild einer vermeintlich unfehlbaren und stets neutralen Polizei nach außen stärken und damit nicht nur wissenschaftliche Studien zu diesem Thema systematisch abwehren, sondern die Institution Polizei auch gegenüber Kritik im Diskurs immunisieren. Das da­durch fehlende kritische Korrektiv ist dabei nicht nur ein gesellschaftlicher Schönheitsfehler, sondern führt im Zweifel „die demokratische Gewaltenteilung ad absurdum“ (S. 17) – vor allem im Hinblick auf eine Institution, die „in einer besonderen Verantwortung“ steht und über ein „erhebliches Bedrohungspotenzial“ verfügt. (S. 14ff.)

Im Buch geht es, und das ist wichtig zu sagen, nicht darum alle Polizist*innen als Rassist*innen oder Neonazis zu bezeichnen, vielmehr sieht es Kempen als eine demokratische Pflicht an, strukturelle Bedingungen und unhinterfragte Nährböden für rechtsextremistische Strukturen in einer so zentralen gesellschaftlichen Organisation zu thematisieren. Polizei sei eben kein Selbstzweck und ihr Hinterfragen ziele nicht darauf, ihr grundsätzlich misstrauen zu wollen, „sondern um ihr im besten Fall zu vertrauen“ (S. 17). Dabei endet Kempens Analyse verhalten optimistisch, wenn er konstatiert, dass durch verschiedene politische und polizeiliche Maßnahmen sich in der Polizei in den letzten Jahren durchaus ein stärkeres Bewusstsein für diese Probleme entwickelt hat. Reichen tut dies jedoch bei weitem nicht. Auch wenn Kempen eine intersektionale Betrachtung anderer Ungleichheitsverhältnisse, wie class und body, die eng verwoben sind mit rassistischen Kategorien, ein wenig aus dem Blick verliert, ist sein Buch ist ein wertvoller Beitrag in der Debatte um rechtsextremistische Umtriebe in der Polizei und liefert einen Überblick über diejenigen Verhältnisse und Strukturen der Polizei, die diese bedingen und fördern.

Meyer, Roland: Gesichtserkennung. Vernetzte Bilder, körperlose Masken, Berlin (Verlag Wagenbach) 2021, 80 S., 10,00 EUR

Es sind nur knappe 80 Seiten, auf denen der Kunst- und Medienwissenschaftler Roland Meyer die Gesichtserkennung in ihrer Janusköpfigkeit als verbreitete alltagserleichternde Technologie einerseits und als mächtiges Instrument der Überwachung andererseits analysiert. Doch so schmal und klein wie das Buch ist, so gehaltvoll ist es auch. Meyer zeichnet überzeugend nach, wie gesellschaftlich und historisch verwoben die vermeintlich objektive und neutrale Technologie ist und wie nicht zuletzt dadurch Ungleichheitsverhältnisse sowie rassistische, klassistische und sexistische Diskriminierungen reproduziert und verschärft werden. Meyer argumentiert, dass diese tief eingeschriebenen Diskriminierungen auf historischen Vorläufern der Technologie basieren. So zeigt sich dabei unter anderem, welchen Einfluss die physiognomischen Studien des Eugenikers und Rassisten Cesare Lombroso noch heute auf den algorithmic biasder Technologie haben. Meyers Blick in die Geschichte der Technologie dient ihm dabei vor allem auch zur Schärfung einer kritischen Betrachtungsweise der Gesichtserkennung in der Gegenwart. Dabei sind es nicht zuletzt auch die alltäglichen Umgangsweisen mit der Technologie, durch bspw. spielerische Apps wie FaceApp, Reface oder FaceSwapping, durch die sich die Technik der Gesichtserkennung nahezu unmerklich in den Alltag der Einzelnen schleicht, dadurch Informationssammlungen ermöglicht und die zugleich dazu dienen, die Technologie weiter zu entwickeln.

Meyers Buch ist ein kurzweiliger kulturanalytischer Abriss der Gesichtserkennung als Alltagstechnologie, der aufgrund seiner analytischen Klarheit und seines wissenschaftlichen Duktus sehr gut zu lesen ist. Der kleine Band bildet eine wissenschaftlich fundierte Übersicht über die Entwicklung einer Technologie, die nicht nur inhärent diskriminierend ist, sondern auch weit fehlerhafter, als dies nach außen dargestellt wird. Und so wundert es nicht, dass Meyers Buch mit einem Appell für eine kritische Aufmerksamkeit für die Gefahren und Risiken, der mittlerweile so tief im Alltag verankerten Gesichtserkennung, endet. (beide: Stephanie Schmidt)

Gössner, Rolf: Datenkraken im Öffentlichen Dienst. „Laudatio“ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat, Köln (PapyRossa Verlag) 2021, 366 S., 19,90 EUR

Dieses neue Buch von Rolf Gössner leistet dreierlei: Es präsentiert ein Stück Zeitgeschichte, indem es die Lobesreden zur Verleihung des „Big Brother Awards“ in den letzten 20 Jahren dokumentiert; es liefert eine (Zwischen-)Bilanz der Entwicklung hin zu einem „präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat“; und es stellt eine aktuelle Einmischung in die Debatte über „innere Sicherheit“ dar, indem nicht nur der Fortgang jener preisgekrönten Eingriffe bis in die Gegenwart fortschrieben, sondern auch die Anti-Corona-Maßnahmen in den Kontext repressiver Staatstätigkeit gestellt werden.

Der Anlass des Bandes war das 20-jährige Jubiläum der „Big Brother Awards“, durch die herausragende Eingriffe in die Bürgerrechte öffentlichkeitswirksam an den Pranger des Preises gestellt werden. Rolf Gössner war ununterbrochen der Laudator für die Auszeichnungen in der Kategorie „öffentliche Verwaltung“. Diese Reden aus 20 Jahren sind im umfangreichen ersten Teil des Buches (S. 30-273) chronologisch rückwärts versammelt: beginnend mit der Auszeichnung der Bundesregierung für ihre Mitverantwortung am US-Drohnenkrieg 2020 und endend im Jahr 2000 als der Berliner Innensenator Werthebach wegen seines Einsatzes für die Ausweitung der polizeilichen Telekommunikationsüberwachung ausgezeichnet wurde.

Die Preisgekrönten lesen sich wie ein Who-is-Who der deutschen Innenpolitik: vier Innenminister des Bundes (einzig Horst Seehofer fehlt!), vier Innenminister der Länder sowie die Innenministerkonferenz und die der EU-Innenminister*innen; Verfassungsschutz. Bundesnachrichtendienst, Bundespolizei, Bundeskriminalamt, Bundeswehr … Dem Preis entsprechend liegt der Fokus der Würdigungen auf den Ausweitungen in Befugnissen und Instrumenten der Überwachungen durch den Staat. Diese als bloße Probleme des Datenschutzes zu diskutieren, davon ist der Laudator Gössner weit entfernt.

Die Gründe für Auszeichnungen geben in der Summe einen Eindruck vom staatlichen Zugriff auf die ansonsten so gelobte Zivilgesellschaft. Zwei Beispiele zur Illustration: Im Jahr 2002 wird das Bundeskriminalamt wegen der Einrichtung von „Gewalttäterdateien“ in den Bereichen links-, rechts- oder „politisch motivierter Ausländerkriminalität“ ausgezeichnet. Laudator Gössner verweist auf die Datei „Gewalttäter Sport“, die die Blaupause für die damals neuen Dateien darstellte. Gemeinsam ist ihnen – und das ist ihr „preiswürdiges“ Merkmal –, dass sie entgegen ihrer Bezeichnung keineswegs auf die Erfassung gerichtlich überführter Gewalttäter*innen beschränkt sind, sondern auch Personen, die polizeiauffällig geworden sind und von denen zu befürchten ist, dass Straftaten (von erheblicher Bedeutung = ein rechtlich unbestimmter Begriff) begehen könnten. Auch deren Kontakt- und Begleitpersonen können gespeichert werden. Hier ist der präventive Überwachungsstaat greifbar.

2013 wurde die Bundespolizei  für die Praxis „diskriminierender und rassistischer Identitätsfeststellungen und körperlicher Untersuchungen“ ausgezeichnet. „Racial profiling“ ist ein bis heute aktuelles Beispiel für eine selektive Kontrollpraxis, die nicht auf diskriminierenden Überzeugungen der Kontrollierenden zurückzuführen ist, sondern auf die Logik eines Instruments, das der Gesetzgeber bewusst installiert hat. Die „Updates“ zeigen, dass weder die Rechtfertigung der Bundesregierung, es müssten „verdichtete Erkenntnisse hinzukommen“, damit eine Kontrolle gerechtfertigt sei, noch die Gerichtsurteile, die die Kontrollen als rechtswidrig bewerteten, die Praxis ändern konnten. In beiden Beispielen – Gefährderdateien und Schleierfahndung – wird deutlich, dass die (bürger)rechtlichen Kosten, die Überwachung und Einschränkungen von Handlungsfreiheiten unmittelbar bei denen anfallen, die vorab zu Verdächtigen erklärt worden sind.

Im wesentlich kürzeren zweiten Teil versucht der Autor, „eine kritische Bilanz darüber zu ziehen, was sich wie und mit welchen Auswirkungen verändert hat, wo wir stehen und wohin die Reise geht“ (S. 22). Gössners dystopische Prognose kommt in der Formulierung vom „präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat“ zum Ausdruck. Zu ihm führe „der kurzsichtige, berechnende, letztlich hilflose Schrei nach dem starken autoritären Staat“ (S. 23). Sicher lassen sich die ausgezeichneten Entwicklungen als Jahresringe hin zu einem solchen Gebilde interpretieren. Entgegen seiner Ankündigung kommt die entsprechende Bilanzierung im zweiten Teil leider zu kurz. Zu sehr werden hier zunächst weitere Etappen dargestellt (1 Preis pro Jahr reicht eben keineswegs!) und die Kontexte der Entwicklungen werden eher benannt als ausgeführt: „Angstpolitik“ (S. 283), „Symbolpolitik“ (S. 296), „Aktionismus“ und „reine Symptombehandlung“ (S. 305) sind die Stichworte; die Auflistung der Ursachen reicht von der fehlender „Evaluierung“ (S. 321) über Vorkehrungen für „Kollateralschäden an der Heimatfront“ (S. 309) bis zum „destruktiven Marktradikalismus“ (S. 334).

Das Buch ist ein Zeugnis des jahrzehntelangen bürgerrechtlichen Engagements von Rolf Gössner. Das ist zweifach bemerkenswert: Über einen so langen Zeitraum der Inneren Sicherheit mit der bürgerrechtlichen Lupe auf der Spur zu bleiben, ist eine außergewöhnliche Leistung. Und die Lektüre zeigt einen Bürgerrechtler, dessen Positionen weit entfernt sind von dem „Verfassungsfeind“, zu dem der amtliche „Verfassungsschutz“ ihn über Jahrzehnte (und rechtwidrig) machen wollte. Denn der „Paradigmenwechsel“ (S. 335), den er fordert, ist nicht Gegenteil, sondern zwingende Folge einer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“. (Norbert Pütter)

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