von Jane Kilpatrick
Seit 2004 wurden die Ressourcen und das Mandat der EU-Grenzagentur durch vier aufeinanderfolgende Verordnungen jeweils beträchtlich erweitert. Aber es folgten keine angemessenen Mechanismen, um diese mit rechtlicher oder politischer Rechenschaftspflicht auszugleichen.
Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten wurde im Mai 2005 gegründet.[1] 17 Jahre später wurden Aufgabenbereich, Befugnisse und Finanzen von Frontex – oder der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (EBCG), wie sie inzwischen umbenannt wurde – mehrfach ausgeweitet, sie verfügt nun über den größten Haushalt aller EU-Agenturen. Die jüngste Verordnung von 2019 wurde vom EU-Parlament in einem Rekordzeitraum von sechs Monaten verabschiedet, obwohl Frontex etwa beschuldigt wird, in Pushbacks an den See- und Landgrenzen verwickelt zu sein.[2] Im Jahr 2020, unter neuem Mandat, wurde dies durch eine gemeinsame Recherche von Bellingcat, Lighthouse Reports, Spiegel, ARD und TV Asahi bestätigt.[3] Plötzlich schienen Strukturen für die Rechenschaftspflicht zu entstehen, aber bis heute ist unklar, ob sie Frontex wirklich dazu verpflichten, sinnvolle Änderungen vorzunehmen.
Zu diesen neuen Strukturen gehören eine interne „Arbeitsgruppe für Grundrechte und rechtliche und operative Aspekte”,[4] die weit von einer von Menschenrechtsorganisationen geforderten unabhängigen Untersuchung entfernt ist und weder das Grundrechtsbüro noch das Konsultativforum bei Frontex einbezieht;[5] außerdem institutionelle Untersuchungen der EU (einschließlich der Frontex Scrutiny Working Group (FSWG) des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des EU-Parlaments, einer Untersuchung des Frontex-Managements durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), eines Berichts des EU-Rechnungshofs über die Wirksamkeit der Frontex-Unterstützung[6] und Untersuchungen der Europäischen Bürgerbeauftragten[7]) sowie internationale Aufmerksamkeit. Mit Blick auf den breiteren Migrationskontext hat der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migrant*innen einen Bericht über die Praxis der Pushbacks erstellt, woraufhin er sich im Januar mit dem Grundrechtsbeauftragten von Frontex traf, um die Beteiligung an Pushbacks „und anderen Verletzungen der Rechte von Migranten” zu erörtern.[8]
Das, was einst zu Frontex werden sollte, wurde ursprünglich 2001 von einigen Mitgliedstaaten als „Europäische Grenzpolizei“ angedacht,[9] als Instrument der Solidarität für die Kontrolle der EU-Außengrenzen, die sich infolge des Beitritts einer Reihe von Staaten erweitert hatten. Italien, Belgien, Frankreich, Deutschland und Spanien führten dazu eine Machbarkeitsstudie durch, während andere Mitgliedstaaten, darunter Großbritannien, zögerten. Im Dezember 2001 wurde ein Kompromiss formuliert, der die Ausarbeitung von Kooperationsvereinbarungen ermöglichte und in dem die Begriffe „Europäische Grenzpolizei“ oder „Europäischer Grenzschutz“ nicht erwähnt wurden. Die 2004 vorgeschlagene Verordnung sah stattdessen die Einrichtung einer Logistikagentur vor, die die „operative Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten koordiniert”, bei Grenzkontrollen und Schulungen hilft, die Organisation gemeinsamer Operationen unterstützt und Risikoanalysen und Forschungsarbeiten zur Grenzkontrolle und -überwachung entwickelt.[10]
Durch Änderungen der Verordnung im Jahr 2011[11] konnte Frontex die Fähigkeit der Mitgliedstaaten analysieren, „Bedrohungen und Belastungen an den Außengrenzen” begegnen und bei „unverhältnismäßigem Druck” Teams für den Einsatz bilden und Rückführungsaktionen unterstützen. Die Rolle bei der Überwachung und dem Informationsaustausch wurde ebenfalls ausgeweitet, und es wurden Datenschutzklauseln eingeführt. Hinsichtlich der Menschenrechte wurde die Agentur verpflichtet zu berücksichtigen, „dass es sich in einigen Situationen um humanitäre Notfälle und Seenotrettung handeln kann”, außerdem wurde die Pflicht zur Nichtzurückweisung und die Entwicklung einer Grundrechtsstrategie herausgestellt.
Nach der Ankunft vieler Geflüchteter in Europa im Jahr 2015 wurden mehrere Maßnahmen zur Stärkung des EU-Grenzsicherungsrahmens durchgewunken und Frontex im Oktober 2016 in die eingangs beschriebene EBCG umbenannt.[12] Mit der Verordnung von 2016 wurde die Agentur als unabhängige Akteurin in den Bereichen Operationen, Einsatz, Überwachung und Forschung erheblich gestärkt. Frontex sollte auch Fähigkeiten für die Speicherung und den Austausch von Informationen aufbauen und bei der Entwicklung von EUROSUR, dem EU-Grenzüberwachungssystem, mitwirken. Ursprünglich als Mittel zur Rettung von Menschenleben auf See angepriesen, werden die dort eingespeisten Daten unter anderem für Risikoanalysen verwendet. Zu den Aufgaben von Frontex gehört es nun, durch die Überwachung von Migrationsströmen, Risikoanalysen und Schwachstellenbewertungen der Mitgliedstaaten zur Entscheidungsfindung beizutragen sowie an der Entwicklung und Verwaltung von Forschungs- und Pilotprojekten in den Bereichen Grenzkontrolle, Überwachung und Technologie teilzunehmen.[13] Frontex organisiert und koordiniert „Gemeinsame Operationen“ und „Schnelle Grenzinterventionen“ und setzt technische Ausrüstung und EBCG-Teams ein, insbesondere zur Unterstützung bei der Überprüfung, Befragung, Identifizierung und Abnahme von Fingerabdrücken von Personen, die an den „Hotspots“ der EU ankommen. Mit dieser 2016er Verordnung wurden Abschiebungen als eine der Hauptaufgaben von Frontex konsolidiert. Die Agentur ist seitdem zuständig für die Koordinierung und Organisation „Gemeinsamer Rückführungsaktionen“, die Einrichtung von Pools von Rückführungsbeobachter*innen, -begleiter*innen und -spezialist*innen sowie für den Einsatz von Rückführungseinsatzteams (und deren Einsatz in den Mitgliedstaaten).[14]
Mit der Verordnung von 2019 wurde die Abschiebebesessenheit der EU vertieft, indem die Aufgaben auf Rückführungsmaßnahmen ausgeweitet wurden.[15] Die operative Schlagkraft der Agentur wurde erheblich gestärkt, indem sie nunmehr mit der Einleitung und Unterstützung von Maßnahmen in allen Phasen des Rückführungsprozesses beauftragt ist – lediglich abgesehen von der souveränen Rückführungsentscheidung selbst. Meistens werden die Einsätze auf Ersuchen eines Mitgliedstaates eingeleitet, aber Frontex kann den Mitgliedstaaten nun auch Einsätze auf der Grundlage ihrer Risikoanalysen vorschlagen. Wenn die Regierungen das Angebot ablehnen, müssen sie dies begründen; wenn „dringende Maßnahmen” für notwendig erachtet werden, kann der Rat der EU einen Beschluss fassen, der einen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, einen Einsatz zu akzeptieren.
Was die Rechenschaftsmechanismen für Beamt*innen bei Rückführungsaktionen angeht, so verwaltet Frontex selbst einen Pool von Grundrechtsbeobachter*innen, von denen einige aus dem eigenen Grundrechtsbüro stammen. In ihrer Schlussfolgerung zu einer Untersuchung bekräftigte die Bürgerbeauftragte kürzlich, dass diese aber nicht für die Berichterstattung über das Verhalten der Frontex-Begleiter*innen verantwortlich sein sollten, sondern dass es sich dabei um eine unabhängige Überwachung handeln muss.[16] Die Rolle von Frontex bei der zwangsweisen Abschiebung von Tausenden von Menschen jährlich nimmt zu, mit dem Ziel, jährlich 50.000 Menschen abzuschieben, sowohl mit Charter- als auch mit Linienflügen, und mit einer zunehmenden Beteiligung an sogenannten freiwilligen Rückführungen ab 2020.
Die größte Veränderung mit der Verordnung 2019 ist wohl die Schaffung einer 10.000 Beamt*innen starken „Ständigen Reserve“. Parallel zu diesem Grenzschutzkorps wurde ein technischer Ausrüstungspool eingerichtet, so dass Frontex nun selbst Ausrüstung kaufen und leasen kann. Darüber hinaus hat sie nun das ausdrückliche Mandat, mit Nicht-EU-Staaten überall auf der Welt operativ zusammenzuarbeiten. Bedingung ist eine Statusvereinbarung, die im Rahmen der Verordnung von 2016 ermöglicht wurden[17] und die Frontex bereits mit fünf Westbalkanstaaten abgeschlossen hat. In mehreren Missionen in Albanien, Montenegro und Nordmazedonien wurden diese Abkommen bereits umgesetzt. In den Einsatzländern außerhalb der EU genießen Frontex-Bedienstete straf-, zivil- und verwaltungsrechtliche Immunität für Handlungen, die sie im Rahmen von Operationen begehen.[18] Ob ein solcher Fall vorliegt, entscheidet allein der Exekutivdirektor.
Theoretisch wurde die Einhaltung der Grundrechte durch Frontex mit der Verordnung von 2019 entsprechend gestärkt, und die Wirkungsmöglichkeiten der Agentur wurden erweitert. Bis Dezember 2020 hätten 40 Grundrechtsbeobachter*innen eingestellt werden sollen. Stattdessen räumte der Exekutivdirektor Fabrice Leggeri Plänen zur Erweiterung seines eigenen Kabinetts auf 63 Mitglieder Priorität ein, bis Ende 2021 wurden deshalb nur 20 Beobachter*innen eingestellt.
Die Verordnung von 2019 enthält außerdem eine Grundrechtsstrategie und einen Aktionsplan, ein Verfahren zur Meldung schwerwiegender Zwischenfälle, einen gestärkten Beschwerdemechanismus und einen Überwachungsmechanismus für die Anwendung von Gewalt. Frontex soll auch die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte bei Tätigkeiten an den Außengrenzen und bei der Rückkehr überwachen und mit der EU-Grundrechteagentur zusammenarbeiten, um eine kontinuierliche und einheitliche Anwendung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Bereich der Grundrechte zu gewährleisten. Zudem bestimmt die 2019er-Verordnung hohe Standards für die Transparenz und die öffentliche Kontrolle der Grenzverwaltung, und – vielleicht etwas voreilig – Frontex wurde damit beauftragt, nationale Grenzschutzbeamt*innen in EU- und Nicht-EU-Staaten in Bezug auf die Grundrechte zu schulen.
Schutzmaßnahmen auf dem Papier sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie in der Praxis auch durchgesetzt werden. Wie die Bürgerbeauftragte im Januar 2022 feststellte, ist das Sorgfaltspflicht-Verfahren nur dann ein geeignetes Präventiv-Instrument, wenn es vom Exekutivdirektor bei seiner Entscheidung, eine Operation auszusetzen, zu beenden oder nicht zu starten, berücksichtigt wird – was zum Beispiel bei der Entscheidung über den Soforteinsatz 2020 in Griechenland nicht der Fall gewesen zu sein scheint.[19] Das Verfahren sieht nicht vor, dass nationale Menschenrechtsgremien (wie nationale Ombudsleute) berücksichtigt werden, geschweige denn unabhängige Nichtregierungsorganisationen.[20]
Der Beschwerdemechanismus wurde seit seiner Einführung verbessert. 2019 wurden die Zulässigkeitsanforderungen erweitert, und es ist nun möglich, dass jede Partei, die eine betroffene Person vertritt, eine Beschwerde einreichen kann. Frontex wird außerdem verpflichtet, ein leicht zugängliches Beschwerdeverfahren anzubieten. Trotzdem kann das Verfahren immer noch nicht als wirklich unabhängig angesehen werden – der Direktor und die Mitgliedstaaten behalten die Hauptbefugnisse über die Bearbeitung der Beschwerden. Sowohl das Frontex-Konsultativforum als auch das Grundrechtebüro der Agentur wurden immer wieder durch einen Mangel an Ressourcen und eine unkooperative Haltung von Frontex behindert. 2021 drückte die Bürgerbeauftragte deshalb ihr Bedauern darüber aus, dass Frontex bei der Umsetzung der wichtigen Änderungen der Verordnung 2019/1896 „in Verzug geraten ist”, etwa hinsichtlich der Zugänglichkeit zum Beschwerdemechanismus. Sie empfahl eine engere Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft, die Zulassung anonymer Beschwerden und mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit zu Ergebnissen von Beschwerden.[21]
Im Januar 2022 schloss die Bürgerbeauftragte eine Initiativuntersuchung zur Einhaltung der Grundrechte und Transparenzverpflichtungen von Frontex im Rahmen der Verordnung von 2019 ab. Sie stellte fest, dass die Mechanismen der Rechenschaftspflicht, die auf die gemeinsamen Operationen von Frontex anwendbar sind, nur dann wirksam sein können, wenn Frontex ausreichende Transparenz bietet, um eine unabhängige Überprüfung zu ermöglichen.[22] Und sie kam zu dem Schluss, dass Frontex mit ihren operativen Fähigkeiten, die dem Exekutivdirektor für Entscheidungen über die Einleitung, Aussetzung oder Beendigung einer Operation zur Verfügung stehen, „proaktiv transparent” sein sollte.
Mangelnde Transparenz ist ein strukturelles Problem von Frontex,[23] und wichtige Informationen, die eine Bewertung der Leistung im Bereich der Grundrechte ermöglichen würden, sind nicht zu erhalten. Es gibt keinen Zugang zu Informationen über die spezifischen Aktivitäten der Agentur, die in den streng vertraulichen Einsatzplänen und Berichten über schwere Zwischenfälle zu finden sind.[24] Die FSWG des EU-Parlaments stellte 2021 fest, dass die Agentur es bis dahin versäumt hatte, die Abgeordneten, denen gegenüber sie rechenschaftspflichtig ist, angemessen zu informieren.[25] Exekutivdirektor Fabrice Leggeri erschien zwar zweimal zu Anhörungen vor dem Parlament und beantwortete schriftliche Fragen; sowohl die FSWG als auch der EU-Kommissar für Inneres bekräftigten aber, dass einige seiner Aussagen „im Parlament nicht der Wahrheit entsprachen”.[26]
Seit der Gründung von Frontex wurden Bedenken darüber laut, dass Einzelpersonen oder Organisationen nur begrenzte Mittel zur Verfügung stehen, um die Agentur für ihre Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Wiederholte Anschuldigungen wegen Verwicklung in Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Transparenz haben zu Gesetzesänderungen geführt, auf die jedoch bisher keine Verbesserung der Transparenz von Frontex gegenüber dem Parlament oder innerhalb der Agentur in Bezug auf den Grundrechtsschutz folgten.
Nach siebzehn Jahre langen Auseinandersetzungen wird Frontex endlich von regionalen Gerichten untersucht; zwei Verfahren werden derzeit vor dem Gerichtshof der Europäischen Union verhandelt, und ein Verfahren läuft vor dem Internationalen Strafgerichtshof.[27] Dieser und ein weiterer Fall, in dem es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Aufnahme- und Identifizierungszentren auf den Inseln der Ägäis geht, zielen auf die Praktiken von Frontex und ihre Folgen für die Grundrechte.[28] Nach den Untersuchungen des Parlaments, des Frontex-Verwaltungsrats und der Bürgerbeauftragten und in Erwartung des Ergebnisses der OLAF-Untersuchung und der Überlegungen des UN-Sonderberichterstatters stellt sich nun die Frage: Werden sich die internationalen Gerichte als bissigeres und verbindlicheres Mittel erweisen, Frontex zur Verantwortung zu ziehen?