Archiv der Kategorie: CILIP 128

Die EU – Ein Sicherheitsstaat neuer Prägung? (März 2022)

Zurückweisungs-Union: Wie die EU die Menschenrechte aushebelt

von Matthias Lehnert

Die Kontinuität der Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen ist eine Krise der Rechtsstaatlichkeit – sie wird aber nicht als solche benannt. Stattdessen wird ein Diskurs hegemonial, der die Existenz und die Reichweite des Zurückweisungsverbotes relativiert und in Frage stellt.

„Pushbacks“ mag ein Unwort sein,[1] vor allem aber sind die damit bezeichneten Handlungen eine Untat. Der mittlerweile über rechtliche Diskurse hinaus weithin bekannte Begriff bezeichnet eine staatliche Zurückweisung einer schutzsuchenden Person, ohne vorab das Schutzgesuch in einem ordentlichen Verfahren geprüft zu haben. Dies verstößt gegen mehrere menschenrechtliche Bestimmungen: Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die Europäische Grundrechtecharta, die UN-Antifolterkonvention und weitere internationale Verträge. Sie enthalten ein sogenanntes Zurückweisungsverbot (bzw. Non-Refoulement-Gebot) gegenüber Menschen, denen im Fall einer Rückkehr in ihr Herkunftsland politische Verfolgung oder eine gravierende Menschenrechtsverletzung droht. Es ist zugleich unumstritten, dass die Zurückweisungsverbote damit auch implizit das Recht beinhalten, dass die Gefahr einer politischen Verfolgung und einer Menschenrechtsverletzung in einem ordentlichen Verfahren geprüft wird. Zurückweisungs-Union: Wie die EU die Menschenrechte aushebelt weiterlesen

Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst

von Jacqueline Andres

Die einst als Zivilmacht betitelte EU transformiert sich in eine Sicherheitsunion. Die dort angenommenen Bedrohungen sind ein Motor für Forschung und Entwicklung. Auch für die illegalisierte Migration präsentiert sich die Sicherheitsindustrie als Lösungsanbieterin für politische, soziale und ökologische Probleme, die sie mitverursacht.

In der Region von Calais stürmten am 1. Januar 2022 Polizist*innen mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschildern auf Geflüchtete zu, rissen ihre Zelte nieder und setzten Tränengas gegen sie ein. Den Angegriffenen blieb keine Zeit, ihr Hab und Gut zu retten. Die Räumung schloss sich an rund 150 weitere an, die allein zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr in der Region durchgeführt wurden.[1] Diesen gewalttätigen Ein­sätzen liegt eine Versicherheitlichung von Migration zugrunde, die entmenschlicht, leicht ausbeutbare Arbeitskräfte schafft und das Sterben von Menschen normalisiert. Noch deutlicher tritt die EUropäische Stilisierung von people on the move zur Bedrohung an der polnischen Grenze zu Belarus zum Vorschein. Polnische Regierungsvertreter*innen sprechen von Menschen, die als „Waffen“ zur Destabilisierung der Grenze eingesetzt werden[2] – der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nutzen die gleiche Analogie und werten die Lage als „hybriden Angriff“.[3] Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst weiterlesen

Redaktionsmitteilung

Ist die Europäische Union mit ihrem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ein Staat neuer Prägung? Diese Frage hat unseren geliebten Freund und Mitstreiter Heiner Busch seit dem Amsterdamer Vertrag 1997 bis zu seinem viel zu frühen Tod am 21. September des letzten Jahres umgetrieben. Von ihm stammt auch der Vorschlag für ein Heft, das auch frühere CILIP-Analysen auf ihre Brauchbarkeit abklopft: Handelt es sich bei der EU um ein Staatengebilde mit einem Recht, das vor allem Befugnisse, aber wenig Grenzen kennt? Ist es ein exekutivlastiges Konstrukt mit polizeilichen Agenturen und einer Europäischen Staatsanwaltschaft, das neu(artig)e Institutionen im Bereich der staatlichen Gewalt geschaffen hat? Redaktionsmitteilung weiterlesen

Grenzüberschreitender Sicherheitsstaat: Die Europäische Union und ihre Krisen

von Chris Jones und Yasha Maccanico

Seit dem Amsterdamer Vertrag 1999 dienten verschiedene Krisen als Vorwand für den Ausbau der EU-Sicherheitsstrukturen. Sie haben die Macht der EU-Repressionsbehörden erweitert. Politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen sind weiter an der Tagesordnung und verschärfen sich mit der jüngsten „Migrationskrise” an den Ostgrenzen der EU.

1992 machte der Vertrag von Maastricht aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union. Es folgten Schritte zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (JI): zur Einrichtung von Europol (für die erste Maßnahmen bereits vor Maastricht ergriffen wurden), zu Auslieferung und Korruption, Visumspflicht, Aufenthaltstitel u.v.m. Hinter den Kulissen führten die Mitgliedstaaten im Rat vertrauliche Gespräche, um die Koordinierung zu verbessern und gemeinsame Aktivitäten zu verstärken, einschließlich einer Partnerschaft zwischen der EU und den USA. Grenzüberschreitender Sicherheitsstaat: Die Europäische Union und ihre Krisen weiterlesen

Literatur

Zum Schwerpunkt

Ungewiss, was aus der Europäischen Union wird. Zweifellos ist das „Europäische Projekt“ seit anderthalb Jahrzehnten in einen Zustand der Dauerkrise verfallen, der größere Schritte der „Vergemeinschaftung“ verhindert, der aber gleichzeitig durch den permanenten, emsigen und vieldimensionalen Ausbau europäischer Verflechtungen gekennzeichnet ist. Diese „Inkrementalismus“, das vorsichtige Austasten und Ausbauen neuer Felder, Strategien und Instrumente kennzeichnet auch und insbesondere den Bereich der „polizeilichen und (straf)justiziellen Zusammenarbeit“. Das Gebilde „sui generis“, das die Union jenseits von Bundesstaat und Staatenbund darstellen soll, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Mischungsverhältnis zwischen europäisierten und mitgliedstaatlichen Politikbereichen dauerhaft umstritten ist – und dass sich im dauerhaften Krisenmodus in dem Maße Konsens zwischen den Akteuren erzielen lässt, wie es gelingt, Themen, Fragen, Probleme als solche der Inneren Sicherheit zu adressieren. Polizei- und Strafverfolgungskooperationen – so die Vermutung – haben das Potential, zum Kern dieser neuen Art von „Europäisierung“ zu werden. Es folgt ein Blick auf ausgewählte deutschsprachige Veröffentlichungen der jüngeren Vergangenheit. Literatur weiterlesen

Die Vergeheimdienstlichung der EU: Informelle Gruppen rund um Europol

Die Europäische Union hat keine Kompetenz zur Koordination von Geheimdiensten. Dessen ungeachtet kooperieren ihre Organe auf verschiedene Weise mit entsprechenden Behörden aus den Mitgliedstaaten. In dieses undurchsichtige Netz ist auch die EU-Polizeiagentur eingebunden. Der neue Fokus auf „Gefährder“ trägt ebenfalls geheimdienstliche Züge.

Mit dem Vertrag von Lissabon über die Arbeitsweise der EU (AEUV) wurde auch die Rechtsetzung im Bereich Justiz und Inneres in das EU-Gesetzgebungsverfahren übertragen. Bis dahin war die Innen- und Justizpolitik ausschließlich Gegenstand der intergouvernementalen Zusammenarbeit („dritte Säule“) mittels einstimmiger Ratsbeschlüsse. Ausschließlich die EU-Kommission hat das Recht, legislative Initiativen und Maßnahmen im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu initiieren. Darüber entscheiden anschließend der Rat der EU (also die Regierungen der Mitgliedstaaten) und das Parlament.

Ausdrücklich keine Kompetenz hat die EU für Geheimdienste. Gemäß Artikel 4 Absatz 2 AEUV bleibt die „nationale Sicherheit“, für welche die Dienste zuständig sind, allein den Mitgliedstaaten vorbehalten. Stets wird deshalb in EU-Dokumenten die Trennung zwischen „strafverfolgungsrelevanten“ und „nachrichtendienstlichen“ Tätigkeiten betont. Die Vergeheimdienstlichung der EU: Informelle Gruppen rund um Europol weiterlesen

Mehr Macht, keine Verantwortung? Der Mega-Agentur Frontex fehlt eine wirkliche Kontrolle

von Jane Kilpatrick

Seit 2004 wurden die Ressourcen und das Mandat der EU-Grenzagentur durch vier aufeinanderfolgende Verordnungen jeweils beträchtlich erweitert. Aber es folgten keine angemessenen Mechanismen, um diese mit rechtlicher oder politischer Rechenschaftspflicht auszugleichen.

Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten wurde im Mai 2005 gegründet.[1] 17 Jahre später wurden Aufgabenbereich, Befugnisse und Finanzen von Frontex – oder der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (EBCG), wie sie inzwischen umbenannt wurde – mehrfach ausgeweitet, sie verfügt nun über den größten Haushalt aller EU-Agenturen. Die jüngste Verordnung von 2019 wurde vom EU-Parlament in einem Rekordzeitraum von sechs Monaten verabschiedet, obwohl Frontex etwa beschuldigt wird, in Pushbacks an den See- und Landgrenzen verwickelt zu sein.[2] Im Jahr 2020, unter neuem Mandat, wurde dies durch eine gemeinsame Recherche von Bellingcat, Lighthouse Reports, Spiegel, ARD und TV Asahi bestätigt.[3] Plötzlich schienen Strukturen für die Rechenschaftspflicht zu entstehen, aber bis heute ist unklar, ob sie Frontex wirklich dazu verpflichten, sinnvolle Änderungen vorzunehmen. Mehr Macht, keine Verantwortung? Der Mega-Agentur Frontex fehlt eine wirkliche Kontrolle weiterlesen

(Ver)wachsende Datenbanken: Digitale Grenzen als Integrationsprojekt

von Eric Töpfer

Die Zahl der großen IT-Systeme der EU zur Kontrolle von Grenzen, Migration und Kriminalität wird sich in den kommenden Jahren verdoppeln. Zugleich werden sie mit dem Ziel, die Datenbanken interoperabel zu machen, immer enger zusammengeführt. Allen Widerständen zum Trotz sind die Kommission und ihre Agenturen die Gewinner dieser Entwicklung. Verlierer sind insbesondere jene, die nicht das Privileg der Unionsbürgerschaft haben.

Seit 27 Jahren brummen in einem Bunker bei Straßburg die Server des Schengen-Informationssystems (SIS). Gedacht war das polizeiliche Fahndungssystem als „Ausgleichsmaßnahme“ für den befürchteten Sicherheitsverlust durch den Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den Schengen-Staaten. Sein Personendatenbestand wird seit jeher durch Ausschreibungen von Nicht-EU-Bürger*innen zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung dominiert. 2003 gesellte sich die zentrale Einheit für Eurodac hin­zu, ein automatisches Fingerabdruckidentifizierungssystem (AFIS) zur biometrischen Erfassung von Asylsuchenden und irregulären Migrant*innen. Zwar dient Eurodac primär der Umsetzung des Dublin-Regimes und soll sicherstellen, dass Asylanträge im Land der Ersteinreise bearbeitet werden. Da die Verordnung von 2000 es den teilnehmenden Staaten aber freistellte, auch Menschen zu erfassen, die im Hinterland beim unerlaubten Aufenthalt erwischt werden, zielte Eurodac von Anfang an auch auf die Kontrolle irregulärer Migration. Im Jahr 2011 nahm das Visa-Informationssystem (VIS) seinen Betrieb auf, das der alphanumerischen und biometrischen Registrierung von Menschen dient, die Anträge auf EU-Kurz­zeitvisa stellen. Etwa 80 Millionen Personendatensätze waren Ende 2020 in den drei Systemen erfasst: 73 Mio. im VIS,[1] 5,8 Mio. in Eurodac[2] und etwa 965.000 im SIS.[3] Bereits seit Mitte der 2000er Jahre plant die EU den weiteren Ausbau von SIS, Eurodac und VIS, den Aufbau neuer Datenbanken und die enge Verschränkung all dieser Systeme.[4] (Ver)wachsende Datenbanken: Digitale Grenzen als Integrationsprojekt weiterlesen