Schlagwort-Archive: Frontex

Westafrika: Eine kurze Geschichte der europäischen Migrationskontrolle

von Sebastian Carlotti

Im Senegal will Frontex erstmals eine Operation auf dem afrikanischen Kontinent durchführen. Die Agentur ist seit ihrer Gründung bereits in den dortigen Gewässern präsent.

Im Februar wurde bekannt, dass die Europäische Kommission den senegalesischen Behörden vorgeschlagen hat, zum ersten Mal in der Geschichte operative Frontex-Kräfte in das Hoheitsgebiet eines afrikanischen Staates zu entsenden. Die vorgebliche Absicht der Stationierung entlang der Außengrenzen des Senegal besteht darin, den Menschenhandel über diese Grenzen zu unterbinden. Europa will damit aber vielmehr direkt auf den Routen der Migranten*innen eingreifen, um diese schon „zu Hause“ zu stoppen.

Der Plan, der vom Senegal noch nicht abgesegnet wurde, sieht eine aktive Überwachung der so genannten Atlantikroute vor. Außerdem könnten die Grenzposten zu Mauretanien und anderer Routen über Algerien und Libyen überwacht werden. Berichten zufolge sollen als Gegenleistung für diese Zusammenarbeit neue Mittel zur Bekämpfung der Auswirkungen der Pandemie auf die senegalesische Wirtschaft und die Schaffung neuer Möglichkeiten für die legale Migration angeboten werden. Das für einen Frontex-Einsatz nötige Abkommen würde auch eine neue Dimension in der Externalisierung der europäischen Grenzen in diesem Gebiet einführen und könnte später auf Mauretanien ausgedehnt werden. Westafrika: Eine kurze Geschichte der europäischen Migrationskontrolle weiterlesen

Zurückweisungs-Union: Wie die EU die Menschenrechte aushebelt

von Matthias Lehnert

Die Kontinuität der Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen ist eine Krise der Rechtsstaatlichkeit – sie wird aber nicht als solche benannt. Stattdessen wird ein Diskurs hegemonial, der die Existenz und die Reichweite des Zurückweisungsverbotes relativiert und in Frage stellt.

„Pushbacks“ mag ein Unwort sein,[1] vor allem aber sind die damit bezeichneten Handlungen eine Untat. Der mittlerweile über rechtliche Diskurse hinaus weithin bekannte Begriff bezeichnet eine staatliche Zurückweisung einer schutzsuchenden Person, ohne vorab das Schutzgesuch in einem ordentlichen Verfahren geprüft zu haben. Dies verstößt gegen mehrere menschenrechtliche Bestimmungen: Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die Europäische Grundrechtecharta, die UN-Antifolterkonvention und weitere internationale Verträge. Sie enthalten ein sogenanntes Zurückweisungsverbot (bzw. Non-Refoulement-Gebot) gegenüber Menschen, denen im Fall einer Rückkehr in ihr Herkunftsland politische Verfolgung oder eine gravierende Menschenrechtsverletzung droht. Es ist zugleich unumstritten, dass die Zurückweisungsverbote damit auch implizit das Recht beinhalten, dass die Gefahr einer politischen Verfolgung und einer Menschenrechtsverletzung in einem ordentlichen Verfahren geprüft wird. Zurückweisungs-Union: Wie die EU die Menschenrechte aushebelt weiterlesen

Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst

von Jacqueline Andres

Die einst als Zivilmacht betitelte EU transformiert sich in eine Sicherheitsunion. Die dort angenommenen Bedrohungen sind ein Motor für Forschung und Entwicklung. Auch für die illegalisierte Migration präsentiert sich die Sicherheitsindustrie als Lösungsanbieterin für politische, soziale und ökologische Probleme, die sie mitverursacht.

In der Region von Calais stürmten am 1. Januar 2022 Polizist*innen mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschildern auf Geflüchtete zu, rissen ihre Zelte nieder und setzten Tränengas gegen sie ein. Den Angegriffenen blieb keine Zeit, ihr Hab und Gut zu retten. Die Räumung schloss sich an rund 150 weitere an, die allein zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr in der Region durchgeführt wurden.[1] Diesen gewalttätigen Ein­sätzen liegt eine Versicherheitlichung von Migration zugrunde, die entmenschlicht, leicht ausbeutbare Arbeitskräfte schafft und das Sterben von Menschen normalisiert. Noch deutlicher tritt die EUropäische Stilisierung von people on the move zur Bedrohung an der polnischen Grenze zu Belarus zum Vorschein. Polnische Regierungsvertreter*innen sprechen von Menschen, die als „Waffen“ zur Destabilisierung der Grenze eingesetzt werden[2] – der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nutzen die gleiche Analogie und werten die Lage als „hybriden Angriff“.[3] Migration und Militarisierung: Die EU produziert eine Ökonomie der Angst weiterlesen

Mehr Macht, keine Verantwortung? Der Mega-Agentur Frontex fehlt eine wirkliche Kontrolle

von Jane Kilpatrick

Seit 2004 wurden die Ressourcen und das Mandat der EU-Grenzagentur durch vier aufeinanderfolgende Verordnungen jeweils beträchtlich erweitert. Aber es folgten keine angemessenen Mechanismen, um diese mit rechtlicher oder politischer Rechenschaftspflicht auszugleichen.

Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedstaaten wurde im Mai 2005 gegründet.[1] 17 Jahre später wurden Aufgabenbereich, Befugnisse und Finanzen von Frontex – oder der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (EBCG), wie sie inzwischen umbenannt wurde – mehrfach ausgeweitet, sie verfügt nun über den größten Haushalt aller EU-Agenturen. Die jüngste Verordnung von 2019 wurde vom EU-Parlament in einem Rekordzeitraum von sechs Monaten verabschiedet, obwohl Frontex etwa beschuldigt wird, in Pushbacks an den See- und Landgrenzen verwickelt zu sein.[2] Im Jahr 2020, unter neuem Mandat, wurde dies durch eine gemeinsame Recherche von Bellingcat, Lighthouse Reports, Spiegel, ARD und TV Asahi bestätigt.[3] Plötzlich schienen Strukturen für die Rechenschaftspflicht zu entstehen, aber bis heute ist unklar, ob sie Frontex wirklich dazu verpflichten, sinnvolle Änderungen vorzunehmen. Mehr Macht, keine Verantwortung? Der Mega-Agentur Frontex fehlt eine wirkliche Kontrolle weiterlesen

Neues Westbalkan-Scharnier für Europol und Frontex

Die EU-Agenturen können zwar inzwischen enger mit ausgewählten Drittstaaten kooperieren, allerdings gab es bislang kaum Formate für die politische und strategische Verabredung von grenzpolizeilichen Maßnahmen außerhalb des Schengen-Raums. Für Südosteuropa hat Österreich jetzt Fakten geschaffen.

Nach einer zweitägigen „Rückführungskonferenz“ hat Österreichs Innenministerium am Dienstag dieser Woche weitere Maßnahmen der „Joint Coordination Platform“ (JCP) „gegen die illegale Migration“ angekündigt. Das erst ein Jahr alte Netzwerk soll „flexible Rückführungspartnerschaften“ mit Westbalkan-Staaten abschließen. Hinter dem Begriff verbergen sich Abschiebungen von Menschen, deren Schutzgesuch in der EU abgelehnt wurde, oder die sich aus diesem Grund zu einer „freiwilligen“ Rückkehr entschließen. Neues Westbalkan-Scharnier für Europol und Frontex weiterlesen

Pushbacks: „Niemand darf einfach Menschenrechte außer Kraft setzen“

Seit einigen Jahren häufen sich Meldungen, wonach einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union Geflüchtete an ihren Außengrenzen aufgreifen und mit Gewalt zurückweisen. In der Ägäis hat die griechische Küstenwache in Hunderten Fällen Boote mit Schutzsuchenden in türkische Gewässer geschleppt oder auf Rettungsinseln ausgesetzt, damit sie in Richtung der Türkei zurücktreiben. Auch in Kroatien ist die völkerrechtswidrige Praxis von internationalen Medien zweifelsfrei belegt, ähnliche Berichte kommen beinahe täglich aus Litauen und Polen an der Grenze mit Belarus.

Mit Ausnahme von Polen ist Frontex in allen Regionen in verschiedenen Missionen im Einsatz, einige der Pushbacks erfolgten unter den Augen oder sogar unter Mithilfe der Grenzagentur. Eigentlich müsste der Direktor Fabrice Leggeri den Artikel 46 der Frontex-Verordnung aktivieren und – wie in Ungarn – die Zusammenarbeit mit den betreffenden Ländern einstellen. Stattdessen geht Leggeri zum Angriff über und behauptet, Zurückweisungen könnten sogar legal sein. Darüber haben wir mit dem Rechtsanwalt und Experten für Migrationsrecht, Matthias Lehnert gesprochen. Pushbacks: „Niemand darf einfach Menschenrechte außer Kraft setzen“ weiterlesen

Frontex und die Gewaltfrage

Mit der „Ständigen Reserve“ verfügt die EU erstmals über eine bewaffnete Polizeitruppe. Der Einsatz von Pistolen und anderen Zwangsmitteln soll von einem „Ausschuss für die Anwendung von Gewalt“ beobachtet werden, dessen Mitglieder der Frontex-Direktor aussucht. Das verstärkt das Kontrolldefizit bei der größten EU-Agentur.

Bislang verließ sich Frontex in ihren Einsätzen ausschließlich auf Personal und Ausrüstung, die aus den EU-Mitgliedstaaten entsandt wurden. Die Grenzagentur verfügte zwar über eigenes Personal von bis zu 1.500 Beamt:innen, die aber lediglich in zivil und vorwiegend am Sitz in Warschau eingesetzt wurden. Inzwischen ist Frontex in Bezug auf Personal und Haushalt zur größten Agentur der Union geworden. Das Budget für dieses Jahr beträgt 544 Millionen Euro, für die kommenden sieben Jahre erhält Frontex 5,6 Milliarden Euro.

Das meiste Geld wird derzeit für eine neue Grenztruppe ausgegeben, die das gestärkte Mandat der Grenzagentur umsetzen soll. Die vor zwei Jahren erneuerte Frontex-Verordnung bestimmt den Aufbau einer „Ständigen Reserve“ („Standing Corps“) von insgesamt 10.000 Beamt:innen, die sich in vier Kategorien für Kurz- und Langzeiteinsätze aufteilen. 3.000 Einsatzkräfte der „Kategorie 1“ werden als sogenanntes Statutspersonal direkt dem Hauptquartier in Warschau unterstellt. Sie tragen Frontex-Uniformen und dürfen neben Pistolen weitere Einsatzmittel zur Ausübung von Zwang einsetzen. Damit verfügt die Europäische Union erstmals über eine bewaffnete Polizeitruppe. Frontex und die Gewaltfrage weiterlesen

Frontex hat ein Waffenproblem

Gemäß der neuen Verordnung sollen 3.000 Einsatzkräfte Frontex direkt unterstellt werden. Erstmals befehligt die Europäische Union damit eine Polizeitruppe mit einheitlicher Uniform. Allerdings gibt es keine Rechtsgrundlage für den Erwerb von Waffen, Munition und „nicht-tödlicher Ausrüstung“.

Bis 2027 will die EU-Grenzagentur eine „Ständige Reserve“ von 10.000 GrenzpolizistInnen aufbauen. Das Personal, das bis zum kommenden Jahr bereits zu fast zwei Dritteln rekrutiert sein soll, unterteilt sich in vier Kategorien. 3.000 zusätzliche Kräfte der „Kategorie 1“ sollen direkt dem Hauptquartier der Agentur in Warschau unterstehen und sind dann unmittelbar bei Frontex angestellt. Derzeit sind dort rund 1.500 meist zivile BeamtInnen tätig. Für den Aufwuchs verlegt Frontex 2024 seinen Sitz in einen ebenfalls in der polnischen Hauptstadt errichteten Neubau. Frontex hat ein Waffenproblem weiterlesen