Literatur

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Wie reagiert die Polizei auf sozialen Protest? Wie kommt sie ihren Aufgaben nach, Sicherheit oder Ordnung – Chiffren für die dominanten Interessen in Ökonomie, Gesellschaft und Politik – zu bewahren? Welchen Einfluss hat die Institution Polizei auf kollektive politische Aktionen, auf deren Verlauf und deren Wirkungen in und für die Öffentlichkeit? Antworten auf diese Fragen sucht CILIP seit seiner Gründung. Die Beschäftigung mit dem, was heute Protest Policing genannt wird, ist deshalb dauerhaft in CILIP präsent; allerdings ist es auch zwei Jahrzehnte her, dass wir zuletzt einen Schwerpunkt diesem Thema widmeten (CILIP 72, H. 2/2002). Die Demonstrationen, Versammlungen, Blockaden und andere Formen des zivilen Ungehorsams – einschließlich der „begleitenden“ Polizeieinsätze – wurden und werden von nachbereitenden Darstellungen und wissenschaftlichen Untersuchungen begleitet. An dieser Stelle sei nur auf die Demonstrationsbeobachtungen des Komitees für Grundrechte und Demokratie (www.grundrechtekomitee.de) hingewiesen, die einen Fundus für alle diejenigen darstellen, die sich ein Bild von konkreten Protestereignissen und den polizeilichen Einsatzstrategien machen wollen. Auf wissenschaftliche Würdigungen des Polizei-Protest-Geschehens wird in den Beiträgen des Schwerpunkts Bezug genommen. An dieser Stelle soll deshalb nur auf zwei Sammelbände und eine umfangreiche Studie zum Thema hingewiesen werden.

Mecking, Sabine (Hg.): Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden (Springer VS) 2020, 229 S., 44,99 Euro

Der Sammelband präsentiert neben der Einleitung der Herausgeberin acht Aufsätze, die zur Hälfte unter den Überschriften „Wandel in Gesellschaft, Politik und Polizei“ und „Polizeiliches Handeln zwischen Tradition und Reform“ präsentiert werden. Obgleich einige Beiträge – etwa Frank Decker zum Populismus oder Ulrich Jan Schröder zur Entwicklung des Versammlungsrechts – über diese Phasen hinausgehen, liegt der zeitliche Schwerpunkt auf den Verhältnissen in der alten Bundesrepublik von den 1950er bis in die 1980er Jahre. In der Einleitung wird ein kompakter Überblick über die Polizeientwicklung und ihre wissenschaftliche Reflexion gegeben. Der westdeutschen Polizei wird attestiert, dass sie sich „im Laufe der Zeit zu einer modernen rechtsstaatlichen Sicherheitsagentur der Gegenwart (entwickelte), die sich nicht mehr als Obrigkeit, sondern vor allem als partnerschaftliche Dienstleisterin für die Bürgerinnen und Bürger versteht“ (S. 14). Diese Diagnose wird gegen Ende des Beitrags jedoch mit einem Fragezeichen versehen, da die Polizei seit geraumer Zeit „wieder als Garantin von ‚Sicherheit‘ in den Fokus“ rücke, wodurch „alle anderen Perspektiven … überlagert“ würden (S. 24). Insgesamt vermitteln die Beiträge verschiedene Perspektiven auf die mit sozialem Protest verbundenen Herausforderungen für die Polizei und deren gewandelten Antworten. Damit tragen sie auch zum besseren Verständnis der Gegenwart beiträgt und bewahren vor kurzschlüssigen Diagnosen. 

Bürger, Bernd (Hg.): Die Rolle der Polizei bei Versammlungen. Theorie und Praxis, Wiesbaden (Springer Gabler) 2022, 378 S., 49,99 Euro

Wer tiefer in den polizeilichen Diskurs über Protest Policing einsteigen will, sollte sich in diesen von Polizeidirektor Bernd Bürger herausgegebenen Band vertiefen. Die fünfzehn Beiträge sind in vier Teile gruppiert: „Theoretische Grundlagen und Schlussfolgerungen“, „Ethik, Recht und Vorschriften“, „Umsetzung in der Praxis“ und „Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation“. Bei der Lektüre ist allerdings zu berücksichtigen, dass in der Mehrzahl der Fälle Polizisten über die Polizei schreiben und der Horizont deshalb durchweg auf eine immanente Kritik beschränkt bleibt. Insofern gibt der Band Einblicke in die innerpolizeiliche und polizeinahe Reflexion des Protestgeschehens. Die Gegenstände der Darstellung sind breit angelegt: von den verschiedenen Spannungsverhältnissen, denen sich die Polizei im „Protest Policing“ gegenübersieht (Bürger im Einleitungsbreitrag) über die interaktionistische Perspektive von Gewaltentstehung und -verhinderung (Nassauer) oder einer Ethik der Einsatzkräfte (Schiewek) bis zur Bedeutung des Brokdorf-Beschlusses (Wächtler) oder der „Dialog-Deeskalation-Durchsetzen“-Strategie der österreichischen Bundespolizei (Dudek). In dem „Praxis“-Teil findet sich auch ein Beitrag des Herausgebers zu den Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE). Durchaus überraschend ist hier der Verweis auf die „Bürgerorientierung“ als „Organisationsziel“ der BFEs, das deren Taktik, Personalauswahl, Fortbildung etc. bestimme. Wer genau liest, wird in dem Band noch mehr Eigentümlichkeiten polizeilicher Selbstwahrnehmung finden.

Kretschmann, Andrea: Simulative Souveränität. Eine Soziologie politischer Ordnungsbildung, Konstanz University Press 2023, 384 S., 38,00 Euro, www.wallstein-verlag.de/openaccess/9783835391550-oa.pdf

In den aufwändigen Arrangements, in denen Polizeien ihr Personal für den Einsatz bei öffentlichen Protesten fortbilden, zeigen sich nicht nur die Bilder/Vorstellungen, die sich die Polizei von ihnen bildet, sondern diese Trainings verändern zugleich die Realität des Protests. Wenn dann noch gezeigt werden kann, dass die Übungsszenarien regelmäßig auf gewalthafte Eskalationen angelegt sind, dann lernen die Polizist*innen Protestierende als Störer zu bekämpfen statt sie in der Wahrnehmung eines Grundrechts zu schützen. Auch wenn in diesen wenigen Worten das Ergebnis der Untersuchung angedeutet ist, so werden sie dieser umfangreichen, aufwändig entstandenen, kenntnisreichen, differenzierten und reflektierten Untersuchung nicht gerecht. Denn bei Lichte betrachtet, ergeben sich nach 350 dicht beschriebenen – nur durch wenige Fotos aufgelockerte – Textseiten (und vor dem noch dichteren 30-seitigen Literaturverzeichnis) mehr Fragen als Antworten.

Zunächst ist es der Gegenstand der Untersuchung, der neugierig macht: Die Autorin hat vier polizeiliche Liegenschaften in drei Ländern (Frankreich, England, Nordirland und für Deutschland in Niedersachsen) untersucht, in denen Polizist*innen für den Einsatz bei Demonstrationen und Protesten fortgebildet werden. Bei diesen Liegenschaften handelt es sich um mit Attrappen nachgebildete Straßenzüge und Plätze oder auch nur durch Kennzeichnungen von realen Gebäuden oder Containern zum Stadtraum deklarierte Orte. Die Autorin beschreibt ausführlich, wie es ihr gelungen ist, Zugang zu diesen Orten, die Genehmigung zur teilnehmenden Beobachtung und zu Interviews zu bekommen. Eher am Rande wird erwähnt: die deutsche Bundespolizei zog eine Zusage zurück (S. 69), über die Übungsanlagen in Berlin-Ruhleben und Nordrhein-Westfalen (S. 51) erfahren wir ebenso wenig wie über die Großsimulationen, die in Hundertschaften jährlich stattfinden (S. 53). Bei aller Offenheit wurde der Autorin auch kein Blick in die einschlägigen Polizeidienstvorschriften gewährt (S. 245).

Die Untersuchung ist in acht Kapitel gegliedert: Eingerahmt von der Hinführung zum Thema (Kap. 1), der Vorstellung des Gegenstands und des methodischen Zugangs (Kap. 2) und den interpretativen Würdigungen: „Soziale Grammatik der Simulation“ (Kap. 7) und „Zu einer Theorie der simulativen Souveränität“ (Kap. 8) stehen die vier empirischen Teile, in denen die Räume, die Szenarien, die Darstellungen und die Einsätze der Simulation untersucht werden. Bereits in dieser Gliederung wird deutlich, dass es der Autorin nicht um einen Ländervergleich geht. Obwohl sie zu Beginn betont, wie wichtig die jeweiligen Kontexte sind, in denen die Trainings stattfinden, werden sie in der theoretisierenden Verallgemeinerung als belanglos (S. 299: „die Differenzen zwischen den Polizeien der Länder … fallen … jedoch nicht stark genug ins Gewicht“) abgetan.

Weil die Studie so wenig am Vergleich interessiert ist, wird das je Spezifische der Länder(polizeien) zwar einleitend durchaus benannt, in der weiteren Untersuchung aber nicht eigens thematisiert. Dass die Fortbildungen zwischen 15 Tage (Frankreich) und 1 Tag (Nordirland) dauern (S. 52f.), dass die einzelnen Übungen 4 Stunden (Frankreich), 1,5 Stunden (England, Niedersachsen) oder nur eine halbe Stunde (Nordirland) dauern (S. 167), dass die Skripte in England bis zu 15 Seiten umfassen, in Nordirland auf schriftliche Szenarien ganz verzichtet wird (S. 142f.) – all das soll keine Rolle spielen. Die Konzentration auf die Methode, das inszenierte „enactment“, führt dazu, dass die empirischen Teile streckenweise beliebig wirken, etwa wenn Belege mal durch Interviewäußerungen aus Niedersachsen oder die Beschreibung von Attrappen aus Frankreich oder Beobachtungen in Nordirland erbracht werden. Überhaupt stellt sich mit andauernder Lektüre immer mehr die Frage: Was wird überhaupt trainiert? Was sind die Anlässe, wie gehen die Eskalationen vonstatten? Wie reagieren die Polizist*innen, was genau sollen sie lernen? Das Buch und einige der Kapitel beginnen mit der Schilderung von Situationen „im Feld“, also das, was die Autorin als teilnehmende Beobachterin erlebte. Die plastischen Darstellungen machen neugierig – aber die Hoffnungen auf eine anschauliche Schilderung werden enttäuscht. Bereits die Phänomene des Protests bleiben unklar: geht es um Versammlungen, Umzüge, Kundgebungen, Blockaden, Riots, Gewalt oder zivilen Ungehorsam (auf S. 74 wird sogar eine Entführung als Teil einer Übung erwähnt)? Dasselbe gilt für die polizeilichen Ein­sätze: Zwar werden Wasserwerfer und Schlagstock ab und an erwähnt, aber erst auf S. 248f. wird ein wenig anschaulich, was die Polizeien wie mit welchen Mitteln tun (sollen), um ihre Ziele zu erreichen.

Mit der Abstraktheit der Darstellung korrespondieren die weitreichenden Schlussfolgerungen, die die Verfasserin zieht. Ihr Anspruch ist keineswegs bescheiden, denn „besonders instruktiv“ seien „der Forschungsstand der simulationsbezogenen Risiko- und Katastrophenforschung, der unter Rekurs auf Erkenntnisse der Kriminalsoziologie, der sozialen Bewegungsforschung, der Narratologie, der Raum- und Stadtforschung, der Soziologie des Theaters und des Spiels auf die polizeilichen Simulationen übertragen und angewendet wird.“ (S. 299) Da Andrea Kretschmann aber Aussagen über die Wirklichkeit polizeilicher Einsätze anstrebt, wäre es hilfreich gewesen, auch lerntheoretische Erkenntnisse einzubeziehen (die sie nur am Rande, etwa S. 271, streift). Denn die durchaus offene Frage bleibt, ob die Simulationstrainings tatsächlich handlungsrelevant in der polizeilichen Praxis sind. Müsste dann nicht wenigstens erwähnt werden, wie viele der niedersächsischen Bereitschaftspolizei-Hundertschaftsführer an den Trainings teilnehmen, müsste nicht problematisiert werden, ab welcher Wiederholungsfrequenz die Fortbildungen handlungsleitend werden können, müssten nicht die anderen Bedingungen in Rechnung gestellt werden, die polizeiliches Handeln gegenüber Protestierenden beeinflussen?

Bei der Veröffentlichung handelt es sich um eine Habilitationsschrift. Vielleicht ist diesem Umstand geschuldet, dass sie nicht frei von sprachlichen Hürden ist. Wenn auf S. 37 eine „kreisende Bewegung“ angekündigt wird, „über die die Emergenz der simulativen Souveränität in operationalisierender Weise nachvollzogen wird“, so hätte das vermutlich auch verständlicher formuliert werden können. Freundlicherweise übersetzt die Autorin die vielen französischen Zitate (die englischen bleiben unübersetzt), aber der sprachliche Duktus errichtet Hürden, die keineswegs zwingend erscheinen.

Auf dem Weg zu einer „Kultursoziologie des Staates“ (S. 37) bleiben viele interessante Beobachtungen am Rande liegen: dass in den Inszenierungen kein Perspektivwechsel stattfinden soll (mal Polizist, mal Demonstrant spielen) (S. 227), dass in den Szenarien neue Technologien ausprobiert werden (S. 287) oder dass die Gewalt eines Demonstranten spielenden Polizisten geahndet wird (S. 265f.) … Und je länger die Argumentation fortschreitet, desto problematischer wird sie: Die kriminalpolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte werden zu Beginn des siebten Kapitels kenntnisreich vorgestellt; aber wenig plausibel ist, die simultativen Fortbildungen als deren Folge oder zwangsläufig inhärentes Element zu würdigen. Das gilt auch für die zentrale Schlussfolgerung: Der historische Blick lehrt, dass die Polizeien kein „enactment“ benötigen, um politischen Protest als potenzielle Gefahr wahrzunehmen. Alles andere hieße, den weichgespülten Legitimationen zu viel Glauben zu schenken.

Neuerscheinungen

Abdul-Rahman, Laila; Espín Grau, Hannah; Klaus, Luise; Singelnstein, Tobias: Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung, Frankfurt, New York (Campus Verlag) 2023, 495 S., 39,00 Euro, https://content-select.com/de/portal/media/view/63f49cb2-ace8-4cff-8ab7-4e75ac1b000f

Ehrlich gesagt: Das Überraschende dieser Studie sind nicht ihre Ergebnisse. Oder hätte jemand ernsthaft behaupten wollen, deutsche Polizist*innen wendeten keine übermäßige Gewalt an, die Opfer ihrer Gewalt seien typischerweise weiße Durchschnittsbürger, die den Angriff auf sie zur Anzeige bringen, welche von den Staatsanwaltschaften unparteiisch aber konsequent verfolgt und von den Gerichten so geahndet werden, wie es bei anderen Täter-Opfer-Konstellationen zu erwarten ist? Das Besondere – und besonders bedrückende – an dieser empirischen Bestandsaufnahme sind die vielen Bestätigungen, die sie liefert: Überrepräsentiert bei den Opfern als unangemessen empfundener Polizeigewalt sind soziale Minderheiten, insbesondere solche, die als randständig (etwa durch ihre politische Überzeugung oder ihre Kleidung) oder ihrem äußerem Erscheinungsbild nach (etwa der Hautfarbe) als ethnisch fremd wahrgenommen werden, die Betroffenen bringen dies nur in seltenen Fällen zur Anzeige, diese Anzeigen werden überdurchschnittlich häufig bereits von den Staatsanwaltschaften eingestellt, deutlich häufiger als bei den korrespondierenden Anzeigen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, und schließlich führen nur ein kleiner Teil der Anzeigen zu einer gerichtlichen Verurteilung.

Gleichwohl leistet diese Studie mehr, als das zu bestätigen, was bisher plausibel vermutet und in Teilen auch nachgewiesen werden konnte. Denn die Bestandsaufnahme hat nicht nur empirische Daten erhoben, sie hat die einzelnen Aspekte – von den Konstellationen der Gewaltentstehung bis zu den rechtlichen Konsequenzen – insgesamt in Augenschein genommen, und sie hat differenzierte Kriterien der Bewertung (welche Gewalt gilt warum als unangemessen) angelegt und diskutiert. Im Detail kommen deshalb durchaus neue und interessante Erkenntnisse zutage, etwa wenn nur 15% der Opfer die polizeiliche Gewalt auf „illegitime Motive“ zurückführen (S. 223).

Vielleicht ist eines der wichtigsten Ergebnisse, dass diese Untersuchung überhaupt stattfinden konnte. Materiell hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft sie möglich gemacht; und letztlich haben nur drei Bundesländer ihren Beamt*innen nicht gestattet, sich im Rahmen des Projekts interviewen zu lassen. Die nun vorliegenden Ergebnisse zeigen zudem, dass der zwischenzeitliche Wirbel, den Polizeiangehörige gegen die Untersuchung entfachten, allein jenem Affekt geschuldet war, der in jeder Thematisierung polizeilicher Gewalt einen Angriff auf die Institution sieht.

Dass ihr Projekt vor erheblichen methodischen Problemen stand, betonen die Autor*innen im methodischen Teil ihres Abschlussberichts, denn angestrebt wurde die Einbeziehung des Dunkelfelds der als übermäßig empfundenen polizeilichen Gewalt sowie die staatlichen Reaktionen auf derartige Praktiken. Umgesetzt wurde das Vorhaben durch einen quantitativen und einen qualitativen Zugang. Die quantitative Erhebung erfolgte anhand eines Online-Fragebogens: Opfer und Zeug*innen aus ihrer Sicht übermäßiger Gewaltanwendung wurden bundesweit über verschiedene Kanäle zur Beteiligung aufgefordert. Durch dieses Schneeball-Verfahren wurden 3.373 Fragebögen ausgewertet, in denen über als übermäßig empfundene körperliche Gewalt durch Polizist*innen berichtete wurde. Dabei lag es bei den Befragten, ob sie die erfahrene Gewalt als übermäßig, unverhältnismäßig oder rechtswidrig bewerteten. Im qualitativen Teil wurden 63 Expert*inneninterviews aus drei Bereichen geführt: 21 Interviews aus der Zivilgesellschaft (Betroffenenvertretung, Beratung, Journalismus), 20 aus der Justiz (Anwält*innen, Staatsanwälte, Richter*innen) und 22 aus der Polizei (aufgeteilt aus Beamt*innen in Führungspositionen, aus dem Vollzugsdienst und solche, die mit internen Ermittlungen betraut sind). Die Verfasser*innen sind sich bewusst, das mit diesen Mitteln keine repräsentativen Ergebnisse erzielt werden können. Gleichwohl liefern sie einen in dieser Form noch nicht dagewesenen Einblick in die Wirklichkeit unangemessener Gewaltanwendung durch die Polizeien in Deutschland.

Nach der Einleitung, der Übersicht zum Forschungsstand und der Vorstellung der eigenen Methodik werden die Ergebnisse in den Kapiteln 4 bis 9 dargestellt und gewürdigt. Im Schlusskapitel (Diskussion) werden zunächst die Befunden zusammengefasst, bevor auf den letzten sieben Seiten einige Veränderungen angeregt werden. In dieser kurzen Besprechung können die detaillierten Ergebnisse nicht wiedergegeben werden. Vereinfachend entsteht folgendes Bild: Als unverhältnismäßig empfundene Polizeigewalt findet zu zwei Dritteln im Rahmen von Großveranstaltungen statt. Sie wird besonders häufig von jüngeren Polizist*innen ausgeübt, wobei die häufigsten Gewaltformen Schläge, Schubsen und zu hartes Anfassen sind. Knapp 20% der Opfer trugen schwere körperliche Verletzungen davon; weitere 52% wurden leichter verletzt. Nach Angaben der Befragten kam es zur Gewalt in Situationen, in denen sie sich von der Polizei bedroht, gedemütigt, beleidigt oder diskriminiert fühlten. Ob es sich um legitime/legale oder übermäßige, weil nicht erforderliche Gewalt handelt, hängt von den zugrunde gelegten Maßstäben ab. Die Verfasser*innen unterscheiden zwischen einem rechtlichen, einem gesellschaftlichen und einem polizeilichen Maßstab. In unterschiedlicher Weise würden alle drei Maßstäbe von den interviewten Gruppen zur Bewertung polizeilicher Gewalt herangezogen. Während für die Polizei Strategien der Selbstvergewisserung und Neutralisierung im Anschluss an Gewaltvorfälle beobachtet werden, erstatten nur 9,2% der Opfer Strafanzeige (S. 298). Im Kapitel über die Strafverfolgung polizeilicher Gewalt wird besonders nachdrücklich das Glaubwürdigkeitsgefälle zwischen Polizei(zeug*innen) und Opfern herausgearbeitet. In nur 2,3% der Fälle aus der Fragebogenbefragung war es zu einer Anklageerhebung gekommen (gegenüber 22% bei allen Strafverfahren im Jahr 2021) (S. 363). Ganz anders bei den Verfahren gegen die Betroffenen von Polizeigewalt: in fast 56% der eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurde Anklage erhoben bzw. ein Strafbefehl beantragt (S. 397).

In ihren Schlussfolgerungen suchen die Autor*innen nach Mitteln gegen die „Dominanz der Polizei“. Diese reichen von der Sensibilisierung der Polizei im Hinblick auf ihre eigene Gewaltfähigkeit bis zur Einrichtung externen Beschwerde- und Kontrollstellen. (alle: Norbert Pütter) 

Steinke, Ronen: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht, Berlin, München (Berlin Verlag) 2023, 224 S., 24,00 Euro

Wie schon im vergangenen Jahr mit seinem Buch „Die neue Klassenjustiz“ unternimmt Ronen Steinke den Versuch, ein Thema aus dem linksliberal-akademischen Diskurs einem breiten Publikum zu vermitteln. Zentraler Punkt ist, wie im Untertitel bereits annonciert, das politische Agieren der „Ämter für Verfassungsschutz“ (VS) – durch diverse Formen der Einschüchterung, durch Aufbauschen von Gefahren wie durch ihr Verharmlosen, durch die vielen Konsequenzen, die eine Rubrizierung in seinen jährlichen Berichten haben kann. Unter der eingängigen Überschrift „Verfassungsschutz ist Ansichtssache“ stellt er die PDS der 90er Jahre und die Monarchisten dieser Zeit gegenüber: Während die einen vergegenwärtigen mussten, dass die Hälfte ihrer Bundestagsabgeordneten über einer Personenakte beim VS verfügten, wurden die anderen nicht mal als beobachtungswürdig angesehen. Immer wieder behandelt er in dieser Perspektive auch die Einstufung der AfD. Seine gut argumentierte These: es ist letztlich hoch problematisch, wenn ein parteipolitisch gefärbter Geheimdienst mit diffusen Begrifflichkeiten und weit reichenden Befugnissen zum Eingriff in die Privatsphäre und in politische Debatten – verdeckt und offen – über die Demokratie wachen soll. Sein Plädoyer: Die Abschaffung eines Geheimdienstes, der sich mit legalen politischen Gruppen beschäftigt, und damit – auch dies arbeitet Steinke gut heraus – eine absolute Sonderrolle in der westlichen Geheimdienstfamilie einnimmt. Bis hin zu der Absurdität, sich „Nachrichtendienst“ rufen zu lassen.

Etwas mehr Struktur hätte „Verfassungsschutz“ dabei gutgetan. Die Herausarbeitung der langen Linien des Verfassungsschutzes und seine tiefe Verankerung im antikommunistischen Gründungskonsens der BRD wird von der Kritik im Detail des geheimdienstlichen Tagesgeschäfts eher unterbrochen als vertieft. Kapitel wie „Einfluss durch V-Leute“, „Einfluss durch Fake-Accounts“, „Einfluss durch Einbrüche“ (gemeint sind Trojaner auf Smartphones) wirken etwas einschubhaft und sind teils schon andernorts veröffentlicht worden. Einfluss auf Polizei und Strafverfolgung findet sich wenigstens an einigen Stellen wie dem eingangs des Buchs dargestellten Anwerbeversuch bei einem 15-jährigen Klimaaktivisten, in anderer Richtung in einem eigenen Kapitel zu NSU und Thüringer Heimatschutz. Wie der Verfassungsschutz seine „Autorität“ gegenüber Ausländerbehörden ausspielt, fehlt hier leider ganz. Noch mehr fehlt eine selbstkritische Auseinandersetzung mit Journalist*innen als freiwillig Helfenden des Verfassungsschutzes bei seiner Beeinflussung der öffentlichen Debatte. Es ist leider verbreitete Methode bei vielen Behörden und Ministerien, Journalist*innen vermeintlich in Geheimnisse einzuweihen, die sie dann bestenfalls als Hintergrundwissen verwenden dürfen, ohne dessen Ursprung preiszugeben. In der sehr kritischen Auseinandersetzung mit dem Wirken Hans-Georg Maaßens – eines der engagiertesten Kapitel des Buches – hätte es genau dazu sicherlich Anknüpfungspunkte gegeben. Es ist das eine, wenn ein rechter Provokateur wie Maaßen eine sehr offensive Pressearbeit betreibt, aber es ist das andere, wenn Journalist*innen das Geraune eines Geheimdienstchefs für relevant halten. Und sei es, weil es im Anschluss an die Pressekonferenz bei Filterkaffee und trockenem Gebäck noch „Hintergrund“ obendrauf gibt. (Dirk Burczyk)

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