Archiv der Kategorie: CILIP 132

40 Jahre Demobeobachtung: Bestandsaufnahme einer radikal-demokratischen Praxis

von Tina Keller und Elke Steven

Das Grundrechtekomitee hat schon kurz nach seiner Gründung das Instrument der Demonstrationsbeobachtung zum Schutz des fundamentalen Grundrechts auf Versammlungsfreiheit etabliert. Eine genaue Beobachtung der vielfältigen Ereignisse ist die Grundlage für deren Einordnung in die politische Vorgeschichte und die Bewertung, basierend auf einem prinzipiellen Grundrechts- und Demokratieverständnis. Nach über 40 Jahren stellen wir die Erfahrungen auf den Prüfstand und kommen zu dem Ergebnis, dass es als radikal-demokratisches Werkzeug zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit weiterhin notwendig bleibt.

Öffentliche Versammlungen sind sowohl Ausdruck als auch unmittelbarstes Werkzeug gelebter Demokratie. Das Grund- und Menschenrecht, demonstrieren zu können, gehört zu den wenigen im Grundgesetz garantierten Möglichkeiten, sich unmittelbar direkt öffentlich zu äußern. Die Demonstrierenden bestimmen selbst, wie sie thematisch und formal die Öffentlichkeit erreichen wollen. Dieses Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) zu schützen und unverkürzt zu bewahren, ist ein wesentliches Ziel der Demonstrationsbeobachtungen, die das Komitee für Grundrechte und Demokratie seit 1981 organisiert. Ihre Wirkungsweise wollen wir mit diesem Artikel reflektieren. 40 Jahre Demobeobachtung: Bestandsaufnahme einer radikal-demokratischen Praxis weiterlesen

Das Polizieren indigener Proteste: Besondere Repression gegen besondere Rechte

Seit 150 Jahren setzt die kanadische Bundespolizei Interessen der privaten Industrieunternehmen gegen den Widerstand der Bevölkerung durch. In der vergangenen Dekade wurden insbesondere Demonstrationen von Umweltschutzgruppen und First Nations Ziel bedenklicher Dauerüberwachung. Der Beitrag analysiert neue Observationsmethoden wie die Einrichtung von Zentren für die Kooperation von staatlichen Behörden und Privatunternehmen, gegen die sich Betroffene kaum wehren können. 

Zur Geschichte Kanadas gehört maßgeblich die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung. Für diese haben ambitionierte Siedler*innenprojekte zum Ressourcenabbau stets gravierende Folgen für die Sicherung der eigenen Überlebensgrundlage. Indigene Proteste werden in der Regel als gewalttätig dargestellt und traditionell mit dem primären Mechanismus der Kolonialmacht beantwortet – der Polizei. Entsprechend rabiat wurden bereits frühere Proteste gegen Raubbau poliziert. Die Namen Kanehsatà:ke (Oka), Ts’Peten (Gustafsen-See), Aazhoodena (Ipperwash/Stoney Point) oder auch Kanonhstaton (Kaledonien) bleiben als Beispiele im kollektiven Gedächtnis. Das Polizieren indigener Proteste: Besondere Repression gegen besondere Rechte weiterlesen

Getrübter Blick in die Glaskugel: Polizeiliches Data-Mining muss beschränkt werden

Mit seinem Urteil vom 16. Februar 2023 hat das Bundesverfassungsgericht polizeirechtliche Regelungen zur automatisierten Datenauswertung im Grundsatz für zulässig erklärt, ihre Anwendung aber strengeren Kriterien unterworfen. Damit wurden zugleich Leitplanken für eine zukünftige, bundesweite Verwendung von Software für das „predictive policing“ geschaffen. Grundsätzliche Fragen bleiben ungeklärt. 

Schon seit über zehn Jahren wird in der Bundesrepublik der Einsatz von algorithmenbasierter Analysesoftware in der Polizei erprobt. Diese soll ihre Arbeit im Bereich der Kriminalitätsprävention und der Strafverfolgung unterstützen. Zu unterscheiden sind dabei zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze: die allgemein unter dem Begriff „predictive policing“ entwickelten Anwendungen, die unter Auswertung von polizeilichen Falldaten und z. T. mit Hinzuziehung von soziodemografischen, sozialstatistischen und georeferenzierten Daten die Eintrittswahrscheinlichkeit von Wohnungseinbruchsdiebstählen (WED) durch professionell vorgehende Täter*innen prognostizieren und zur Steuerung des Ressourceneinsatzes bei der Bestreifung herangezogen werden können. Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen setzten dabei ab 2015 das kommerzielle Produkt PRECOBS vom Institut für musterbasierte Prognosetechnik (IfmPt) oder Eigenentwicklungen ein. Der Betrieb wurde in den meisten Ländern wieder eingestellt, weil ein Erfolg nicht nachweisbar war.[1] Getrübter Blick in die Glaskugel: Polizeiliches Data-Mining muss beschränkt werden weiterlesen

Redaktionsmitteilung

Klimawandel, Aufstieg der Rechten, Machtkonzentrationen im Finanzmarktkapitalismus – viele Aspekte der „multiplen Krise“ spitzen sich gegenwärtig zu und sind daher zunehmend umkämpft. Entsprechend deutlich zeigt ein Blick auf das Gewaltmonopol im Jahr 2023, wie die Polizei die herrschende Ordnung nicht nur absichert, sondern, wenn nötig, auch gegen Protest durchsetzt. In Lützerath etwa räumten im Januar über 3.000 Beamt*innen ein Dorf für einen börsennotierten Energieversorger. Die dabei eingesetzte Gewalt galt teils als unverhältnismäßig und mithin rechtswidrig. Auch in Leipzig, wo die Stadt im Juni Demonstrationen gegen die Verurteilung einer militanten Antifaschistin verboten hatte, dürften Bundes- und Landespolizei den legalen Rahmen überschritten haben: Sie riefen die Bahn zur Meldung „linker“ Anreisender auf und kesselten selbst Minderjährige stundenlang ein. Redaktionsmitteilung weiterlesen

Literatur

Zum Schwerpunkt

Wie reagiert die Polizei auf sozialen Protest? Wie kommt sie ihren Aufgaben nach, Sicherheit oder Ordnung – Chiffren für die dominanten Interessen in Ökonomie, Gesellschaft und Politik – zu bewahren? Welchen Einfluss hat die Institution Polizei auf kollektive politische Aktionen, auf deren Verlauf und deren Wirkungen in und für die Öffentlichkeit? Antworten auf diese Fragen sucht CILIP seit seiner Gründung. Die Beschäftigung mit dem, was heute Protest Policing genannt wird, ist deshalb dauerhaft in CILIP präsent; allerdings ist es auch zwei Jahrzehnte her, dass wir zuletzt einen Schwerpunkt diesem Thema widmeten (CILIP 72, H. 2/2002). Die Demonstrationen, Versammlungen, Blockaden und andere Formen des zivilen Ungehorsams – einschließlich der „begleitenden“ Polizeieinsätze – wurden und werden von nachbereitenden Darstellungen und wissenschaftlichen Untersuchungen begleitet. An dieser Stelle sei nur auf die Demonstrationsbeobachtungen des Komitees für Grundrechte und Demokratie (www.grundrechtekomitee.de) hingewiesen, die einen Fundus für alle diejenigen darstellen, die sich ein Bild von konkreten Protestereignissen und den polizeilichen Einsatzstrategien machen wollen. Auf wissenschaftliche Würdigungen des Polizei-Protest-Geschehens wird in den Beiträgen des Schwerpunkts Bezug genommen. An dieser Stelle soll deshalb nur auf zwei Sammelbände und eine umfangreiche Studie zum Thema hingewiesen werden. Literatur weiterlesen

Polizei verstößt regelmäßig gegen Datenschutzrechte

Anna-Lena Schmierer

Der oft mangelhafte bis rechtswidrige Umgang der Polizei mit personenbezogenen Daten ist im Jahr 2022 nicht zurückgegangen. Das zeigen die Tätigkeitsberichte mehrerer Landesdatenschutzbehörden.[1] Allein in Sachsen standen nach Angaben der Landesdatenschutzbeauftragten Juliane Hundert „in ca. 75 Prozent der Ordnungswidrigkeitsverfahren Bedienstete der sächsischen Polizei im Verdacht, unbefugt personenbezogene Daten abgerufen und unerlaubt verarbeitet zu haben.“ Diese Fälle sind weder selten noch neu. Nach Angaben des Hamburgischen Datenschutzbeauftragten Thomas Fuchs ist es inzwischen „geübte Praxis …, ohne weitere Zwischenschritte Ordnungswidrigkeitsverfahren einzuleiten“. Denn die Rechts­lage bestimmt, dass Polizist*innen nur aus dienstlichen Zwecken zur Erfüllung einer konkreten Aufgabe auf die Daten zugreifen dürfen. Polizei verstößt regelmäßig gegen Datenschutzrechte weiterlesen

Zwischenbericht zur Polizeistudie MEGAVO veröffentlicht

Nach hitzigen Diskussionen stimmte im Jahr 2020 der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer der Förderung einer Polizeistudie zu. Damals wurde im Kontext der Veröffentlichung rechtsextremer Polizeichatgruppen eine Studie über Rassismus innerhalb der Behörden gefordert. Letztendlich einigte sich die große Koalition darauf, nicht explizit Rassismus, sondern allgemein den Arbeitsalltag deutscher Polizeibeamt*innen zu untersuchen. Gefördert wurde daraufhin die Studie „Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten“ (MEGAVO) unter der Leitung der Strafrechtsprofessorin Anja Schiemann, die nun ihren ersten Zwischenbericht vorlegt.[1] Zwischenbericht zur Polizeistudie MEGAVO veröffentlicht weiterlesen

Medienaufsicht unterstützt BKA bei Internetkontrolle

Am 24. Mai 2023 meldeten die Landesmedienanstalten, dass sie ab sofort enger mit dem Bundeskriminalamt (BKA) zusammenarbeiten, um „Hassrede“ im Internet zu bekämpfen.[1] Dazu sollen Verdachtsfälle an die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet beim BKA (ZMI BKA) gemeldet werden. Die 14 Landesmedienanstalten sind zuständig für die Aufsicht über Rundfunk und Telemedien und verfolgen auf Grundlage des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages u. a. Volks­verhetzung, Gewaltverherrlichung, NS-Propaganda und Pornographie im Netz. Dafür durchforstet die nordrhein-westfälische Medienanstalt schon seit Mai 2021 mit der „intelligenten“ Software KIVI automatisiert das Internet und meldet verdächtige Inhalte an das BKA. Nachdem der KIVI-Einsatz bereits letztes Jahr auf die anderen Medienanstalten ausgeweitet worden war, ziehen diese nun auch bei der Zusammenarbeit mit dem BKA nach.[2] Medienaufsicht unterstützt BKA bei Internetkontrolle weiterlesen