Seit 150 Jahren setzt die kanadische Bundespolizei Interessen der privaten Industrieunternehmen gegen den Widerstand der Bevölkerung durch. In der vergangenen Dekade wurden insbesondere Demonstrationen von Umweltschutzgruppen und First Nations Ziel bedenklicher Dauerüberwachung. Der Beitrag analysiert neue Observationsmethoden wie die Einrichtung von Zentren für die Kooperation von staatlichen Behörden und Privatunternehmen, gegen die sich Betroffene kaum wehren können.
Zur Geschichte Kanadas gehört maßgeblich die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung. Für diese haben ambitionierte Siedler*innenprojekte zum Ressourcenabbau stets gravierende Folgen für die Sicherung der eigenen Überlebensgrundlage. Indigene Proteste werden in der Regel als gewalttätig dargestellt und traditionell mit dem primären Mechanismus der Kolonialmacht beantwortet – der Polizei. Entsprechend rabiat wurden bereits frühere Proteste gegen Raubbau poliziert. Die Namen Kanehsatà:ke (Oka), Ts’Peten (Gustafsen-See), Aazhoodena (Ipperwash/Stoney Point) oder auch Kanonhstaton (Kaledonien) bleiben als Beispiele im kollektiven Gedächtnis.
Seit der vergangenen Dekade sind Indigene wieder vielerorts buchstäblich im Weg. Auf Straßen, an Bahnstrecken und Häfen demonstrieren sie gegen umweltschädliche Großprojekte im Energiesektor, die auf ihrem Land gegen ihren Willen umgesetzt werden.[1] Und wie schon in den letzten 150 Jahren ihres Bestehens führt die Royal Canadian Mounted Police (RCMP, Bundespolizei) Einsätze durch, um den Weg für die private Kapitalakkumulation zu ebnen. Anhand von drei Beispielen wird im Folgenden skizziert, wie die Proteste gegen Umweltzerstörung jeweils als Gefahr für eine „kritische Infrastruktur“, die im nationalen Interesse stehe und daher mit neuartigen Kooperationen zwischen Polizei, Politik und Privatwirtschaft „geschützt“ werden müsse, definiert werden. Im Anschluss an einen Überblick über zentrale Veränderungen der Kontrollorgane werden drei Proteste gegen Ressourcenabbau auf indigenem Land mithilfe von Sekundärliteratur beschrieben: die Wet’suwet’en (British Columbia), die Mik’maq in Elsipogtog (New Brunswick) und die landesweit organisierte und international unterstützte Bewegung Idle No More (zu Deutsch: nicht mehr tatenlos sein). Dabei beziehe ich mich insbesondere auf die umfangreiche Arbeit von Andrew Crosby und Jeffrey Monaghan, die Tausende von Archivdokumenten von Sicherheitsbehörden, die indigene Proteste überwachen, ausgewertet haben.[2] Darauf aufbauend werden die in Kanada neu herausgebildeten Methoden des Protest-Polizierens, die mittlerweile in Verruf gerieten, dargestellt.
Private Profite deklariert als nationales Interesse
Die militärische Logik der Sicherung von Ressourcenzugang für die private Kapitalakkumulation habe sich seit der Gründung des kanadischen Staates in Schüben auf die Polizei übertragen, argumentieren die Kriminalsoziolog*innen Philip Boyle und Tia Dafnos.[3] Bereits während des Kalten Krieges definierte die RCMP gemeinsam mit der Industrie sogenannte „essentielle Punkte“ (vital points), also (kriegs-)bedeutsame Industrien und Infrastrukturen (z. B. Verkehrswege), die später explizit „kritische Infrastruktur“ genannt wurden, und entwickelte Notfallschutzpläne. Ihnen seien im nationalen Interesse andere Belange (z. B. Umweltschutz oder Souveränitätsrechte der First Nations) unterzuordnen und die Sicherheitskräfte entsprechend zu stärken. In den 1990er Jahren schlüpfte die RCMP, die zuvor im Infrastrukturbereich v. a. beratend und überwachend tätig war, in eine neue Rolle als Vermittler von Sicherheitsinformationen für Infrastrukturnetze. Dies legitimierte zugleich eine Neuorientierung weg von der Abwehr von äußeren Feinden hin zu internen, politisch motivierten Gruppen, die unter dem Stichwort des Terrorismus bekämpft wurden. Nach dem 11. September 2001 ermöglichten dafür zusätzlich bereitgestellte Gelder die Etablierung einer Infrastructure Criminal Intelligence Unit (später National Critical Infrastructure Team, kurz NCIT genannt). Als Teil der Federal Policing Criminal Operations Branch fungiert diese als Netzwerk für die Gewinnung und den Transfer von Informationen speziell zur Abwehr potentieller Infrastrukturbedrohungen.[4] Diese Form von Datenakquise und -austausch wird typischerweise als Staatsdomäne betrachtet. Das NCIT integriert jedoch auch private Sicherheitsakteur*innen und die Privatwirtschaft in polizeiliche Geheimdiensteinheiten und organisiert die gemeinsame Arbeit an Intelligence-Produkten (v. a. Datenbanken, Newsletter, Berichte). Auch die RCMP beteiligt sich an sektorspezifischen Netzwerktreffen, die Regierungsbeamt*innen, Eigentümer*innen und Betreiber*innen von Infrastrukturen zusammenbringen.
Die skizzierte Integration von Unternehmensakteur*innen in das NCIT – und umgekehrt – wurde zuerst und in besonderem Ausmaß beim Polizieren indigener Proteste gegen Energieprojekte angewendet. Dabei ist es zwar nicht neu, dass die Sicherheitsbehörden Mitglieder indigener Bewegungen als kriminell und extremistisch einstufen, aber der Kontext des „Kriegs gegen den Terror“ gab den Sicherheitsbehörden eine Vielzahl an Ressourcen und Befugnissen, um ihre Aktivitäten zu intensivieren. Tatsächlich richtete sich die erste Polizeioperation nach dem Anti-Terrorism Act von 2001 in einer gemeinsamen Razzia von RCMP und Canadian Security Intelligence Service (CSIS) gegen indigene Protestierende auf ihrem Land in der Provinz British Columbia. Das flexible Etikett „Extremismus“ im Rahmen der „Krieg gegen den Terror“-Rhetorik wurde dabei von seiner ursprünglichen Assoziation mit militantem islamistischem Fundamentalismus abgekoppelt. An ihre Stelle trat Versorgungssicherheit auf Grundlage des Infrastrukturdispositivs, das Verkehrswege als Objekte der nationalen Sicherheit und der kanadischen Wirtschaft begreift, und damit einen Kontext schafft, in dem indigene Forderungen nach Respektierung ihrer Selbstbestimmung und des Umweltschutzes zu nationalen Sicherheitsbedenken werden. Der Hintergrund ist: Es befinden sich noch viele natürliche Ressourcen auf indigenem Land. Die Geltendmachung ihrer Rechte beschränkt die Akkumulationsmöglichkeiten von Konzernen und wird von ihnen als Gefahr der Versorgung der Bevölkerung präsentiert.
Zur Abwehr dieser „Gefahren“ gründete die RCMP 2007 die Aboriginal Joint Intelligence Group mit dem Auftrag, Informationen speziell zu indigenen Protesten zu sammeln und zu verbreiten. Zu den ca. 450 externen Mitwirkenden und Empfängern des wöchentlichen Berichts „Situation“ und des jährlichen Berichts „Communities of Concern“ gehörten CSIS, andere Regierungsabteilungen und Strafverfolgungsbehörden sowie private Partner*innen im Energiesektor. Ein zentraler Fokus war Widerstand gegen Energieprojekte durch Blockaden der sogenannten kritischen Infrastrukturen.[5] Die Aboriginal Joint Intelligence Group wurde zwar 2009 aufgelöst, doch die Zuständigkeit ging auf das Critical Infrastructure Intelligence Team (CIIT) über. Für die Überwachung und Verfolgung der Proteste gegen Pipelines stimmte sich das CIIT auch mit dem Aboriginal Policing Services und der Aboriginal Intelligence Group des RCMP ab. Der Informationsaustausch wurde zudem dadurch befördert, dass ehemalige Polizist*innen, die bei Energieunternehmen anheuerten, eine hochrangige Sicherheitseinstufung erhielten. Dies ermöglichte einen intensiven Austausch von Sicherheitsinformationen in beide Richtungen, bei dem Unternehmen die Informationen, die sie über Pipeline-Gegner*innen gesammelt hatten, mit Strafverfolgungsbehörden legal teilen konnten. Zudem entwickelte das NCIT mit dem Suspicious Incident Reporting-System (SIR) eine Online-Informationsplattform, die auch private Abonnent*innen mit Sicherheitsfreigabe in das Berichtswesen über verdächtige Vorfälle einband: Im Juli 2015 hatten 140 Privatunternehmen vollen Zugang zum Senden und Empfangen von SIR-Informationen.
Zusätzlich zu den nationalen Veränderungen der Sicherheitsbehörden richtete die Bundesregierung in Alberta 2012 eine RCMP-Einheit zur Terrorismusbekämpfung und zum Schutze der Energieindustrie mit dem Namen Integrated National Security Enforcement Team ein.[6] In British Columbia widmete die unter der RCMP gebildete „E“-Division Aboriginal Policing Services ihre monatlichen Geheimdienstberichte (in den Jahren 2010 und 2011 unter dem Titel „Aboriginal Issues Bulletin“) der Verfolgung von Protesten gegen Pipelines.
Insgesamt fand also ein massiver Umbau der kanadischen Sicherheitsbehörden zwecks Kontrolle indigener Proteste gegen Ressourcenabbau statt. Im Zuge dessen wurden auch Private in die Überwachung eingebunden. Die daraus resultierenden Konsequenzen für Indigene zeige ich im Folgenden anhand von drei Beispielen. Das erste Beispiel – gegenwärtige Blockaden von Pipelines im Gebiet der Wet’suwet’en – zeigt die Bedeutung indigener Souveränitätsrechte in Kanada.
Verstöße gegen indigene Souveränitätsrechte
Die Wet’suwet’en, eine First Nation in British Columbia, lehnen die geplanten Enbridge Northern Gateway- und TC Energy Coastal-Pipelines zum Transport von Schiefergas durch ihr Territorium ab, da schon Lecks älterer Rohöl-Pipelines Umweltschäden auf ihrem Land verursacht haben. Die Ablehnung ist rechtlich gestützt: Im größten Teil von British Columbia haben indigene Gruppen wie die Wet’suwet’en ihre Landtitel nie an die Krone abgetreten.[7] In anderen Teilen verpflichten immerhin internationale Verträge die Regierung, ihrer Verantwortung gegenüber den First Nations nachzukommen. Das heißt, nach nationalem und internationalem Recht ist die Siedler*innenregierung in ihrem Treuhandverhältnis verpflichtet, die freie, vorherige und informierte Zustimmung der indigenen Völker einzuholen, wenn Entscheidungen ihre Rechte berühren.[8] Dies findet allerdings keinesfalls immer statt. In den letzten Jahren meldete der Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker mehrfach Beschwerden von First Nations, dass die kanadische Regierung die Beteiligung Indigener z. B. bezüglich großer Entwicklungsprojekte auf ihrem Land oder Rechtsvorschriften, die sie betreffen, einschränkt oder umgeht.[9] Die Regierung unterstützt private Energieunternehmen, die u. a. Rodungen, Fracking-Projekte oder Pipelines auf indigenem Land voranbringen, denen die betroffene Bevölkerung nicht zugestimmt hat. In den letzten zehn Jahren blockierten First Nations daher wiederholt Eisenbahnlinien, Brücken und Autobahnen, um gewaltfrei die Respektierung ihrer Selbstbestimmung einzufordern, nachdem demokratische Prozesse erfolglos blieben und verbale Proteste ignoriert wurden.
Als die geplante Gateway-Pipeline durch das Gebiet von Wet‘suwet’en Protest auslöste, wurde sie als kritische Infrastruktur charakterisiert. Damit konnten riesige Summen für den Krieg gegen den Terror umgewidmet und gegen Demonstrierende eingesetzt werden. So arbeiteten im Jahr 2010 das NCIT und mehrere RCMP-Abteilungen direkt mit den CSIS und Enbridge Security zusammen, um Maßnahmen gegen den Widerstand gegen die Northern Gateway-Pipeline zu koordinieren. Indigene Demonstrierende verkündeten, dass sie jegliches Vertrauen in die Regierung, ihr treuhänderisch verwaltetes Land sorgsam zu behandeln, verloren hätten, und dass sie genötigt werden, selbst zu handeln, um Wasser, Land und Tiere vor den umweltzerstörenden Entwicklungsprojekten zu retten.[10] Mitglieder der Protestbewegung stoppten wiederholt Arbeiter*innen des Energieunternehmens, die trotz der blockierten Brücke versuchten, auf Wet‘suwet’en-Territorium zu arbeiten, und eskortierten sie friedlich von ihrem Land. Die Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer eigenen Gesetze und die Einschränkung des Zugangs der Industrie zum Territorium wurden vom Sicherheitsapparat als nationale Sicherheitsbedrohung für die Energieambitionen Kanadas dargestellt. 2017 wurde die militarisierte RCMP-Einheit Community-Industry Response Group (C-IRG) gegründet, um den Bau der Coastal Gaslink-Pipeline und die Erweiterungsprojekte der Trans Mountain-Pipeline trotz breiter öffentlicher Opposition und indigener Zuständigkeit zu unterstützen. Seitdem wird C-IRG in der gesamten Provinz eingesetzt, um Ressourcenabbauprojekte vor Widerstand zu schützen und einstweilige Verfügungen von Unternehmen durchzusetzen.
Gewalt? Wer, wie, was?
In Elsipogtog (New Brunswick) lehnten die Mi’kmaq Fracking-Vorhaben auf ihrem Territorium entschieden ab und verweigerten ihre Zustimmung. Sie blockierten und sabotierten wiederholt die Geophonausrüstung, störten den Betriebsablauf und beschlagnahmten einen Firmenlastwagen. Wie in anderen Gegenden beauftragten Industrie und Politik Polizei zur Sicherung der Unternehmung. Obwohl seitens der Protestierenden keine Gewalt gegen Menschen ausgeübt wurde und keine Gefahr für Leben bestand, wurden sie als gewalttätig und extremistisch etikettiert, woraufhin die RCMP bei ihren paramilitärischen Einsätzen Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschosse verwendete und Demonstrierende verhaftete. Bei einem Einsatz erlitten zwei Mi’kmaw-Frauen Körperverletzungen; einem Mann wurde mehrmals mit einem Sturmgewehr auf den Kopf geschlagen.[11] Obwohl nur die RCMP Gewalt gegen Menschen verübt, sind es die Demonstrierenden, die beständig nicht nur als widerspenstig, sondern auch als gewalttätig bezeichnet werden. Ein Protestierender fasst zusammen: „Blockaden sind nicht gewalttätig, die Polizei ist gewalttätig“.[12]
Gewalt gegen indigenen Widerstand gegen den Ressourcenabbau auf ihrem Land tritt in unterschiedlichen Formen auf. Es beginnt mit der Bezeichnung eines friedlichen Protests als indigener Extremismus. Diese epistemische Gewalt in den Erzählungen von indigenen Extremist*innen als nationale Bedrohung der kritischen Infrastruktur legte den Grundstein für eine „fusionierte“ Überwachung aller organisierten indigenen Aktivitäten, die zu Kriminalisierung, weiterer Überwachung (Overpolicing), Polizeirazzien, mitunter Polizeigewalt und Verhaftungen führt. Als Mi’kmaq in Elsipogtog beispielsweise 2013 die tägliche Explorationsarbeit blockierten, erwirkte das Unternehmen eine einstweilige Verfügung, die es Demonstrierenden untersagte, Arbeitsutensilien zu zerstören. Zuvor hatte RCMP bereits klare Kontaktprotokolle entwickelt, um eine zeitnahe und intensive Kommunikation zwischen Explorationsunternehmen und der RCMP sicherzustellen. Das Fracking-Unternehmen und die Provinz erwirkten einstweilige Verfügungen zur Schaffung einer „Arbeitssicherheitszone“ für die Schiefergasexploration, und die RCMP als primärer Durchsetzungsmechanismus der Erdölagenda verstärkte ihre Präsenz.
Von der Industrie beantragte einstweilige Verfügungen gegen indigene Proteste wurden in diesem Fall, so wie auch sonst fast immer, gewährt, und die RCMP bemühte sich sofort um deren Durchsetzung, u. a. durch Festnahmen von politischen Vertreter*innen.[13] Einstweilige Verfügungen der Mi’kmaw zur Einstellung seismischer Tests mit Berufung auf historische Verträge und Souveränitätsrechte wurden hingegen von der Industrie als angeblich verfassungswidrig ignoriert und von kanadischen Gerichten abgelehnt.[14] Die Gewalt der Enteignung von Land und Ressourcen spielt also keine Rolle. Für die Industrie und die Polizei bezieht sich der Begriff „Gewalt“ auf Störungen, die die Rohstoffindustrie daran hindern, ihre Arbeit auszuführen, unabhängig davon, ob es zu körperlicher Gewalt kommt oder nicht. Demgegenüber bleibt der Einsatz von Polizeigewalt gegen indigene Blockaden eine allgegenwärtige Realität für First Nations, die ihre Souveränitätsrechte und ihr Land schützen wollen.
Koordinierte Dauerüberwachung von Idle No More
Um Proteste gegen Ressourcenabbau auf der Basis bestehender Umweltschutzgesetze und indigener Souveränitätsrechte von vornherein zu vereiteln, brachte die damalige Regierung den Gesetzentwurf C-45 ins Parlament ein. Indigenen Frauen entging dies nicht; sie gründeten 2012 die Bewegung Idle No More, um zu verdeutlichen, dass sie diese Entrechtung nicht hinnehmen. Sie organisierten Veranstaltungen an Häfen, Fährterminals, Flughäfen, Autobahnen, Eisenbahnen und in Einkaufszentren.[15] Angesichts der betroffenen zentralen Infrastrukturen wurden die Aktivist*innen als nationale Sicherheitsbedrohung eingestuft und extensiv observiert, obwohl es keine Hinweise auf erhebliche tatsächliche oder potenzielle Bedrohungen für die öffentliche Sicherheit gab.
Bereits im Jahr 2010 hatte Widerstand am Barrier Lake (Québec) gegen die Abholzung von Wäldern zur Entwicklung eines Hotspot-Meldesystems und zur Verschmelzung von Polizei- und Geheimdienstressourcen zwecks Kontrolle indigener Proteste geführt. Die Überwachung von Idle No More übertraf möglicherweise alle anderen Observationen sozialer Bewegungen in Kanada.[16] Um die polizeilichen Bemühungen gegen Idle No More zu koordinieren, nutzten die Bundesbehörden die oben erwähnte argumentative Verknüpfung des Schutzes von kritischer Infrastruktur und nationaler Sicherheit, um dauerhaft eine zentrale Koordinierungsstelle zum Polizieren indigener Proteste (das sogenannte „central fusion center for Native problems“) einzurichten.[17] Diese Koordinierungsstelle umfasste Dutzende von Polizeibehörden und lokale bis zu nationale Sicherheitsbehörden. Ihr Ziel war es, Geheimdienstkapazitäten mit zahlreichen anderen Einheiten, die indigenes Leben bereits überwachen, zu verknüpfen. In Reaktion auf Idle No More-Proteste wurde u. a. die Datenbank des Project SITKA (Serious Criminality Associated to Large Public Order Events with National Implications) erstellt, die zum Zwecke der Prävention und intensiven Beobachtung mit Namen potentieller Staftäter*innen gefüttert wird. SITKA kartografiert somit indigenen Aktivismus und ermittelt Einsatzgebiete für gezielte Polizeiinterventionen, die prominente Aktivist*innen stören und/oder kriminalisieren. Der Projektbericht beschreibt dies als integrierten Ansatz, der Überwachung, Geheimdienstdatenbanken, institutionelle Partnerschaften und Energieunternehmen kombiniert, um potenziellen Bedrohungen im „Krieg gegen den Terror“ vorzubeugen oder sie zu unterbinden.[18] Letztendlich bedeutet die Überwachung Indigener jedoch Community Profiling.
Im Zusammenhang mit der Überwachung indigener Proteste ist die Massenspeicherung von Informationen und die Katalogisierung von Daten in Polizei- und Sicherheitsdatenbanken sowie der Austausch dieser Informationen mit Polizeibehörden und der Energieindustrie zu einer Routinefunktion der täglichen Polizeiarbeit geworden. Diese Tätigkeiten führt die RCMP durch, ohne die untersuchten Personen zu benachrichtigen und ohne Hinweis darauf, wann Verdächtigte nicht mehr Gegenstand von Ermittlungen sind. Es fehlt an wirkungsvollen Police-Accountability-Mechanismen, um diese Überwachung zu stoppen oder anzufechten.[19]
Trotz der Überwachungsressourcen, die der Verhinderung potenzieller Verbrechen – oder von Terrorismus – gewidmet sind, erkennt keiner der daraus resultierenden zahlreichen öffentlichen Berichte eine spezifische Bedrohung.[20] Dennoch fördert eine intensive Überwachung bekanntermaßen eine gefährliche Kultur des Misstrauens und erzeugt zyklische Muster der (Un-)Sicherheit. Overpolicing kann die Wahrnehmung realen Kriminalitätsvorkommens verzerren und somit im Zirkelschluss die Praxis des Overpolicings rechtfertigen und intensivieren. Der Fall der Überwachung der indigenen Idle No More-Proteste ist insofern bedeutsam, als Overpolicing hier besonders deutlich mit einer massiven Ausweitung und Vernetzung geheimdienstlicher Aktivitäten einherging.
Proteste als Dauernotfall?
Indem der Sicherheitsstaat die First Nations, die ihr Land schützen, als feindliche, gewalttätige und illegitime Bedrohung gegen kanadische Energieinteressen konstruiert, zementiert er die scheinbar notwendige Intensivierung von Überwachung und Polizeiarbeit. In deren Folge wurden geheimdienstliche Überwachung und die Einbindung Privater in die Informationsbeschaffung zunächst als Notfallmechanismus eingeführt bzw. ausgeweitet, jedoch sodann verstetigt. Ein prominentes Beispiel ist die Gründung der Community-Industry Response Group (C-IRG) 2017 in Reaktion auf die beschriebenen Konflikte auf dem Wet‘suwet’en-Territorium. Die neue Einheit soll die strategische Aufsicht über Gefährdungen der Energiebranche und damit verbundene Fragen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit und der Kriminalität gewährleisten. RCMP-Mitglieder, die in militaristischen C-IRG-Einheiten beschäftigt sind, werden entlang von Befehlssystemen eingesetzt, die eine zweckmäßige Mobilisierung ermöglichen, unabhängig vom Provinzstandort oder dem industriellen Kontext, in dem sie reagieren. C-IRG ist nach der Logik des Gold-Silber-Bronze-Systems als Befehlskettenstruktur gegliedert, um die Polizeiarbeit als integrierte Reaktion effizient zu koordinieren. Bei dieser Divisionskommandostruktur handelt es sich in der Regel um eine vorübergehende Notfallmaßnahme zur Bewältigung einzigartiger Vorfälle. Jedoch verwendet C-IRG diese dauerhaft, da potenzielle Störungen (z. B. Proteste) bei Energieprojekten, die sich über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte erstrecken, als kritische-Infrastruktur-Gefährdung behandelt werden. So ist aus dem Notfall eine dauerhafte Überwachung geworden.
Damit gilt insgesamt: Die Überwachung indigener Gruppen und politischer Bewegungen ist nicht neu. Die Thematisierung der kritischen Infrastruktur als eine Frage der nationalen Sicherheit zur Legitimierung der Beseitigung von Akkumulationshemmnissen und die zeitliche Ausdehnung der polizeilichen Interventionen nehmen jedoch neue Ausmaße an. Die Kategorisierung und Einordnung innerstaatlicher, friedlicher Beschwerdegruppen als Bedrohungen für die nationale Sicherheit verwischen die Grenzen zwischen Protest und Terrorismus sowie zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit. Auch deswegen wird nun die Auflösung der RCMP-Einheit C-IRG gefordert.[21]