Die Debatte um Organisierte Kriminalität in der BRD – von jungen Liebespaaren und anderen begrifflichen Schwierigkeiten

Die Debatte um den Begriff der Organisierten Kriminalität (OK) ist den Vertretern der Polizei mit den Jahren zunehmend lästig geworden. Statt langer Diskussionen wollen sie Taten sehen. „Ein junges Liebespaar unterhält sich auch nicht stundenlang über den Begriff der Intimitäten, bis die letzte Straßenbahn ab ist, sondern schreitet auch irgendwo zur Tat“ , so der frühere Landespolizeipräsident Baden-Württembergs, Alfred Stümper im Jahre 1982. Zur Tat sind Polizei und Sicherheitspolitiker geschritten: Spezialdienststellen gegen Organisierte Kriminalität wurden eingerichtet und verdeckte Ermittlungen gehören zum festen Repertoire, auch wenn sie (noch) nicht vollständig verrechtlicht sind. Trotz dieses Tatendrangs und trotz des ständigen Verweises auf die Gefahren der „OK“ ist man sich über Begriff und Ausmaß der Organisier-ten Kriminalität in der BRD allerdings keineswegs einig.

Die Diskussion um Organisierte Kriminalität begann Anfang der 70er Jahre und wurde zunächst weitgehend im polizeilichen Rahmen geführt. Vorangegangen war in den 60er Jahren eine Kriminalitätsdebatte, die ihren Ursprung in den steigenden Zahlen registrierter Kriminalität hatte. Sie war denn auch einer der Anlässe für die Abkehr von militaristischen Polizeikonzepten, wie sie noch in der Notstandsdebatte zum Ausdruck kamen. Mit der sozialliberalen Koalition 1969 erhielten diese Reformbestrebungen politischen Rückhalt in einem „Sofortprogramm zur Verbrechensbekämpfung“, das 1970 von der neuen Regierung verabschiedet wurde. Im Vordergrund standen dabei nicht so sehr die alltäglichen Kriminalitäts- und Ordnungsprobleme, sondern mehr und mehr die besonders „sozialschädlichen“ und schwer ermittelbaren Formen der Kriminalität. Dieser Trend setzte sich fort im „Programm für die Innere Sicherheit“, das die Innenministerkonferenz (IMK) erstmals 1972 verabschiedete und dann 1974 überarbeitete. Durch organisatorische Zentralisierung, verstärkten Einsatz von Informationstechnik etc. sollte schwere Kriminalität erkannt und möglichst bereits vor ihrem Ausbruch bekämpft werden.

Vom „organized crime“ zum „organisierten Verbrechen“

Vor dem Hintergrund dieser Bestrebungen ist es nicht verwunderlich, daß die deutsche Polizei ihr Augenmerk auf die USA richtete. Das Thema organisierter Kriminalität und Korruption war dort bereits in den 60er Jahren heftig diskutiert worden. 1967 erschien ein erster Bericht der „President’s Commis-sion on Organized Crime“, 1970 der Bericht der sog. Knapp-Commission über Polizeikorruption.4 In beiden Fällen standen die Aktivitäten großer Verbrechenssyndikate im Vordergrund. Wesentliche Kennzeichen solcher Organisationen waren
– Konspiration und eine spezifische innere Struktur, gekennzeichnet durch hierarchische und zentralisierte Beziehungen, feste Disziplin, Schutz der Mitglieder und „Bestrafung“ derjenigen, die aus der Disziplin ausscheren, sowie
– der Versuch durch Korruption und klientelistische Beziehungen zu Politikern, das eigene illegale Geschäft abzusichern und wirtschaftliche und politische Machtpositionen zu erlangen.

Seit Beginn der Debatte in der Bundesrepublik sind die meisten Teilnehmer sowohl von außerhalb als auch innerhalb der Polizei sich darin einig, daß diese Art von „syndikatisiertem Verbrechen“ in der BRD nicht vorzufinden war bzw. ist. Nach diesem negativen Befund wurde die Debatte jedoch keineswegs abgebrochen. Vielmehr wurde nun argumentiert, daß nicht absehbar sei, ob sich in der Zukunft eine Tendenz zur Entstehung von organisierter Kriminalität ergeben würde:
„In jedem Fall wäre es zumindest ein Verstoß gegen die Regeln planmäßiger und vorausblickender Kriminalitätsbekämpfung, würde eine solche Krimina-litätsentwicklung nicht in Rechnung gestellt werden“, so der damalige Berliner Landeskriminaldirektor Otto Boettcher, Vorsitzender einer von der AG Kripo der IMK eingesetzten Fachkommission zur Untersuchung des organisierten Verbrechens.

In den folgenden Jahren bemühte man sich dann auf Seminaren der Polizei-führungsakademie (PFA), bei Arbeitstagungen des Bundeskriminalamtes (BKA), in den zuständigen Gremien der IMK und in der Fachliteratur um eine Definition von organisierter Kriminalität, die den deutschen Verhältnissen entsprechen sollte. Diese mußte zwangsläufig flexibel sein – möglichst offen für alle Phänomene. Sie fiel daher auch sehr abstrakt aus:
„Der Begriff der organisierten Kriminalität umfaßt Straftaten, die von mehr als zweistufig gegliederten Verbindungen oder von mehreren Gruppen in nicht nur vorübergehendem arbeitsteiligem Zusammenwirken begangen werden, um materielle Gewinne zu erzielen oder Einfluß im öffentlichen Leben zu nehmen.“

Bei der Festlegung dieser Definition 1974 war es erklärtes Ziel der Kommis-sion, einen „plastischen Begriff“ für organisierte Kriminalität zu finden, der nicht beschränkt bleiben sollte auf die „syndikatisierte Kriminalität“, auf das „organized crime“ nach US-Vorbild, sondern auch andere, über die gewöhn-liche Bandenkriminalität hinausragende Formen der Organisierung einschließen sollte. Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber der „professionellen Kri-minalität“ wurden nicht geleugnet, sondern als unvermeidlich hingenommen.8

Fast ein Jahrzehnt später war dieses Problem noch immer nicht gelöst. Der für öffentliche Sicherheit zuständige Arbeitskreis AK II der IMK machte sich auf seiner Sitzung im Januar 1983 schließlich die Vorlage einer Ad hoc-Kommission, die anderthalb Jahre vorher eingesetzt worden war, zu eigen:
„Dabei ist unter organisierter Kriminalität (OK) nicht nur eine mafiaähnliche Parallelgesellschaft im Sinne des organized crime zu verstehen, sondern ein arbeitsteiliges, bewußtes und gewolltes, auf Dauer angelegtes Zusammenwirken mehrerer Personen zur Begehung strafbarer Handlungen – häufig unter Ausnutzung moderner Infrastrukturen – mit dem Ziel, möglichst schnell hohe finanzielle Gewinne zu erreichen.“9

Diese Definition hat gegenüber der ersten den Vorteil, politische Straftaten generell auszuschließen. Sie beschränkt die Motivation für OK auf den finan-ziellen Gewinn, ist ansonsten aber auch noch weitmaschiger als die alte: Mußte 1974 noch eine mindestens zweistufig gegliederte Organisation vorhanden sein, d.h. ein Minimum an Hierarchie, bzw. ein Zusammenwirken mehrerer Gruppen, so geht es nun nur noch um ein arbeitsteiliges Zusammenwirken mehrerer Personen.

Von der (Schein-)Definition zur „praxisgerechten“ Deskription

Die polizeilichen Beteiligten der Debatte haben von Beginn an herausgestellt, daß es nicht ihre Aufgabe sei, lange wissenschaftliche Untersuchungen anzu-fertigen.
„So notwendig gründliche Analysen, so begrüßenswert alle Bemühungen der Wissenschaft um Erkenntnis und Klärung des Begriffs sind, so dringlich ist andererseits im Interesse der Verbrechensbekämpfung eine wenn auch vorläufige Sprachregelung, die deuten, erkennen und werten hilft. (…) Das Kollegium der Kommission konnte und kann sich langwierige Untersuchungen unter strenger Beachtung aller Regeln der Wissenschaft nicht leisten …“, so Boettcher 1974.
War demnach in den 70er Jahren zu ausführlichen begrifflichen und inhaltlichen Klärungen keine Zeit, so wird ein Jahrzehnt später plötzlich von einem der wichtigsten polizeilichen Vetreter der Debatte erklärt, begriffliche Dis-kussionen führten nicht weiter.

„Meines Erachtens hat die Diskussion um das Phänomen der organisierten Kriminalität gezeigt, daß uns Definitionen nicht weiterführen. Daher sollte an die Stelle der Definition die Deskription treten. Das erscheint auch deshalb praxisgerechter, weil wir es mit einem sehr vielschichtigen, in Intensität, Ausmaß sowie in zeitlicher und örtlicher Hinsicht sich ständig wandelnden Phänomen zu tun haben“, so 1983 der heutige Chef des Hamburger Lan-deskriminalamtes, Wolfgang Sielaff.

Die Schlußfolgerung: An die Stelle der Begriffsdefinitionen sollten Indikato-ren treten. Ein solches Verfahren ist aus mehreren Gründen problematisch:
1. Der Versuch, durch festgelegte Indikatoren, hinter denen ein Arbeitsbegriff stehen muß, Art und Ausmaß eines Phänomens zu beschreiben, wäre akzeptabel, wenn es darum ginge, nach Ablauf einer Frist die Existenz organisierter Kriminalität entweder zu bestätigen oder zu verneinen, die Definition also enger gezogen werden könnte. Dies ist aber nicht das Interesse Sielaffs. Ihm geht es darum, den Begriff offenzuhalten für ständig wechselnde Phänomene. Sie alle müssen unter denselben Hut.
2. Indikatorenlisten wurden nicht erst 1983 erfunden. So unterscheidet sich Sielaffs Liste kaum von jener, die die AG Kripo bereits 1974 aufgestellt hatte. Er hat sie nur neu geordnet.

Neben allgemeinen Indikatoren bieten sowohl er als auch die AG Kripo spezielle Indikatoren für eine Reihe von Deliktsbereichen an. Der Unterschied besteht darin, daß Sielaff die „Politkriminalität“ nicht mehr unter die OK-verdächtigen Deliktsbereiche faßt. Ansonsten finden sich im wesentlichen die gleichen Bereiche: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, klassische Rotlicht-kriminalität, Diebstahl und Hehlerei, Kfz-Verschiebung etc. Wieviele und welche Indikatoren notwendigerweise erfüllt sein müssen, um von Organisierter Kriminalität zu sprechen, verrät aber weder Sielaff noch die AG Kripo. Für Sielaff reicht bereits das „vermehrte Antreffen“ entsprechender Phänomene. Als Instrument der Klärung wird die Liste damit entwertet.

OK – ein Konstruktionsprozeß

Die OK-Diskussion war von Anfang an geprägt von den Bedürfnissen der polizeilichen Praxis. Wie problematisch dies ist, ließ schon die AG Kripo 1974 erahnen: Dort hieß es, daß „Aktivitäten von Tätergruppen im Blickfeld stehen, an denen die bisher praktizierten Bekämpfungsmethoden zu scheitern drohen. Die Abgrenzung des Begriffs ist maßgeblich dadurch bestimmt, daß mit `organisierter Kriminalität` jene Erscheinungsformen gemeint sind, die erfolgreich nur mit neuen Konzeptionen und besonderen Methoden bekämpft werden können.“

Polizeiliche Schwierigkeiten bei der Ermittlung werden damit zum eigentlichen Faktor der Definition und der Bewertung eines Deliktes oder Täters als „OK-zugehörig“. Daß das Zitat nicht nur einen Ausdrucksfehler beinhaltet, sondern einen Denkfehler, eine tautologische Definition, zeigte spätestens die BKA-Untersuchung von Erich Rebscher und Werner Vahlenkamp aus dem Jahre 1988. Die Autoren befragten 66 Beamte aus OK-Dienststellen der Polizei und versuchten auf diese Weise, Charakter und Umfang der bundesdeutschen OK herauszuarbeiten. Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht eine Revision der bis dato üblichen Vorstellungen von Organisierter Kriminalität. An einer Reihe von Punkten zeigen die Autoren, daß die wesentlichen Kriterien für das Vorliegen von OK erst durch polizeiliche Ermittlungsarbeit erzeugt werden.

Am deutlichsten belegen sie dies hinsichtlich der Organisationsstruktur. Hierarchische kriminelle Organisationen sind nach ihren Untersuchungen eher selten und allenfalls in beschränktem Umfange bei landsmannschaftlich dominierten Tätergruppen zu finden. Die OK-Szene der BRD sei vielmehr geprägt durch „Straftäterverflechtungen“ und „Zweckgemeinschaften“ zur Ausführung eines illegalen Geschäftes, die nach Beendigung des Geschäfts wieder auseinanderfallen. Sie skizzieren die OK-Szene parallel zu üblichen Formen der Geschäftsverbindungen in der legalen Wirtschaft.

Der Versuch von Ermittlungsbehörden, Anklagen nach 129 StGB (krimi-nelle Vereinigung) zu konstruieren, laufe deshalb regelmäßig ins Leere. Selbst im Drogenhandel, der als klassische Domäne krimineller Organisatio-nen gilt, ließen sich die geforderten Organisationsformen nicht finden. Auch hier agieren der Untersuchung zufolge nicht Kartelle oder feste Organisatio-nen, sondern „Einzeltäter“, „Zweckgemeinschaften“ und „Gruppierungen“. Von der gängigen Vorstellung eines bis zum Endverbraucher durchstruktu-rierten Geschäftsablaufs bleibt hier nichts übrig. Vielmehr zeigt sich, daß die Vorstellung einer kriminellen Organisation von den Sachbearbeitern der Kri-po häufig erst hineininterpretiert wird, also gewissermaßen ein Ergebnis der Konstruktion ist.

Auch die Führungspersonen der Szene sind nach Rebscher/Vahlenkamp nicht permanent stark. Ihre Stärke hängt in der Regel von dem Kapital ab, das sie vorweisen können. Die interviewten Beamten benutzten Begriffe wie „Pate“, „Boss“ und dergleichen gerade nicht. „Im wesentlichen gilt der Grundsatz `Geld ist Macht‘. Wer als Szeneinterner Kapital aufzuweisen hat, erwirbt damit automatisch Anerkennung. Machtkämpfe zwischen Führungspersonen, wie sie häufig in Mafiastrukturen auftreten, sind in der bundesdeutschen OK-Szene nicht (mehr) oder nur in Ausnahmefällen zu finden. Eine Hackordnung im eigentlichen Sinne besteht nicht. Lediglich in der ersten Phase des Wachstumsprozesses von Führungspersonen ist ein solches Ordnungsprinzip in der Szene nicht immer auszuschließen.“ Die Führungspersonen haben nach Abschluß ihres Aufstiegs oft die Tendenz, sich ins legale bürgerliche Wirtschaftsleben einzugliedern.

Auch hinsichtlich des Kriteriums der Abschottung sind die Autoren äußerst differenziert. Nur in seltenen Fällen handele es sich um bewußte Abschottung gegenüber polizeilichen Verfolgungsmaßnahmen, sondern eher um „die Wahrung des `Geschäftsgeheimnisses'“. Geradezu das Gegenteil von Abschottung sei festzustellen: Personen aus der Szene müßten direkt bekannt sein, damit man untereinander ins Geschäft kommt. Die Abschottung von Hehlern und Verbindungsleuten innerhalb des legalen Geschäftslebens sei eher eine Frage der Steuervermeidung als der bewußte Versuch, sich der Strafverfolgung zu entziehen. In anderen Fällen beruhe die Vorstellung der systematischen und bewußten Abschottung darauf, daß sich in Flächenstaaten die ermittelnden Beamten aus den zentral angesiedelten Dienststellen „vor Ort“ nicht mehr auskennen. Vielfach zeige sich am Ende, daß es sich um „alte Bekannte“ handele. „Der Eindruck einer gezielten Abschottungs-maßnahme kann ferner aufgrund der räumlichen Trennung eines Täterkreises vom jeweiligen `Geschäftspartner‘ (auch im Ausland) entstehen“, also auf-grund eines sich aus der Geschäftsform ergebenden Umstandes, der als Abschottungsmaßnahme fehlinterpretiert würde.

Folgt man diesen Darstellungen, die zunächst einmal nichts anderes versuchen, als Wissen und Erfahrung der polizeilichen Sachbearbeiter zusammenzutragen, so wird man einen großen Teil der anfangs als zentral veranschlagten Indikatoren wohl verwerfen müssen bzw. sie als Produkt einer Wahrnehmungsverschiebung interpretieren müssen, die aus den Schwierigkeiten der polizeilichen Ermittlung und nicht aus der Struktur der Straftätergruppierungen resultiert. Aus der Befürchtung einer „Syndikatisierung“ des Verbrechens, wie sie zu Beginn von Herold u.a. vorgetragen wurde, ist hier kaum mehr etwas übrig geblieben. Dennoch wird der Begriff beibehalten.

Rebscher/Vahlenkamp benutzen ihn ebenfalls, obwohl sie eine Vielzahl von Belegen anführen, die eigentlich darauf hinauslaufen müßten, davon Abschied zu nehmen – und sei es nur um der Klarheit der Wahrnehmung willen.

Der Verdacht, daß am Begriff der Organisierten Kriminalität nur deshalb noch festgehalten wird, um politische Forderungen nach Legitimierung und Verrechtlichung verdeckter Ermittlungsmethoden durchzusetzen, drängt sich auf. Während der argumentative Bezug auf den Terrorismus in den 70er Jahren vor allem zur Durchsetzung der elektronischen Datenverarbeitung diente, hat die „Organisierte Kriminalität“ in den 80er Jahren es gerechtfertigt, quasi-geheimdienstliche Methoden und Organisationsstrukturen über den Bereich der Staatsschutzabteilungen hinaus auf Dezernate der allgemeinen Kri-minalitätsbereiche auszudehnen.

„Die Polizei muß selbst in den Untergrund gehen – sei es mit eigenen Leuten, sei es durch den Einsatz oder durch das Aufbohren zuverlässiger oder ergie-biger Quellen sowie durch umfassende Ausschöpfung technischer Mittel. Sie muß verdächtige Fäden aufnehmen und weiterverfolgen, sie muß erste Ansatzpunkte krimineller Aktivitäten rechtzeitig erkennen und das Wissen hierzu systematisch zusammenführen,“ forderte Stümper bereits 1983.

Nicht Strafverfolgung, sondern „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ soll betrieben werden. Das Ziel – so übereinstimmend nahezu alle polizeilichen Autoren – sei nicht die Aufklärung einzelner Verbrechen, sondern von De-liktsketten (Sielaff) oder die möglichst vollständige „Aushebung des krimi-nellen Nestes“ . Langer Atem wird gefordert. „Der in der verdeckten Ver-brechensbekämpfung eingesetzte Polizeibeamte wird nur erfolgreich sein, wenn ihm ermöglicht wird, über längere Zeit Straftaten zu beobachten, ohne in jedem Fall verfolgend tätig werden zu müssen.“ Die neuerliche, von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und dem Präsidenten des Bun-deskriminalamtes Zachert ausgelöste Debatte, ob verdeckte Ermittler das Recht haben sollten, „milieubedingte Straftaten“ zu begehen, ist die logische Konsequenz einer Konzeption, die ständig nach Hintermännern sucht.

Diese Konzeption müßte spätestens nach polizeieigenen Veröffentlichungen wie denen von Rebscher/ Vahlenkamp aber in Frage gestellt werden. Dies um so mehr, als insbesondere deren Ergebnisse nahelegen, daß polizeiliches Eindringen in die Szene Tendenzen zur Konspiration eher verstärkt. Während in der Verrechtlichungdiskussion Observationen, das Abhören von Telefonen und andere verdeckte Methoden als die Mittel gegen organisierte Kriminalität gepriesen werden, heißt es in ihrem Bericht:
„Ein bedeutender Komplex konspirativer Maßnahmen (der OK-Täter, d.Verf) bezieht sich auf die Vorbereitung und Durchführung von geschäftlichen Zu-sammenkünften, sogenannter Treffs. (…) Treffs werden mit allen Raffinessen abgesichert. Mit den gängigen Mitteln (Observation, Telefonüberwachung) vermag die Polizei diese Hürde der Konspiration in der Regel nicht zu überwinden.“

Auffallend ist hier zunächst, daß so gravierende Mittel wie die Observation und das Abhören von Telefonen unterdessen als „gängig“ verstanden werden. Während die Observation noch auf ihre Verrechtlichung im Strafprozeßrecht harrt, ist sie in ihrer Wirkung bereits wieder eingeschränkt. „Die Telefon-überwachung ist – wie auch die Observation – bei der OK-Bekämpfung aufgrund des typischen Täterverhaltens in ihrer Bedeutung für die Beweisführung mehr und mehr eingeschränkt worden. Die Täterseite rechnet mit dem Abhören des Telefonanschlusses und hat sich darauf eingestellt.“
Auf die Gefahr, daß die Polizei die Organisierung des Verbrechens u.U. in-direkt fördern könnte, hat bereits 1974 Horst Herold hingewiesen:
„Für den Bereich der Bundesrepublik wird die Frage (ob eine Syndikatisierung des Verbrechens bereits eingetreten sei, d.Verf.) derzeit kategorisch zu verneinen sein. Mit der Beschränkung auf das Wort `derzeit‘ soll angedeutet werden, daß die Gefahr des Auftretens syndikatisierter Verbrechensformen in der Bundesrepublik keineswegs für immer ausgeschlossen scheint. Je mehr die Polizei ihre Abwehr- und Verfolgungsstrategien gegenüber der Kriminalität intensiviert, technisch und intellektuell verfeinert, je mehr sie die elek-tronische Datenverarbeitung in ihren Dienst stellt und die kriminalistischen Arbeitsweisen verwissenschaftlicht, desto mehr trägt sie tendenziell zur In-tellektualisierung und Technisierung des Verbrechens bei. Wenn das berufs-mäßige Verbrechen gegenüber den modernen Arbeitsweisen der Polizei gleichsam `überleben‘ will, muß es sich in einer Art `krimineller‘ Gegenmacht organisieren, um als Organisation die Schlupfwinkel zu bieten, die der einzelne nicht mehr hat.“

Eine Syndikatisierung, wie sie von Herold befürchtet wurde, ist bisher nicht eingetreten. Herolds Befürchtung dürfte aber nicht von der Hand zu weisen sein.

Kampf um Begriffe – nicht nur eine akademische Übung

Den Streit um Definitionen sehen die Innenminister heute als beendet an.
„Die Politik hat die Existenz von OK inzwischen nicht nur anerkannt, sondern weitgehend ihre Bekämpfung zu einer Priorität erhoben mit nunmehr einer Reihe von Initiativen auf dem Feld der Legislative und Exekutive“, erklärt der Leiter des Fachbereichs Kriminologie der Polizei-Führungsakademie, Zimmermann. Der Entwurf des „Gesetzes zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität“ scheint auf keine großen Widerstände mehr zu stoßen. Das Hamburger Polizeigesetz ist nach dem Bayerns das zweite, das eine OK-Definition verrechtlicht. Die Öffentlichkeit hat sich an den Begriff gewöhnt. Ereignisse, die sich unter diese Rubrik fassen lassen, werden ihr fast täglich geliefert: groß angelegte Subventionsbetrüge, Gefährdung von Mensch und Natur durch die Verschiebung von Sondermüll, Ausbeutung und Erniedrigung von Menschen als Objekte des Prostitutionshandels oder als billige Arbeitssklaven, Verkauf von Waffen und Rüstungstechnologie an Diktaturen … Die Kette reißt nicht ab und Empörung darüber ist berechtigt.

Trotzdem ist nichts gewonnen, wenn diese Empörung in spektakuläre Be-grifflichkeiten gepackt und in Bahnen gelenkt wird, die zu nichts anderem taugen, als zur Rechtfertigung gefährlicher Polizeimethoden, deren Effekti-vität überdies mehr als fraglich ist. Der Begriff der Organisierten Kriminali-tät führt in die Irre.

Denn obwohl die Vertreter dieses Konzepts mit Verve das Gewinnstreben als Motiv der OK geißeln, rücken sie für die Definition des Begriffs ein eher se-kundäres Kriterium dieser Geschäfte in den Vordergrund: deren Illegalität. Die Folge ist, daß ein künstlicher Unterschied zwischen legaler und illegaler Wirtschaft aufgebaut wird. Dies, obwohl die besseren polizeilichen Studien klarlegen, daß die Grenze zwischen beiden Sphären mehr als durchlässig ist. Wenn Profitmaximierung die zentrale Triebkraft illegaler Geschäfte ist, so macht es keinen Sinn zu erklären, Organisierte Kriminalität sei letztlich nichts anderes als der systematische Versuch, sich der staatlichen Strafverfolgung zu entziehen. Nicht die staatlichen Strafgesetze, sondern die Gesetze des Marktes bestimmen die illegalen Geschäfte.

Eine künstliche Trennung von legalen und illegalen Geschäften führt ferner dazu, der legalen Ausbeutung generell einen Persilschein auszustellen und von einer Infiltration der OK in die Wirtschaft zu reden. Die legalen Speku-lationsgeschäfte im Immobiliensektor, der legale Waffenhandel mit Diktaturen, der legale Export von hierzulande verbotenen Pharma-Produkten in die Dritte Welt sind nur einige Beispiele dafür, daß Legalität nicht unbedingt auch ein soziales und moralisches Gütezeichen ist.

Verdrängt wird gleichzeitig, daß nicht jeder illegale Markt automatisch ge-walttätige Folgen nach sich zieht oder zur Entstehung von Verbrechenssyndi-katen führt. Daß in der Bundesrepublik und anderen nordeuropäischen Ländern der Handel mit z.T. denselben Waren nicht wie in Italien, in den USA oder in Kolumbien zur Bildung mafioser Organisationen geführt hat, ist kein Zufall, sondern in erster Linie ein Ergebnis sozialer, ökonomischer und politischer Faktoren. In einer Situation, in der – wie Rebscher/ Vahlenkamp beschreiben – illegale Geschäfte viele verschiedene Spezialisten mit unterschiedlichen Qualifikationen zusammenbringen müssen – Anwälte, Bankfachleute, Wachpersonal, Techniker, Transporteure, Gewalttäter – und in der solche Geschäfte mit außerordentlichen Risiken verbunden sind, würde die Gründung fester Syndikate an wirtschaftlichen Selbstmord grenzen. Hinzu kommt, daß in der BRD eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von mafiosen Organisationen fehlt: die ausgeprägte Tradition des Klientelismus und der Protektion durch einflußreiche Politiker und Vertreter der „Sicherheits“kräfte. Wer die Entstehung von mafiosen Organisationen verhindern will, muß deshalb in erster Linie von den gesellschaftlichen Bedingungen und den Strukturen des Herrschaftssystems (einschließlich Polizei, Militär und Justiz) reden, die die Bildung solcher Formen erst ermöglichen.

Dieser Wechsel des Blickwinkels und der Begrifflichkeit ist nicht nur akade-mische Spielerei. Zur Bekämpfung von „Organisierter Kriminalität“ wird als Mittel in erster Linie die Polizei und das Strafrecht empfohlen. Damit erteilt man den Ermittlungsbehörden einen Auftrag, dem sie allenfalls am Rande gerecht werden können. Sie können Fälle aufklären, nicht aber die Nachfrage nach illegalen Gütern und Dienstleistungen beseitigen. Sie werden durch den Auftrag zur OK-Bekämpfung in ihren eigenen Strukturen jedoch so verändert, daß sie selbst eine Gefahr für die Demokratie darstellen können. Der Blick in die USA, der am Anfang der bundesdeutschen OK-Debatte stand, hätte sich deshalb ebenso auf die Machtkonzentration, die Strukturen und die nicht unproblematischen Methoden der US-Polizeien FBI und DEA und mehr noch der Geheimdienste beziehen müssen.
Gefragt ist also in erster Linie nicht die Polizei, sondern die Politik.

Heiner Busch ist Redaktionsmitglied und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.