CILIP: Herr Dr. Lisken, Sie sind Polizeipräsident in Düsseldorf, einer Groß-stadt mit den üblichen Problemen, die Großstädte haben, dazu in einem grenznahen Bereich. Welche Probleme erwarten Sie infolge der bevorstehenden Öffnung der Binnengrenzen? Es heißt ja, es entstehen dann große Si-cherheitsdefizite und deshalb müßten Ausgleichsmaßnahmen geschaffen werden. Wo sehen Sie für Ihren Zuständigkeitsbereich Sicherheitsdefizite?
Lisken: Also noch sehe ich keine Sicherheitsdefizite. Wir sind gerade hier in Düsseldorf, insbesondere an den Wochenenden, ausländische Besucher gewohnt. In dieser Stadt wohnen ohnehin sehr viele Ausländer, und auch in der Vor-weihnachtszeit kommen ungezählte Autobusse aus den Niederlanden mit Besuchern, potentiellen Einkäufern. Insoweit haben sich hier noch nie zu-sätzliche Sicherheitsprobleme ergeben. Wir hatten höchstens Verkehrsprobleme, aber ein verstärktes Kriminalitätsaufkommen oder auch nur eine Steigerungsrate bei der Ausländerkriminalität haben wir nicht zu ver-zeichnen. Das gilt auch im Zuge der Zuwanderung von Flüchtlingen oder sonstigen Zureisenden, insbesondere aus den Ostgebieten, eine signifikante Steigerung der Ausländerkriminalität ist nicht zu beobachten.
CILIP: Die Argumente, die stets ins Feld geführt werden, sind die organisierte Kriminalität, der Drogenhandel und die illegale Einwanderung. Die Niederlande mit ihren Überseehäfen gelten zudem als Transitland für Drogen. Das alles würde nach der offiziellen Lesart dann auch verstärkt auf Düsseldorf zukommen. Ihr Innenminister hat vor kurzem als erster einen Lagebericht über organisierte Kriminalität vorgestellt.
Lisken: Ja, wenn man die Geschichte der Kriminalität dieser Welt verfolgt, dann hat es immer Kassandra-Rufe gegeben. Selbst im vorigen Jahrhundert gab es einen Aufstand der Polizeichefs als in Preußen etwa der Richtervorbehalt für Freiheitsentziehungen eingeführt wurde. Dem preußischen Innenministerium wurde dringend nahegelegt, darauf zu verzichten, ansonsten würde man die Kriminalität nicht mehr in den Griff bekommen. Das alles ist nicht Wahrheit geworden. Kriminalität gibt es ebenso wie andere Übel in der Gesellschaft. Man kann also, andersrum gesprochen, mit polizeilichen Methoden die Kriminalität nicht ausrotten. Es gibt Einzelproblemfälle und die sind abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lage. Es ist also ganz maßgeblich eine Frage der gelebten Moral insgesamt. Ich glaube z.B., wenn wir eine Drogenpolitik hätten wie in den Niederlanden, dann wäre das Problem des grenzüberschreitenden Kleindrogenhandels sicherlich geringer.
CILIP: Wenn ich Sie richtig verstehe, sind die allseits befürchteten Sicherheitsdefizite für Sie kein Problem und dementsprechend gibt es auch keine Veränderung in der Polizeiarbeit. Gibt es in Düsseldorf Vorbereitungen auf die Grenzöffnung am 1. Januar 1993?
Lisken: Ich würde nicht sagen, es gibt keine Probleme. Nur weiß ich heute nicht, welche Probleme sich nach dem 1.1.1993 einstellen werden. Aber wir müssen doch berücksichtigen, daß wir faktisch seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten offene Grenzen haben. Ich selber bin schon durch Europa gefahren, ohne daß ich meinen Paß gebraucht hätte. Und wenn dieser Zustand demnächst die Regel wird, wird sich an der Mobilität des Publikums nicht viel ändern. An den Kontrollen, den tatsächlichen Kontrollen wird sich wenig ändern. Wir haben doch jetzt schon offene Grenzen. Ich weiß gar nicht, um was es sich handelt, wenn gesagt wird, wir brauchen innerstaatliche Ausgleichsmöglichkeiten, um eine ähnliche Kontrolldichte zu schaffen. Ich muß doch zunächst mal fragen, welche Möglichkeiten fallen denn weg? Der Grenzbereich, der staatsrechtliche, der politische Grenzbereich bleibt ja bestehen. Und eine Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes ist auch nicht in Aussicht genommen, und darin steht ja nach wie vor, daß der BGS im Grenzbereich nach wie vor jedermann kontrollieren kann, der die Grenze überschreiten will, sofern er diese Kontrolle aus sachlichen Gründen für notwendig hält. Es ist also nicht zwingend, daß ich unkontrolliert die Grenze nach Holland passiere. Es soll nur die Regelkontrolle wegfallen, und die ist seit langer Zeit ohnehin weggefallen.
CILIP: Stichwort BGS. Mir liegt ein Bericht Ihres Innenministers1 vor, wonach der Bundesgrenzschutz an der Grenze Nordrhein-Westfalen/Niederlande mit 270 Beamten weiterhin sog. Kontaktdienststellen besetzt halten und auch Kontrollstellen aufbauen soll- und sofern Nordrhein-Westfalen feststellt, daß diese Maßnahmen des Bundes nicht ausreichen, sollen zusätzlich auf Landesebene eigene Maßnahmen getroffen werden. Ist es da nicht Augenwischerei, vom Wegfallen der Binnengrenzen zu sprechen?
Lisken: Ich höre das, was Sie sagen, jetzt zum erstenmal. Aber es ist gut, wenn der Bundesgrenzschutz weiterhin in der Nähe der Grenze stationiert bleibt, damit man ihn je nach Bedarf einsetzen kann. Für die Grenzkontrollen ist nach dem Bundesgrenzschutzgesetz er zuständig und nicht die Landespolizei. Die Landespolizei hat keine vergleichbaren Befugnisse. Deswegen fragen manche auch, was der bayerische Innenminister im Sinn hat, wenn er sagt, es müsse erwogen werden, ereignis- und verdachtsunabhängige Kontrollmöglichkeiten für die Polizei einzuführen. Er sagt, dies sei auch notwendig zum Ausgleich der wegfallenden Grenzkontrollen. Sie müssen ja nicht zwingend wegfallen. Wegfallen müssen sie im Zuge des Schengener Abkommens als Regeltatbestand, aber einen solchen Regeltatbestand haben wir ja heute auch nicht mehr.
CILIP: Wie sind nach Ihrer Meinung diese ganzen Unkenrufe um das Sicherheits-defizit dann einzuschätzen?
Lisken: Ja, es ist sehr schwer, die genannten und die nicht ausgesprochenen Motive der Diskussionsbeteiligten immer genau zu erkennen. Es ist nicht zu leugnen, daß die Grenzkontrollmöglichkeiten, die wir haben, in der Vergan-genheit zu etlichen Kontrollen und vielen Aufgriffen an den Grenzen geführt haben. Aber wir erleben, daß in den letzten Jahren zunehmend die Grenz-kontrollen nicht praktiziert werden. Und so haben wir bis 1993 doch An-schauungsmaterial, was eine zunehmend dünner werdende Grenzkontrolle für innerstaatliche Auswirkungen hat. Bisherige Erfahrungen deuten eben nicht darauf hin, daß ab 1993 ein innerstaatliches Chaos ausbricht, also dann die Kriminalität oder die importierte Kriminalität ins Grenzenlose überschäumen könnte. Deswegen plädiere ich in diesem Punkte für etwas mehr Gelassenheit. So habe ich beispielsweise gegen die vorsorgliche Schaffung von Möglichkeiten im Inland jedermann, ohne jeden Grund, zu jeder beliebigen Zeit, zu kontrollieren, erhebliche Bedenken. Ganz abgesehen davon, daß die Schaffung einer solchen Befugnis wahrscheinlich verfassungsrechtlich nicht zulässig ist. Niemand ist verpflichtet, einen Ausweis bei sich zu tragen. Niemand schuldet – außer vielleicht seinen Angehörigen – anderen Rechenschaft darüber, wohin er geht und was er auf dem Spaziergang tut.
CILIP: Nun, dies würde sich zwangsläufig ändern müssen, wenn ich jederzeit damit rechnen müßte, in eine Kontrollstelle hineinzugeraten. Wird sich die allgemeine Polizeiarbeit also ändern nach ’93?
Lisken: Sie würde sich dann inhaltlich ändern, wenn die Polizei mit einer Befugnis zur Jedermannkontrolle – zu jeder Zeit an jedem Ort – ausgerüstet würde, und die Polizei personell in der Lage wäre, von dieser Befugnis Ge-brauch zu machen. Dann würde sich das Verhältnis zum Publikum, glaube ich, grundlegend ändern. Dann würde das Verhältnis zur Polizei notwendigerweise aggressiv. Das ist eine ganz ambivalente Geschichte: Auf der einen Seite Si-cherheit zu produzieren und auf der anderen Seite die Sicherheit methodisch so zu installieren, daß sie akzeptiert wird. Wir könnten sicherlich eine Menge Kriminalität vorbeugend in den Griff bekommen, wenn wir jeden Bürger mit seiner Blutgruppe und seinen Genmerkmalen registrieren würden, was man ja heute kann. Wir hätten viel leichtere Sachbeweise bei irgendeinem Verbrechen. Man würde sehr viel schneller dem Täter auf die Spur kommen. Man könnte auch bei jedem Einreisenden so etwas machen. Ich bin ganz sicher, daß das Publikum sich gegen diese Art von Registrierung wehren würde.
CILIP: Also, im Düsseldorfer Präsidium gibt es keine Arbeitsgruppen, die Pläne erarbeiten, wie die hiesige Polizei nach dem 1.1.93 arbeiten soll.
Lisken: Nein, aber wir sind ja auch keine Grenzbehörde. Für uns ändert sich wahrscheinlich auf absehbare Zeit nichts oder jedenfalls so wenig, daß wir es nicht auf Anhieb spüren werden.