Neue Wege in der polizeilichen Datenverarbeitung – Dezentralisierung des Technikeinsatzes und Erschließung neuer Anwendungsgebiete

von Martin Schallbruch und Sven Mörs

Unter den Bedingungen der aufwendigen und unflexiblen Groß-rechnertechnologie beschränkte die Polizei den Einsatz der Daten-verarbeitung (DV) in den siebziger Jahren vor allem auf den Be-reich der Fahndung. Mit den seit einigen Jahren zur Verfügung stehenden preiswerten und vielseitig verwendbaren DV-Anlagen begann die Polizei, neue Anwendungsgebiete zu erschließen.

Veränderungen in der DV-Infrastruktur

Seit Mitte der achtziger Jahre liegt ein Schwerpunkt der Entwicklung poli-zeilicher Datenverarbeitung auf der Bereitstellung universell nutzbarer Infra-struktur. Dies betrifft insbesondere die Bereiche Vernetzung und dezentrale Datenverarbeitung. Beide werden im folgenden kurz beleuchtet.

Im Bereich der Vernetzung versucht die Polizei, durch die Schaffung landes-weiter einheitlicher Netze die DV-Landschaft zu ordnen: Zentrale Daten-sammlungen sollen dezentral verfügbar gemacht, unterschiedliche Rechnerklassen – von den Großrechnern des BKA und der Landeskriminalämter (LKÄ) über Mehrplatzsysteme in den Polizeidirektionen bis hin zu Personalcomputern auf örtlicher Ebene – miteinander verbunden werden. Gleichzeitig wird eine Integration der verschiedenen polizeilichen Sondernetze angestrebt. Dies betrifft z.B. die Fernsprech-, Fernschreib- und Datenübertragungssondernetze. Langfristig sollen diese Netze unter Nutzung der ISDN-Technologie (Integrated Services Digital Network) in einem einzigen bundesweiten Sondernetz (Digitales Sondernetz der Polizei – DISPOL) zur Übertragung von Sprache, Text, Daten und Bildern zusammengefaßt werden. Erste Ansätze zur Integration einzelner Sondernetze lassen sich bereits in Bayern und Baden-Württemberg beobachten. Dort wurden zunächst das Fernschreib- und das Datensondernetz zusammengefaßt.
Zwar liegt die Realisierung des bundesweiten DISPOL-Netzes vorläufig noch in weiter Ferne. Die Polizei hat aber die diesbezüglichen Überlegungen keineswegs zu den Akten gelegt, und mit der zunehmenden Ausbreitung ISDN-basierter Telekommunikationstechnik in der Bundesrepublik ist damit zu rechnen, daß die Realisierung des DISPOL weiter verfolgt werden wird.

Aufgrund der rasanten technischen Entwicklung ist es heute möglich, re-chenintensive Anwendungen wie z.B. Datenbanksysteme auch auf Personalcomputern mit kurzen Antwortzeiten und zu einem Bruchteil der Kosten von vor zehn Jahren zu betreiben. Gleichzeitig ist die Programmierung dieser Systeme durch vergleichsweise einfach zu bedienende Benutzeroberflächen3 nicht mehr nur DV-Spezialisten vorbehalten. Diese und weitere Einflußfaktoren führen dazu, daß DV-Technik zunehmend auch an kleineren Standorten und für Aufgaben eingesetzt werden kann, bei denen ein DV-Einsatz aus Kostengründen bisher nicht vorgesehen war. So werden vielfach Daten, die bisher in Handkarteien geführt wurden, nun auf Personalcomputern erfaßt. Dadurch sind ein schnellerer Zugriff auf die Daten und neue Auswertungsverfahren möglich.
Es entstehen aber auch einige unerwünschte Nebeneffekte. Die polizeiliche Datenverarbeitung ist durch die Dezentralisierung zunehmend unüberschaubar geworden – nicht nur für den kritischen Beobachter, sondern auch für die Polizei selbst. Dies hat in der Vergangenheit zum Teil zur Anschaffung in-kompatibler Rechnersysteme und zu unökonomischer Parallelentwicklung gleichartiger Anwendungssoftware geführt. In einigen Bundesländern versucht die Polizei, zumindest das Problem der Hardware-Inkompatibilität mit der Schaffung integrierter Rechnerkonzepte zu lösen. So hat sich z.B. die Polizei Nordrhein-Westfalens für den flächendeckenden Einsatz von mehrplatzfähigen Personalcomputern unter dem Betriebssystem UNIX entschieden.
Bei den Anwendungsprogrammen wird ebenfalls versucht, Standardprodukte einzusetzen oder die bereits speziell für polizeiliche Bedürfnisse entworfenen Programme einem größeren Nutzerkreis zugänglich zu machen. An die Stelle zentral entwickelter „Verfahren“, deren Ablauf genau festgelegt ist, treten in großem Umfang kleinere Programme, die von den Anwendern selbst entwickelt werden. Für welche polizeilichen Aufgaben vorhandene Rechner eingesetzt werden, bleibt zunehmend den Anwendern überlassen.

Beispiel: „Polizeiliches Anwenderorientiertes Recherche- und Informations-system (PARIS)“ in Nordrhein-Westfalen

In Nordrhein-Westfalen steht für die PCs in den örtlichen Polizeidienststellen das universell verwendbare relationale5 Datenbanksystem UNIFY zur Verfügung. Für UNIFY entwickelte ein Softwarehaus die Benutzeroberfläche PARIS, die seit 1987 zum Einsatz kommt. PARIS ermöglicht den Anwendern die Erstellung selbstdefinierter UNIFY-Datenbanken, Bildschirmmasken und Auswertungsprogramme. Ohne Beteiligung einer EDV-Abteilung kann jede Fachdienststelle ein datenbank-gestütztes Verfahren entwickeln und einsetzen, mit dem das Erfassen, Ändern, Löschen und Suchen beliebiger Daten möglich ist.
Eine Aufzählung der konkreten PARIS-Anwendungen ist hier nicht möglich, einige bekanntgewordene Beispiele sollen daher die Möglichkeiten des Systems demonstrieren:
– Bei der „Universiade“, die im August 89 in Duisburg stattfand, wurde PARIS im Führungsstab zur kompletten Planung und Durchführung eines neuntägigen Großeinsatzes benutzt.
– Bei einem Ermittlungsverfahren im Bereich der organisierten Kriminalität wurde mit PARIS eine Personen- und Firmendatenbank sowie ein Nachweissystem für Ermittlungsakten erstellt.
– In mehreren Fällen wurden PARIS-Anwendungen in Ermittlungsverfahren gegen Ärzte eingesetzt, die des Abrechnungsbetrugs verdächtig waren. In einem Fall wurden 3.200 Patienten-Datensätze mit ca. 20.000 abgerechneten Einzelleistungen erfaßt und in vielfältiger Form ausgewertet.

Das letzte Beispiel macht deutlich, welche Datenschutzprobleme durch diese schwer zu überblickende dezentrale Programmentwicklung entstehen. Die Einhaltung des Datenschutzes mag in polizeilichen Großrechenzentren her-kömmlicher Art noch überprüfbar sein: Massenhafte dezentrale Datensammlungen entziehen sich jedoch der Kontrolle.

Veränderungen bei den Anwendungen

Hauptziel herkömmlicher Anwendungen ist die schnelle Bereitstellung von Daten über Personen (Tatverdächtige, Opfer, Geschädigte) und Sachen (z.B. gestohlene Kfz). In den letzten Jahren sind neue Anwendungsbereiche der polizeilichen DV hinzugekommen; besonders wichtig sind dabei die Vorgangsverwaltungs- und Einsatzleitsysteme.

Vorgangsverwaltung

Anfang der 80er Jahre entschieden sich mehrere Bundesländer, die Vor-gangsverwaltung als neuen Schwerpunktbereich der Automatisierung festzulegen. Damit sollten die Polizeibeamten von der aufwendigen und zeitraubenden Verwaltungsarbeit entlastet werden, die sich mit der Tagebuchführung, dem Erstellen von Anzeigen, der Bearbeitung von Ersuchen der Staatsanwaltschaften usw. verbindet.

Beispiel: „Automatisierte Vorgangsverwaltung (AVV)“ in Nordrhein-Westfalen

Seit 1989 wird bei der Kriminalpolizei in Nordrhein-Westfalen ein dezentrales System zur Vorgangsverwaltung flächendeckend eingeführt. Die Hardware besteht aus dezentralen mehrplatzfähigen UNIX-Rechnern; die landeseinheitliche Software wird vom LKA erstellt und gewartet.
Die erste Stufe der AVV besteht in der Führung des Kriminaltagebuchs. Zur Zeit können elf verschiedene Vorgangsarten mit dem System erfaßt werden, so z.B. Strafanzeigen, Vermißtensachen, Vernehmungs-, Durchsuchungs- und Inhaftierungsersuchen. Bei Anlage eines Vorgangs werden alle wesentlichen Informationen erfaßt und nach und nach erweitert. Dies gilt sowohl für Bearbeitungsdaten (zuständige Dienststelle, Aktenzeichen, Schriftverkehr) als auch für den Inhalt des Vorgangs. Bei Strafanzeigen werden z.B. auch Delikt, Tatort und Tatzeit, Anzeigesteller, Tatverdächtiger sowie Sachbeschreibungen gespeichert.
Die gespeicherten Vorgangsdaten werden zur Auskunft über den Bearbeitungsstand und zum Nachweis von Unterlagen genutzt. Bestimmte zu Verwaltungszwecken erforderliche Auswertungen der Daten erfolgen automatisch, so z.B. der Tagesbericht oder die Haftliste. Daneben werden aber auch Regelauswertungen durchgeführt, die zur Vorbereitung repressiver oder präventiver polizeilicher Maßnahmen benutzt werden, wie etwa eine „Deliktbrennpunktliste“. Die Benutzer haben außerdem die Möglichkeit, Recherchen mit selbstgewählten komplexen Kriterien durchzuführen (z.B. „Geschäftseinbrüche zwischen 13 und 15 Uhr in einem bestimmten örtlichen Bereich“). Die Vorgangsverwaltung dient damit nicht allein der Rationalisierung von Verwaltungstätigkeit, sondern auch der Bereitstellung kriminaltaktischer Daten. Außerdem ist der Zugriff auf INPOL- und PIKAS -Anwendungen möglich. In weiteren Ausbaustufen soll AVV auch zur automatischen Erzeugung kriminalpolizeilicher Meldungen und zur Erstellung der Kriminalstatistik genutzt werden.

Auch in Niedersachsen wird seit 1.1.88 bei den Kriminalkommissariaten ein dezentrales Vorgangsverwaltungs-System eingesetzt. Daneben gibt es in diesem Bundesland auch bei der Schutzpolizei ein spezielles System: das Dezentrale, Integrierte System zur komplexen Unfallbearbeitung bei der Schutzpolizei (DISKUS), das schon seit Anfang 86 erprobt und inzwischen an mehreren Orten eingesetzt wird. DISKUS unterstützt die Verkehrspolizei vor allem bei der Bearbeitung von Ordnungswidrigkeiten, aber auch bei der Ursachenuntersuchung von Verkehrsunfällen.
In weiteren Bundesländern befinden sich AVV-Projekte im Planungs- oder Versuchsstadium.

Einsatzleitsysteme

Ein weiterer Schwerpunkt der Automatisierung bei der Polizei liegt auf der DV-Unterstützung für Einsatzleitzentralen, bei denen die über „110“ eingehenden Notrufe sowie Meldungen von Überfall- und Einbruchmeldeanlagen auflaufen. Die Einsatzleitzentralen veranlassen und koordinieren dabei die einzelnen Polizeieinsätze.
1975 wurde in Bonn das von der Firma Siemens entwickelte „EZ 2000 P“ als erstes polizeiliches Einsatzleitsystem der Bundesrepublik in Dienst gestellt. Heute werden in den meisten größeren Städten der alten Bundesländer die Einsatzleitzentralen der Polizei durch Einsatzleitsysteme (ELS) unterschiedli-cher Leistungsfähigkeit dv-technisch unterstützt.

Beispiel: „Computergestützte Einsatzleitung, Bearbeitung und Information“ (CEBI)

Die meisten Installationen weist das 1979/80 gemeinsam vom LKA Nordrhein-Westfalen und der Firma IBM entwickelte ELS „CEBI“ auf. Es wird gegenwärtig bei den Polizeipräsidien in Köln (seit 1980), Düsseldorf (1980), Bonn (1984) und München (1986) in z.T. verschiedenen Varianten eingesetzt.
In CEBI werden verschiedene für Polizeieinsätze relevante Daten gespei-chert. Dazu gehören
– örtliche räumliche Gegebenheiten (Straßen, Plätze, Kreuzungen etc.) und Objekte (z.B. Banken, Behörden, Theater, Gaststätten).
– Einsatzstichworte (z.B. VUP = „Verkehrsunfall mit Personenschaden“). Für jedes Stichwort ist im System ein Katalog mit einsatztypischen Maßnahmen gespeichert.
– Einsatzmittel (z.B. Funkstreifenwagen) und deren Verfügbarkeit.
– Einsätze der letzten 15 Tage.
– Sonstige Daten (z.B. Namen und Adressen von Abschleppunternehmen, Dolmetschern oder Seelsorgern).
Das System ist in der Regel mit dem jeweiligen INPOL-Land-Verfahren, dem örtlichen Funkmeldesystem und den Überfall- und Einbruchmeldeanlagen verbunden. Für jeden Einsatz werden zunächst die Daten des Meldenden, das Einsatzstichwort und der Einsatzort eingegeben. Das System unterstützt dabei die genaue Lokalisierung des Einsatzortes und schlägt je nach Einsatzart entsprechende Maßnahmen und Einsatzmittel vor, aus denen der Sachbearbeiter auswählen kann. Alle Aktionen des Sachbearbeiters werden mit Datum und Uhrzeit protokolliert.
CEBI gestattet darüber hinaus die Erstellung von Auswertungen und Statistiken z.B. nach Einsatzarten, Zeiträumen und räumlichen Kriterien.

Fazit

Die Entwicklung bei der Polizei unterscheidet sich kaum von gleichartigen Tendenzen in der übrigen öffentlichen Verwaltung. Die Anwender sind nicht mehr nur Nutzer vorgegebener zentraler Verfahren, sondern setzen DV-Technik zunehmend auch in eigener Verantwortung ein. Die Datenverarbeitung wird damit stärker in die einzelnen Arbeitsabläufe eingebunden. Diesem qualitativen Gewinn für die Sachbearbeiter steht eine zunehmende Unübersichtlichkeit gegenüber. Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Kontrolle der Datenverarbeitung erschwert.

Martin Schallbruch und Sven Mörs sind Informatikstudenten an der TU Berlin; ihre Arbeitsschwerpunkte sind Datenschutz und Verwaltungsinformatik.
Mit Fußnoten im PDF der Gesamtausgabe.