von Sabine Strunk und Norbert Pütter
Kaum ein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht von ihr berichten, kaum ein Wochenende, an dem ein Politiker nicht zu ihrer Bekämpfung aufruft, kaum ein Monat, in dem nicht eine Partei wieder neue Beschlüsse faßt, die ihre effektive Bekämpfung endlich ermöglichen sollen – die Rede ist von „der Organisierten Kriminalität“. Am Beispiel Berlin wird beleuchtet, wie sich die OK-Kampagne politisch-polizeilich in einer Stadt niederschlägt, von welchen Motiven sie begleitet ist und welche Auswirkungen sie hat.
Im April ’93 wartete das Kunstamt von Berlin-Spandau auf die Exponate für die Ausstellung „Stalingrad/ Wolgograd“. Der LKW mit der Ladung hatte Wolgograd am 23.3. verlassen und galt als verschollen. Die Öffentlichkeit spekulierte bereits über „einen Raubzug der ‚Russen-Mafia'“. Als die Fracht am 9.4. Berlin erreichte, erklärte der Fahrer seine Verspätung mit Grenzproblemen und Reparaturen am Fahrzeug.
Anfang Mai’93 brach in einer Berliner Pizzeria ein Brand aus. Eine Tages-zeitung spekulierte über mögliche „Schutzgeld-Erpressung“. Ein „junger Mann“ wurde zitiert: „‚Mafia! Ist doch ganz klar … und die Wirte wollten wohl nicht zahlen.'“ Am nächsten Tag war der Fall geklärt: es war ein versuchter Versicherungsbetrug des Eigentümers der Pizzeria.
Die Liste der Fälle ließe sich beliebig verlängern. Dennoch sagten die Bei-spiele nichts über die Existenz oder das Ausmaß organisierter Kriminalität aus. Daß aber mittlerweile die unterschiedlichsten Phänomene anscheinend umstandslos der ‚Organisierten Kriminalität‘ zugeschrieben werden, belegt aber die ungewöhnliche Popularität dieses Konzepts. Nicht allein einzelne Straftaten, selbst Pannen oder andere unerwünschte Ereignisse haben endlich eine benennbare Ursache: Organisierte Kriminalität.
OK-Bedrohungen
Die Beliebtheit der Diagnose ‚OK‘ kommt nicht von ungefähr. Berlin hat in seinem Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) einen besonders engagierten Warner vor den Gefahren „der Organisierten Kriminalität“. Im April kündigte er ein verschärftes Vorgehen gegen den illegalen Zigarettenhandel an. Die zumeist vietnamesischen Händler mißbrauchten das ihnen gewährte Gastrecht und dienten „als Helfershelfer der Verfestigung der organisierten Kriminalität“. Ende August verkündete der Innensenator, das Organisierte Verbrechen habe sich bereits „Westeuropa als Wirtschaftsgebiet erschlossen“ und bedrohe die legale Wirtschaft, weil die illegalen Gewinne zu Wettbewerbsverzerrungen führten. Im September stellte er klar: Schwarzarbeit sei kein Kavaliersdelikt, sondern „eine weitere Variante der Organisierten Kriminalität“. Verbunden mit der Bilanz von „zahlreichen Sondereinsätzen“ der Berliner Polizei hatte er bereits im Frühjahr jene Bereiche aufgezählt, in denen er den organisierten „Kriminellen das Wasser abgraben“ will: „Auto-diebstahl, Schmuggel und Hütchenbetrug sind wichtige Einnahmequellen für das organisierte Verbrechen.“ Insbesondere das Hütchenspiel hat dabei die Aufmerksamkeit des Innensenators geweckt.
Die Berliner Debatte um die Hütchenspieler kann daher als gutes Beispiel dafür gelten, wie schnell durch gezielte Kampagnen simple Betrüger im öffentlichen Bewußtsein zu Schwerstkriminellen werden, wenn man sich nur des OK-Vokabulars bedient.
Hütchenspieler
Tatsächlich gehörte das Hütchenspiel in Berlin, wie auch in anderen Städten, nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Länder zu den stark boomenden illegalen Gewerbezweigen und seine Verbreitung zu einer der sichtbarsten Veränderungen im Stadtbild. Der Trick besteht im wesentlichen darin, den SpielerInnen vorzutäuschen, sie könnten auf einfache Weise sehr viel Geld gewinnen, indem sie geschickter als der Betreiber selbst sind. Diese Hoffnung erweist sich für diejenigen, die sich darauf einlassen, in den meisten Fällen als eine mehr oder weniger teuer erkaufte Erfahrung. Ohne jeden Zweifel handelt es sich bei dem vermeintlichen Geschicklichkeitsspiel um Betrug. Da jedoch alle Beteiligten (trotz der intensiven monatelangen Aufklä-rungskampagnen) begeistert und freiwillig daran teilnehmen, stellt es – da man den Menschen ihre Dummheit schlecht verbieten kann – eher ein öffentliches Ärgernis dar.
Empirische Belege oder ausführliche Begründungen dafür, daß hinter dem Hütchenspiel mehr als ein bandenförmiger Zusammenschluß von trickreichen Betrügern steht, lieferten jedenfalls weder Polizei noch Heckelmann. Zur ‚Organisierten Kriminalität‘ wird dieses lokale Phänomen nun, indem aus der Vielzahl der OK-Indikatoren diejenigen herausgegriffen werden, die – mit ein bißchen Phantasie und wiederholten Beschwörungen – auch für Hütchenspieler passend gemacht werden können. Eine lokale Bande läßt sich so leicht zur „Fußtruppe der organisierten Kriminalität“ stilisieren, hinter der sich die eigentlichen großen Verbrecher verbergen. Betrügerische Spielgewinne er-scheinen dann als die „Einnahmequellen des organisierten Verbrechens“, mit der weitere kriminelle Investitionen in anderen Bereichen ermöglicht werden. Wo das Etikett ‚organisiert‘ gebraucht wird, muß die Plausibilität dieser Annahmen nicht mehr bewiesen werden. Da hinter jeder sichtbaren Handlung eine gefährlichere – nicht sichtbare – Absicht vermutet wird, kann letztlich selbst die banale Beobachtung, daß „viele (Hütchenspieler) ein Gespür dafür entwickelt (haben), nicht-uniformierte Polizisten ausfindig zu machen“ , zu einem Indiz für organisierte Strukturen werden. Daß der Begriff mehr der Verfestigung vorgefertigter Vorurteile über ‚das organisierte Verbrechen‘ dient als einer realistischen Darstellung des Hütchenspiels, wird auch an der behaupteten Gewalttätigkeit der Hütchenspieler deutlich. Einzelfälle von Gewaltanwendung, die sich zudem nicht gegen einfache PassantInnen richteten, dienen zum Anlaß, um die Gemeingefährlichkeit der Hütchenspieler und eine allgemeine Bedrohungslage für die Bevölkerung zu beschwören. Schließlich wird – krönender Abschluß des Horrorgemäldes – den nun endlich verunsicherten BürgerInnen erklärt, weit Schlimmeres befände sich vom Ausland her auf dem Weg nach Berlin. So ist aus einem lokalen Problem am Ende ein Fall der ‚internationalen organisierten Kriminalität‘ wie aus den Lehrbüchern der Kriminalisten geworden. Aus dem selbstverschuldeten Verlust von einigen Hundert-Mark-Scheinen, die sich unterdessen im Laufe der Zeit für die Betreiber der ‚Spiele‘ gut und gern auf mehrere zig-Tausende summiert haben, wird in der Version des Berliner Innensenators eine Kriminalität mit besonderer „Sozialschädlichkeit“, aus einem gewalttätigen Zwischenfall eine „Gemeingefährlichkeit“, aus potentiellen Flüchtlingen eines Bürgerkriegsgebietes „ausländische Verbrecher“ und aus einer simplen Betrügerei ein „Problem der Inneren Sicherheit“ .
Polizeiliches Konzept und politische Praxis
Die Beschwörungen einer überwältigenden Bedrohung einer vorgeblich in-ternational operierenden ‚Organisierten Kriminalität‘ stehen hier nun freilich im eklatanten Widerspruch zu den eng umgrenzten räumlichen Schwerpunkten polizeilicher Razzien. „Vor allem im zentralen Stadtbereich“, so der Leiter des Großeinsatzes ‚Frühjahrsputz‘ Polizeioberrat Otto Dreksler, wolle die Polizei sich entschlossen zeigen, das Hütchenspiel zu unterbinden. Neben Alexanderplatz und Wilmersdorfer Straße konzentrieren sich die polizeilichen Razzien folglich auf den Kurfürstendamm. Vom Innensenator persönlich auf das Ziel festgelegt, den „Idealzustand eines Vorzeigeboulevards“ zu ver-wirklichen, ist der polizeiliche Einsatz dort längst nicht mehr auf die Verfolgung des Hütchenspiels beschränkt. Razzien gegen die Hütchenspieler bildeten vielmehr den Einstieg in einen übergeordneten „Kampf gegen Kriminali-tät und Verschmutzung“ . Nicht allein auf der sprachlichen Ebene wird mit dem polizeilichen City-Konzept eine Übereinstimmung zwischen Kriminalität und von bürgerlichen Sauberkeitsvorstellungen abweichenden Verhaltensweisen suggeriert. Seit dem 1.7.93 können sich in der dafür ins Leben gerufenen ‚Operativen Gruppe City West‘ 22 Männer und Frauen, befreit von Routi-neaufgaben, ganz den „Wünschen, Anregungen oder Beschwerden“ der Kudamm-Bummler widmen. Mit einer Reaktion auf Hütchenspieler hat die Aufstellung der ‚City-Cops‘ allerdings weniger zu tun als mit den Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit einer wichtigen CDU-Klientel, den in der ‚AG City‘ zusammengeschlossenen Geschäftsleuten auf Berlins Flaniermeile. Diese hatte zuerst eine private Wachschutztruppe in der Umgebung des Ku’damms patroullieren lassen, um BettlerInnen, Obdachlose und andere gesellschaftliche Randgruppen von Berlins Luxusmeile zu vertreiben. Um hier (sicherheits)politisch gegenzuhalten, wird seither mit hohem Personalaufwand polizeiliche ‚Innenstadthygiene‘ betrieben.
Daß es dem Senator hier tatsächlich weniger um das Hütchenspiel als vielmehr darum geht, mit dessen Kriminalisierung weiteren Forderungen nach Abschiebungen Nachdruck zu verleihen, macht die Bilanz des polizeilichen Aufwands deutlich: 5.638 Polizeibeamte schickte er 1991 an 166 Tagen in den Einsatz. Insgesamt 2.973 Spieler wurden überprüft; doch nur 36 Verfahren wegen Betrugsverdacht eingeleitet – eine bescheidene Zahl. Auch im ersten Halbjahr 1992 konnte von einem polizeilichem ‚Erfolg‘ bei lediglich elf eingeleiteten Verfahren nicht unmittelbar gesprochen werden. Weil den Hütchenspielern im Regelfall die Betrugsabsicht nicht nachzuweisen ist, wurden statt dessen 166 Verfahren wegen Verstößen gegen das Ausländergesetz und 134 wegen Verstößen gegen das Asylverfahrensgesetz von der Polizei eingeleitet. Als Grund mußte hier vor allem das Verbot der Erwerbstätigkeit herhalten. Seitdem dieses durch die Änderung des Asylverfahrensgesetz 1992 weggefallen ist, hat mittlerweile die Gewerbeordnung und das Berliner Straßengesetz die Funktion der Legitimierung polizeilichen Einschreitens übernommen. Auch vom 30 Abs. 2 des ‚Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungs-Gesetz‘ (ASOG), der die polizeiliche Ingewahrsamnahme selbst in Fällen einer „Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung“ ermöglicht, macht die Polizei im Falle der Hütchenspieler regen Gebrauch.
Letztlich ist die betriebene Kriminalisierung des Hütchenspiels auch für den justiziellen Umgang mit den Spielern nicht ohne Folgen geblieben. Als nach jahrelangem Streit mit der Justiz erstmals in Berlin Hütchenspieler ohne Ein-zelnachweis des Betrugs verurteilt wurden, triumphierte Heckelmann: „Da-rauf haben wir schon lange gewartet. Jetzt können wir ausländische Hütchenspieler, die wiederholt festgenommen werden, abschieben“. Die (vor-läufige) neue Rechtspraxis zeigt, wie leicht sich mit öffentlichkeitswirksamen Bedrohungsszenarien Verschärfungen in der Strafverfolgung durchsetzen lassen, solange mehr oder weniger plausibel behauptet werden kann, nur diese könnten eine Lösung des Problems bringen. So erklärte die Senatorin für Justiz Jutta Limbach (SPD) trotz vormaliger grundgesetzlicher Bedenken nunmehr ‚weichgekocht‘ im September, daß „es aus generalpräventiven Gründen erforderlich ist, gegen die in Berlin weiter um sich greifenden Straftaten von Hütchenspielern vorzugehen und der Erlaß eines Haftbefehls auch in Fällen minder schwerer Kriminalität bei Tätern ohne feste Inlandsbindung geboten sein kann.“
Hütchenspieler, OK und die Folgen
Im Kern besteht der Anlaß der Berliner Hütchenspieler-Debatte in einem ggf. als unangenehm empfundenen Phänomen. Es widerspricht den vorherrschenden Vorstellungen von Sauberkeit und richtigem Verhalten in der Öffentlichkeit, es stört das Umfeld der in den zentralen Bereichen ansässigen Geschäftswelt, und es paßt nicht in das Bild einer sauberen deutschen Metropole. Auf diesen gleichgerichteten Interessen baut die Politik des Innensenats. Durch die Zuordnung zur „organisierten Kriminalität“ wird ein einfaches Betrugsdelikt umstandslos zu einer Bedrohung unbekannten, aber gefährlichen Ausmaßes. Hat man das Hütchenspiel erst einmal rhetorisch entsprechend dramatisiert, wird nicht nur vorhandenes Unbehagen verstärkt, sondern auch polizeiliches Einschreiten legitimiert.
Die Konsequenzen sind habhaft: Erstens wird der Druck auf die Hütchenspieler mittels Polizei- und Asylrecht erhöht. Zweitens werden die Beurtei-lungsmaßstäbe der Gerichte aufgeweicht. Und drittens werden im Windschatten der Hütchenspieler-Debatte andere Randgruppen, die der Atmosphäre der Flaniermeilen abträglich sind, verdrängt.
Vorläufig profitiert jedoch hauptsächlich der Innensenator von seiner Politik. Er hat das Phänomen aufgegriffen und zu einem polizeilichen Problem ersten Ranges stilisiert. Er hat sich zum Sprachrohr des biederen Berliners gemacht, sich als energischer Crime fighter in Szene gesetzt und Handlungsfähigkeit demonstriert.
Das Beispiel verdeutlicht über den Berliner Aspekt hinaus auch das Kon-struktionsprinzip der aktuellen OK-Debatte in der Bundesrepublik: Alle rele-vanten Gefahren, so scheint es, gehen von der ‚Organisierten Kriminalität‘ aus. Die Bedrohung wird als so übermächtig dargestellt, daß im Einzelfall weder nachgewiesen werden muß, worin das ‚Organisierte‘ besteht, noch was die besondere Gefährlichkeit oder Sozialschädlichkeit ausmacht. Die Diagnose ‚OK‘ bietet den vorhandenen Unsicherheiten in der Bevölkerung ein vermeintlich klares Gegenüber. Daß selbst alltägliche Ereignisse, wie eingangs geschildert, ‚der Organisierten Kriminalität‘ zugeschrieben werden, zeigt, wie verbreitet das Bedürfnis nach Erklärungen und Orientierung ist. Mit ‚OK‘ hat man einen ‚Schuldigen‘ – auch wenn dieser aus nicht mehr als den vagen Vorstellungen über internationale Mafia oder hochprofessionalisierte Verbrechersyndikate besteht. Daß gerade wegen der Unschärfe die Verunsicherung weiter wächst, ist der kalkulierte Preis derartiger Politik. Wenn die eigene und gesamtgesellschaftliche Situation als von besonders gefährlichen Kriminalitätsformen bedroht interpretiert wird, können sicherheitspolitisch-polizeiliche Strategien mit der Hoffnung auf öffentliche Resonanz propagiert werden. Zur Diskussion stehen dann weder die Bedingun-gen, die die Bereitschaft erzeugen, angebotene Bedrohungsszenarien zu über-nehmen, noch ist eine nüchterne Betrachtung der Kriminalitätsentwicklung möglich. Im Schatten der behaupteten übermächtigen Bedrohung kann die politisch-polizeiliche Elite statt dessen über den großen Lauschangriff, die Beteiligung Verdeckter Ermittler an Straftaten oder den Einsatz der Nach-richtendienste zur OK-Bekämpfung debattieren. So hofft man, den handlungsfähigen starken Staat vorzutäuschen, um gesellschaftspolitisches Versagen zu kaschieren.