Das ‚Archiv Schnüffelstaat Schweiz‘ – Eine wichtige Gedächtnishilfe

von Catherine Weber und Jürg Frischknecht

Ende November 1989 präsentierte eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ihren Bericht zu den Aktivitäten des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes (EJPD). Gefunden hat die PUK dabei Staatsschutz- (Verfassungsschutz-) Karteikarten (sog. Fichen) und Akten von über 900.000 Personen . Nun war es wichtig, die Interessen der Bespitzelten wahrzunehmen, das erste und wohl auch einmalige Recht auf Akteneinsicht durchzusetzen, die Vernichtung der Dossiers zu verhindern und die Politische Polizei möglichst gleich ganz abzuschaffen – eine entsprechende Volksinitiative kommt voraussichtlich 1996 zur Abstimmung. Um alle diese politischen Anliegen durchsetzen zu können, wurde im Februar 1990 das Bürgerkomitee Schluß mit dem Schnüffelstaat gegründet.

Über 35.000 Personen haben unterdessen ihre Staatsschutzkarteikarten er-halten. Mehr als 5.000 Registrierte verlangten in einem zweiten, bürokratisch aufwendigen Verfahren zusätzlich die viel ausführlicher gehaltenen Akten. In beiden Fällen erhielten sie Fotokopien, die teilweise arg zensiert waren. Die Staatsschützer selbst nutzten die Situation zur Reorganisation und Modernisierung (sprich Computerisierung). Mittlerweile ist es in der Medien-Öffentlichkeit still geworden um diesen Fichenskandal.

Gegen die Strategie der Täter

Aber fünf Jahre sind nicht genug. In einem neuen Anlauf gegen das Vergessen geht das Komitee nun in die Offensive und fordert jetzt alle registrierten Personen und Organisationen dazu auf, ihre Fichen und Dossiers der eigens dafür gegründeten Stiftung Archiv Schnüffelstaat Schweiz (ASS) zur Verfügung zu stellen: Damit der stille Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu einem Zeitpunkt, wo die Betroffenen ihre Gegeninformationen noch einbringen können, erforscht werden kann.

Alles hatten die Behörden daran gesetzt, den Betroffenen ihre Fichen und Dossiers vorzuenthalten. Im Winter 1989/90 stemmten sie sich zuerst gegen das Einsichtsrecht – vergeblich. Der Druck der Registrierten – über 300.000 Personen verlangten schriftlich Einsicht in ihre Staatsschutzakten – und eine Kundgebung mit 35.000 Leuten waren stärker. Dann wurden in verschiedenen Kantonen Akten vernichtet, so in Zürich, Luzern und in Basel-Land. Auch Justizminister Arnold Koller mußte energisch daran gehindert werden, die Staatsschutzakten der Bundespolizei (BUPO) durch die Schlote der Müll-verbrennungsanlagen kurzerhand in den Himmel zu schicken.
Die Strategie war offenkundig: Aus den Augen, aus dem Sinn. Im Interesse der Täter wäre damit ein Stück Vergangenheit kurzerhand ‚entsorgt‘ worden.

Die Strategie des Komitees Schluß mit dem Schnüffelstaat war von Anbeginn eine andere. Es plädierte für ein Ausleuchten der ‚Alpen-Stasi‘, für eine Auseinandersetzung mit dieser Dunkelkammer der schweizerischen Wirklichkeit und setzte schließlich die Offenlegung der Fichen durch. Bereits 1990 wurde auch das Projekt eines Archivs Schnüffelstaat Schweiz (ASS) öffentlich pro-pagiert. Ein großer Teil der Registrierten hat inzwischen zu den Fichen auch die Dossiers der BUPO sowie die Akten kantonaler oder städtischer Politpo-lizeien erhalten. Höchste Zeit also, das Projekt zu realisieren.

Trägerin des Projekts ist die Stiftung Archiv Schnüffelstaat Schweiz (ASS), die in diesen Tagen gegründet wird. Die Rechtsform einer Stiftung garantiert, daß der formulierte Zweck eingehalten, und nicht von der nächsten oder über-nächsten Vereinsversammlung wieder neu definiert wird. Alt-Nationalrat Hansjörg Braunschweig (SP), der selber über Jahrzehnte hinweg vom Staatsschutz beobachtet wurde, ist bereit, das Präsidium der Stiftung zu übernehmen. Sein Buch ‚Freiheit kleingeschrieben! – Fichen und Folgen‘ war 1990 eine der ersten Publikationen zum Schnüffelstaat Schweiz. In der Zwi-schenzeit hat er, wie viele andere auch, zu seinen Karteikarten die entspe-chenden Akten erhalten: siebeneinhalb kg Papier!

Jetzt und nicht erst in 50 Jahren

Personen und insbesondere auch Organisationen werden derzeit aufgefordert, ihre Fichen und Dossiers dem ASS vollständig zur Verfügung zu stellen: Die Akten der Bundespolizei und der städtischen Politpolizeien; die Akten der kantonalen Nachrichtendienste ebenso wie die des militärischen Nachrichten-dienstes; die Akten der Stasi in der ehemaligen DDR und auch jene von pri-vaten Schnüffelagenturen.
Für die Rekonstruktion der Wirklichkeit ist es wichtig, daß neben den Fichen und Dossiers auch die Begleitkorrespondenz archiviert wird, auch wenn es sich dabei auf Behördenseite oft um Normbriefe handelt. Diese Briefwechsel dokumentieren den genauen Ablauf des Geschehens, und sie vermitteln oft erst einen Eindruck davon, wie hartnäckig die Betroffenen auf ihrem Einsichtsrecht beharren mußten und mit welchen Finten die Bürokratie die Beschnüffelten abzuschütteln versuchte.

Darüber hinaus sind alle dazu aufgerufen, dem ASS gleichzeitig einen persön-lichen Kommentar und eventuell vorhandene Gegendokumente und -beweise zu falschen Behauptungen der Politpolizei einzureichen. Dank solcher Ge-geninformationen werden Geschichtswissenschaftler ein weit präziseres Bild zeichnen können, als wenn sie sich lediglich auf unkommentierte Akten stützen müßten.

Das Archiv Schnüffelstaat Schweiz ist dabei keine Konkurrenz zum ‚Schweize-rischen Bundesarchiv‘. Im Gegenteil, das Komitee hat stets dafür plädiert, daß die (unzensierten) Original-Staatsschutzakten erhalten bleiben und dem Bundesarchiv übergeben werden sollen. Nur ist die Einsicht erst nach Ablauf einer gesetzlich vorgeschriebenen Sperrfrist von 50 Jahren mit gravierenden Nachteilen verbunden:

Im Bundesarchiv bekommen die ForscherInnen dereinst lediglich die Version der Polizei zu Gesicht; allenfalls noch Löschungsbegehren von Fichierten oder einzelne Einträge versehen mit dem nichtssagenden Stempel ‚Bestritten‘.

Wenn die Akten endlich zugänglich sind, sind die involvierten Personen es oft nicht mehr. Die Sicht der Betroffenen ist dann nicht mehr einzuholen. Sie können sich nur mehr schlecht erinnern oder sind längst gestorben.

Demgegenüber sind die Vorteile des ASS offensichtlich. Der Schnüffelstaat kann bereits heute näher erforscht werden. Vor allem erfaßt das ASS auch die Sicht der Registrierten. Verglichen mit diesen Vorteilen fällt der Nachteil von Zensurbalken auf den Fichen und Dossiers nicht so sehr ins Gewicht. Welches Geschichtsbild über den Schnüffelstaat Schweiz verbreitet wird, hängt auch sehr stark von der Quellenlage ab. Schon wenn 100 Organisationen und 200 Einzelpersonen ihre Unterlagen ins ASS einlegen, eröffnet dies der Forschung bereits wichtige Möglichkeiten.

Völker füllt die Regale

Die der Stiftung ASS anvertrauten Akten werden dem Schweizerischen Sozial-archiv in Zürich übergeben. Als ‚Zentralstelle für soziale Literatur der Schweiz‘ wurde dieses Archiv 1906 gegründet. Erklärtes Ziel war und ist es, eine ‚Dokumentation der Sozialen Frage‘ auf- und auszubauen. Um eine mißbräuchliche Verwendung der Materialien möglichst weitgehend auszu-schließen, sind die nötigen Vorkehrungen getroffen worden. HistorikerInnen sowie kompetente juristische Fachleute standen dabei beratend zur Seite: Im Sozialarchiv sind die ASS-Materialien allen zugänglich, die ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen können. Die NutzerInnen verpflichten sich indes-sen, bei der Einsicht in die jeweiligen Archiv-Unterlagen die Persönlichkeitsrechte und Belange des Datenschutzes zu respektieren. Zudem verpflichten sie sich, vor einer Publikation das Manuskript einzureichen. Das Gegenlesen wird durch einen eigens geschaffenen historischen Beirat ge-schehen. Diese Regelung orientiert sich an der des Schweizerischen Bundes-archivs und ist HistorikerInnen somit bestens vertraut.

Kurzum: Das Archiv-‚Gebäude‘ ist errichtet. An den Betroffenen liegt es jetzt, die Regale des Archivs Schnüffelstaat Schweiz zu füllen.

Catherine Weber ist Sekretärin des Komitees Schluß mit dem Schnüffelstaat in Bern; Jürg Frischknecht, Zürich, Journalist und Autor, u.a. von ‚Die un-heimlichen Patrioten‘ und ‚Schweiz wir kommen – Rechtsextreme in der Schweiz‘, Limmat-Verlag Zürich
Komitee Schluß mit dem Schnüffelstaat, Archiv Schnüffelstaat Schweiz (ASS) Postfach 6948, CH-3001 Bern
Vgl. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 42 (2/92), S. 69ff.