Literatur

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Die Länder Mittel- und Osteuropas sind für die durchschnittlichen WesteuropäerInnen weitgehend unbekannte Weltregionen. Fast 50 Jahre durch den Eisernen Vorhang in das damalige „Reich des Bösen“ gezwungen, bringt die Mehrheit im Westen den neuen EU-Mitgliedern eher Skepsis als Neugier entgegen. Dabei vertiefte der Kalte Krieg alte westliche Vorurteile, denen zufolge aus dem „unterentwickelten“ Osten nichts als Gefahren für die freie Welt drohten. Die Leidensgeschichte der Völker Mittel- und Osteuropas, die lange vor den von Hitler und Stalin befohlenen Eroberungen und Deportationen einsetzte und die aus den Machtkämpfen zwischen den europäischen Großmächten Preußen, Russland und Österreich resultierten, gerät in dieser dominierenden westlichen Perspektive außer Sichtweite. Die Reserve gegenüber Ländern, die zum Teil unsere unmittelbaren Nachbarn sind, schlägt sich auch in der dürftigen Literatur zu den Polizeien und Sicherheitsapparaten dieser Länder nieder. Dass es in deutscher Sprache etwa keinen Sammelband zu diesem Thema gibt – ganz zu schweigen von einer Monographie – ist umso bedauerlicher, weil jene Länder in den polizeistrategischen Diskussionen seit Beginn der 90er Jahre eine prominente Stelle als Ausgangsbasis wie als Durchzugsraum verschiedenster „krimineller“ Gefahren einnahmen. Wer sich über die Entwicklungen von Sicherheitsapparaten in den postsozialistischen Beitrittsländern informieren will, ist deshalb auf viele verstreute Quellen angewiesen, die häufig aus staatsoffiziellen oder polizeilichen Kreisen stammen.

Bürgerrechte & Polizei/CILIP 55 (2/1996): Polizeientwicklung und Bürgerrechte in Mittel- und Osteuropa (Schwerpunkt)

Bereits 1996 hatte CILIP eine kleine Bilanz osteuropäischer Polizeientwicklung versucht. Die Beiträge über Ungarn, Polen und Tschechien sowie zur deutschen Polizeihilfe waren jedoch allein auf den Aspekt der Transformation und der unmittelbaren „Vergangenheitsbewältigung“ der Apparate ausgerichtet. Deren „Westeuropäisierung“ spielte damals noch keine Rolle.

http://europa.eu.int/comm/enlargement/index_en.html

Diese offizielle Website der Europäischen Union über den Erweiterungsprozess ist eine Fundgrube für alle, die sich (auch) über die Rechts- und Polizeientwicklung in den Beitrittsländern (und den drei übrigen Bewerbern Rumänien, Bulgarien und Türkei) informieren wollen. Insbesondere die seit 1998 für jedes Land jährlich erstellten „Regelmäßigen Berichte über den Weg … zum Beitritt“ enthalten Informationen über die Veränderungen in der inneren Sicherheitsarchitektur der Länder – wenngleich diese in den umfänglichen Berichten jeweils nur einen kleinen Raum einnehmen. Die Berichte geben auch Auskunft über die materielle Unterstützung, die die EU den Kandidaten etwa über das PHARE-Programm zukommen lässt. Dabei wird offenkundig, dass die Grenzsicherung der künftigen EU-Ostgrenzen einen besonders hohen Stellenwert genießt.

Weitemeier, Ingmar: Grenzüberschreitende Kriminalitätsbekämpfung nach Öffnung der Ostgrenzen und im Vorfeld der EU-Osterweiterung, in: Deutsches Polizeiblatt 20. Jg., 2002, H. 2, S. 15-19

Der Beitrag des Direktors des mecklenburg-vorpommerschen Landeskriminalamtes steht beispielhaft für die Art und Weise, in der die Ost­erweiterung in der deutschen Polizeiöffentlichkeit thematisiert wird. Sein Tenor lautet: Erst dann, wenn die Beitrittsländer das polizeiliche Niveau des Westens erreicht haben, werden keine Gefahren aus dem Osten drohen. Bis das erreicht ist, müsse der Weg „pragmatischer Kooperation“ beschritten werden. Eine effiziente Migrationskontrolle steht im Zentrum dessen, was die Staaten gewährleisten müssten. Dazu gehören: „Ausgleichsmaßnahmen“ für den Wegfall der Binnengrenzkontrollen „auf Schengen-Niveau“, „EU-Standards in der Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik“ sowie „verstärkte Fahndungs-, Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen im rückwärtigen Raum“.

Schaaf, Björn: Vom militärischen zum Polizeicharakter, in: Polizei–heute 31. Jg., 2002, H. 3, S. 100-104

Was die Angleichung an EU-Standards bedeutet, wird exemplarisch an diesem Beitrag über die Veränderungen des polnischen Grenzschutzes deutlich. Bereits seit 1990 werden die polnischen Land- und Seegrenzen vom polizeilichen „Grenzschutz“, der dem Innenministerium unterstellt ist, gesichert. Allerdings ist dessen militärisches Erbe auch heute noch sichtbar: Die Warschauer Zentrale wird von einem „Kommandanten“ im Range eines „Oberst“ geleitet, und bis ins Jahr 2006 werden Wehrpflichtige im Grenzschutz eingesetzt werden. Zu den Aufgaben der „Grenzschutz“-Einheiten gehört auch die Verfolgung von „illegalem Aufenthalt und allen damit zusammenhängenden Begleiterscheinungen“ in ganz Polen. Aufschlussreich sind auch die kurzen Ausführungen über die bilaterale Zusammenarbeit mit dem Bundesgrenzschutz: Seit 1998/99 besteht der gegenseitige Austausch von Verbindungsbeamten, durch die Kommunikationsschwierigkeiten unbürokratisch behoben werden sollen; ebenfalls seit 1998 bestehen drei „Kommunikationsstellen“, in denen deutsche und polnische Grenzschutzbeamte zusammenarbeiten und so mittelbaren Zugang zu den Fahndungsdateien des anderen Staates erhalten; gemeinsame Streifen sowie gemeinsame Aus- und Fortbildungen hätten sich ebenfalls „bewährt“. Dass die Zahl der in Deutschland festgestellten illegalen Einreisen aus Polen in den letzten Jahren erheblich zurückging, wird auf die „Erfolge der Arbeit des polnischen Grenzschutzes“ zurückgeführt.

Mainzinger, Christian: Aufbau der Grenzpolizei in Bosnien und Herzegowina, in: Zeitschrift des Bundesgrenzschutzes 28. Jg., 2001, H. 3, S. 11f.

Bischoff, Jürgen: BGS unterstützt Bulgariens Grenzpolizei, in: Zeitschrift des Bundesgrenzschutzes 28. Jg., 2001, H. 2, S. 8f.

Meist kurze Berichte über die erfolgreiche „Entwicklungshilfe“, die die deutschen Polizeien im (europäischen) Ausland leisten, sind ein fester Bestandteil der polizeilichen Fachzeitschriften. Die deutschen Aktivitäten reichen von der Ausstattungshilfe in der Form, dass alte Dienstwagen der Landespolizeien an die von „Partnerländern“ abgegeben werden, über gegenseitige Besuche zum Zwecke des Erfahrungsaustauschs bis zu gemeinsamen Fortbildungsveranstaltungen. Die beiden aufgeführten Beiträge zeigen, dass die Bemühungen Deutschlands, die Grenzen in Europa auf westliches Niveau aufzurüsten, keineswegs auf unsere Nachbarstaaten oder die Beitrittsländer beschränkt ist. Die wenigen Informationen, die diese und vergleichbare Beiträge enthalten, machen besonders deutlich, wie sehr eine Zusammenstellung der deutschen Polizeihilfe im europäischen wie außereuropäischen Ausland fehlt.

Dzavachsvili, Zurab: Mit einer modernen Polizeiorganisation auf dem Weg zur EU, in: Polizei–heute 31. Jg., 2002, H. 3, S. 193-198

Nur selten wird die deutsche (Polizei-)Öffentlichkeit über die Wandlungen der nationalen Polizeien in den MOE-Staaten informiert. In diesem Beitrag über Litauen, verfasst von einem Kommissarinspektor aus Vilnius, geschieht dies in einer sehr knappen Form. Sie enthält einige Informationen über den Aufbau der Landespolizei, über die Bildung von Spezialdienststellen und einer mit der GSG 9 vergleichbaren Spezialeinheit „Aras“. Aber insgesamt schafft der unkritische Überblick eher Verwirrung als Klarheit.

ZAG – antirassistische Zeitschrift Nr. 35 (H. 3/2000): Schengenland

In den Berichten des Schwerpunktes dieses Heftes wird ein Überblick über die Asylrechtsentwicklung in einigen EU-Staaten und bei den deutschen Nachbarn Polen und Tschechien gegeben. Was in den polizeilichen Quellen als „Erfolge“ verbucht wird, erscheint hier aus der Perspektive der Flüchtlinge: Einreisebeschränkungen, Razzien, Abschiebungen, Einschränkungen im Asylverfahren, Einreiseverbote – eben das ganze Repertoire westeuropäischer Abschottungspolitik.

Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM): Polen. Vor den Toren der Festung Europa (FFM Heft 1), Berlin, Göttingen 1995

Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM): Rumänien. Vor den Toren der Festung Europa (FFM Heft 2), Berlin, Göttingen 1996

Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM): Ukraine. Vor den Toren der Festung Europa – Die Vorverlagerung der Abschottungspolitik (FFM Heft 5), Berlin, Göttingen 1997

Flüchtlingsrat. Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, H. 82 (9/2001): Vom Hätschelkind zum Klassenletzten. Bundesdeutsches Grenzregime und Flüchtlingspolitik in der Tschechischen Republik

Diese Publikationen der Berliner FFM dokumentieren und analysieren die Folgen der Westeuropäisierung der jeweiligen nationalen Asyl- und Migrationspolitik. Die Veröffentlichungen verdeutlichen, dass die von der EU aufgezwungenen oder erkauften Grenzregime nationale Gestaltungsspielräume abschaffen und die Lebensbedingungen von MigrantInnen erheblich verschlechtern. Die Texte sowie weitere Berichte und Analysen sind auf der Homepage der FFM im Volltext verfügbar: http://www.ffm-berlin.de/

Neuerscheinungen

Lindner, Marita: Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt. Meinungen und Einstellungen von Auszubildenden der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse einer empirischen Studie, Hamburg (Verlag Dr. Kovač) 2001, 232 S., EUR 82,–

Die leider erst im letzten Jahr veröffentlichte Dissertation präsentiert die Ergebnisse einer schriftlichen Befragung von 1995. Veranlasst durch die damals tagesaktuellen Diskussionen um Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in der Polizei befragte die Autorin alle 1.431 nordrhein-westfälischen PolizeischülerInnen des zweiten Ausbildungsjahres mittels eines ausführlichen standardisierten Fragebogens. Da sie 1.425 ausgefüllte und auswertbare Fragebögen erhielt, handelt es sich um eine Gesamterhebung für den genannten Jahrgang in NRW. Ziel der Erhebung war, „die quantitativen Dimensionen der Einstellungen von Auszubildenden bei der Polizei zu den Phänomenen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt in ihren wechselseitigen Verbindungen“ zu ermitteln, „um ein empirisch gesichertes Bild zu gewinnen über den Grad fremdenfeindlicher und rechtsextremer Denkmuster“ (S. 8).

Lindner analysiert die Antworten in drei Schritten: Zunächst werden in Form einer Faktorenanalyse die Ergebnisse in den drei Dimensionen Ausländer-Fremdbild, Bekämpfung von und Identifikation mit Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Polizei dargestellt. So halten etwa – um einige Beispiele zu nennen – nur 8,3 % die Aussage „Viele Ausländer und Asylbewerber mißbrauchen die Leistungen des Sozialamtes“ für unzutreffend; über 60 % meinen, Wähler der „Republikaner“ hätten „bei der Polizei nichts zu suchen“; und knapp 40 % glauben, dass es „viele Polizisten (gibt), die gegen Ausländer eingestellt sind“. Während im dritten Teil die Antworten nach Alter, Geschlecht, Familienstand etc. ausgewertet werden, bildet die Autorin im mittleren Teil fünf Persönlichkeitstypen, die sie als der „Durchsetzungsfähige“, der „Unsichere“, der „liberal Gefestigte“, der „Rechtsextreme“ und der „unsichere Rechtsextreme“ bezeichnet. Zu den zuletzt genannten Personengruppen gehören fast 30 % der Befragten (S. 66f.).

Die Autorin ist sich bewusst, dass ihre Untersuchung nur begrenzte Aussagen zulässt. Die Arbeit leidet daran, dass sie keine Aussagen über das Verhalten zulässt, also darüber, ob die gemessenen Einstellungen praktisch relevant werden (S. 184). Zudem stellt Lindner auch in Rechnung, dass die „soziale Erwünschbarkeit“ die Antworten beeinflusst haben könnte (S. 63). In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert gewesen, wenn die LeserInnen etwas mehr über die Erhebung erfahren hätten. Die Rücklaufquote von fast 100 % deutet darauf hin, dass die Ausbildungseinrichtungen die Befragung unterstützten. Sie wird deshalb von den Befragten als eine quasi-dienstliche Tätigkeit betrachtet worden sein. Da in der Vorbemerkung des Fragebogens auf das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit hingewiesen wurde, dürften nur wenige (strategisch-dumme) „Überzeugungstäter“ etwa der Aussage beigepflichtet haben, dass die „deutsche Rasse … den anderen meist überlegen“ sei (Frage 70). Die zugesicherte Anonymität der Antworten relativiert diese Verfälschung der Ergebnisse wenig. Die Studie kann deshalb nur einen keinen Ausschnitt rechtsextremistischen oder fremdenfeindlichen Gedankengutes innerhalb des Polizeinachwuchses erfassen.

Eppler, Erhard: Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 2002, 154 S., EUR 9,–

Tönnies, Sibylle: Cosmopolis now. Auf dem Weg zum Weltstaat, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2002, 150 S., EUR 14,–

In den Anschlägen vom 11.9.2001 sehen viele Zeitgenossen den Beginn einer neuen Ära internationaler Sicherheitspolitik. Der SPD-Politiker Eppler stellt den islamistisch motivierten Terror in seiner aktuellen Streitschrift in den Kontext der weltweiten Privatisierung und Kommerzialisierung von Gewalt. In zwölf Kapiteln und einem Al-Qaida gewidmeten Exkurs entwirft er ein breites Spektrum privatisierter Gewalt und kommerzialisierter Sicherheit, das von der FARC in Kolumbien über die Warlords in Afrika, bis zu Rebellen in Asien und den Gated communities in den USA reicht. Überall, so die These, ist das staatliche Gewaltmonopol bedroht – und damit auch die Sicherheit für alle BürgerInnen.

Eppler folgt den Diagnosen von Martin van Creveld und Mary Kaldor, denen zufolge die neuen Kriege nicht mehr zwischen Staaten, sondern zwischen Staaten und privaten Akteuren/Armeen stattfinden. Freund und Feind seien heute nicht mehr klar zu scheiden; der Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten sei bedeutungslos geworden; und private (Bereicherungs)Interessen seien unauflöslich mit der Privatisierung der Gewalt verbunden. Eppler ist sich bewusst, dass der globalisierte Markt diese Entwicklung befördert (S. 82), deshalb ist es konsequent, wenn er für Krisenprävention plädiert, zu der auch der Ausgleich zwischen Arm und Reich gehöre (S. 116). Den neuen Gefahren könnte nur durch eine aktive „Welt-Innenpolitik“ begegnet werden. Er plädiert vehement für die Umgestaltung der Armeen in Interventionsarmeen; das sei die zeitgemäße Variante des Pazifismus (S. 115).

Als Grundproblem diagnostiziert Eppler den Verfall des staatlichen Gewaltmonopols. Deshalb müsste das erste Ziel der Politik sein, die Staaten (wieder) handlungsfähig zu machen. Schließlich seien sie das „Kleid“ des modernen Bürgers und dessen „schützende, wärmende Funktion“ müsse gesichert werden (S. 131). Das Militär umzugestalten und die Polizeien zu stärken, sind eine logische Folge dieses Konzepts. Am Ende hat er vergessen, was er am Anfang schrieb: Dass die größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte von und im Namen von Staaten verübt wurden.

Vollständiger Staatsfixierung ist Tönnies in ihrer neuesten Streitschrift anheim gefallen. Ihre These: Die Zeit für einen Weltstaat mit Weltgewaltmonopol ist gekommen. Und es gibt nur eine Macht, die diesen Weltstaat bilden kann: die USA. Aus Gründen, die Tönnies nicht einzusehen mag, ziert sich „god’s own country“ zwar noch, die neue Rolle anzunehmen, auch sei noch die eine oder andere Reform nötig, aber zur Weltregierung durch die USA gebe es keine Alternative. Und das sei gut so. Schließlich seien die USA ein liberales Land, in dem es Staaten mit und ohne Todesstrafe gebe! Leider ist Tönnies’ Buch keine Satire; aber als eine solche taugt die unglaubliche Mischung aus Naivität, Unbelehrbarkeit und Unverfrorenheit.

(sämtlich: Norbert Pütter)

McCahill, Mike: The Surveillance Web. The rise of visual surveillance in an English city, Cullompton (Willan Publishing) 2002, 230 S., 51,41 EUR

Dass die Videoüberwachung (Closed Circuit Television – CCTV) des öffentlichen Raums in Großbritannien dramatische Ausmaße angenommen hat, ist hinlänglich bekannt. Dass jedoch auch ohne Kameras auf Straßen und Plätzen weitläufige städtische Überwachungsnetze von unterschiedlichsten Akteuren gesponnen werden, ist das Thema der nun vorliegenden Doktorarbeit des britischen Kriminologen McCahill.

McCahill, der seine Forschung in Erwartung eines öffentlich finanzierten CCTV-Systems in der Innenstadt einer rezessionsgeplagten nordenglischen Großstadt begonnen hatte, wurde bald enttäuscht. Aufgrund politischer Widerstände blieb die Stadt eine der wenigen in Großbritannien ohne ein solches System. Gleichwohl zeigte sich schnell, dass die existierenden Systeme von Shopping Malls, Einzelhändlern, Hochhaussiedlungen und Krankenhäusern über technische Aufschaltungen sowie formelle und informelle Kommunikationskanäle miteinander verbunden sind.

Die Geschichte und Funktion dieses Überwachungsnetzwerks schildert McCahill. Dabei verbindet er detaillierte Fallstudien der Überwachungsroutine in zwei Shopping Malls, einer Sozialbausiedlung und einem Gewerbepark zu einer Gesamtschau. Hierfür schöpft er aus der Fülle des empirischen Materials, das er durch Medienanalyse, zahlreiche Interviews sowie Besuche und Beobachtungen in 20 Kontrollräumen gesammelt hat.

Drei theoretische Fäden leiten seine dichte Beschreibung. Er analysiert erstens sein Material kritisch vor dem Hintergrund der Diskussion um die Ausweitung und Steigerung panoptischer Disziplinierung im Zeichen der Informationsrevolution. Dabei macht er deutlich, dass dem Überwachungspotential der neuen Technologien durch die soziale Aneignung und Vermittlung derselben enge Grenzen gesetzt sind: Linke Hände, Unaufmerksamkeit, Überforderung und andere allzumenschliche Faktoren verhindern die Realisierung von technikoptimistischen Allmachtsphantasien.

Zweitens verortet McCahill seine Ergebnisse in der Debatte um den Aufstieg von Videoüberwachung im Kontext der Kommodifizierung urbaner Räume. So zeigt er, dass Überwachungskameras zwar auch ein wichtiges Instrument für das allgemeine Gebäudemanagement in Shopping Malls sind, gleichzeitig aber primär der Sanktionierung von Verhalten dienen, das als Gefahr für den Profit in den Kunstwelten des Konsums betrachtet wird: Radfahrer oder Hundebesitzer werden ebenso zu Zielscheiben von Maßregelungen wie herumlungernde Gruppen von männlichen Jugendlichen, Drogenabhängige oder des Ladendiebstahls Verdächtigte. Gleichwohl macht die Studie deutlich, wie unterschiedlich die Kontrollpraxis je nach Kontext ist. Der „unparteiischen“ Überwachung der anonymen Besucher einer Innenstadt-Mall stellt sie die voreingenommene Beobachtung in einer anderen Mall gegenüber, in der sich Überwacher und Überwachte nicht selten aus der Schule kennen.

Drittens thematisiert McCahill seine Ergebnisse im Kontext der Diskurse um „Risikogesellschaft“, neo-liberale Politikmodelle der Responsibilisierung und die daraus resultierenden Formen hybrider Sozialkontrolle durch Polizei und private Sicherheitsdienste. Schnell wird klar, dass das in Police-Private-Partnership betriebene „Überwachungsnetz“ keinen Rückzug des Staates bedeutet. Vielmehr bedient sich die Polizei der neuen Infrastruktur situationsabhängig, überlässt sie aber ansonsten den Interessen ihrer nicht-polizeilichen Betreiber. Wie letzteres rechtsstaatliche Prinzipien untergräbt, zeigt McCahill an diversen Beispielen.

Angesichts der Fülle seines Materials und theoretischen Zugänge mutet „The Surveillance Web“ manchmal etwas patchwork-artig an. Dennoch macht die umfassende Darstellung an vielen Stellen Lust auf weitere Informationen, die einem vorenthalten bleiben. Die politischen Motive hinter dem Widerstand gegen das Innenstadt-System werden z.B. nur am Rande gestreift.

Abschließend sei bemerkt, dass McCahills „English City“ inzwischen auch ein öffentliches System von Überwachungskameras hat, das die Lücken des alten Überwachungsnetzes schließt. Britische Ausmaße öffentlicher Videoüberwachung sind in Deutschland längst nicht erreicht. McCahills Studie verweist aber auf die Notwendigkeit, die Umgehung rechtlicher Grenzen polizeilicher Videoüberwachung durch den möglichen Austausch von Bildern und dazugehörigen Informationen im Rahmen hiesiger „Sicherheitspartnerschaften“ zu problematisieren.

(Eric Töpfer)

Berliner Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit: Sonderbericht vom 10.12.2002 über die Durchführung besonderer Formen des Datenabgleichs (Rasterfahndung) durch den Polizeipräsidenten in Berlin nach dem 11.9.2001, 121 S.http://www.datenschutz-berlin.de/informat/sonderbericht/rasterfahndung.pdfDer Bericht (und die ihm angefügte Dokumentation) bietet einen sehr guten Einblick in die Rasterfahndung der Berliner Polizei. In Berlin wurden insgesamt 58.032 Datensätze „gerastert“, die zunächst zu 3.641 Treffern führten. Durch einen manuellen Abgleich wurden schließlich 114 Personen identifiziert, die die Kriterien der Rasterfahndung erfüllten und gegen die „konventionell“ ermittelt wurde. Ein „Schläfer“ wurde nicht entdeckt. Der Datenschutzbeauftragte rügt eine Reihe von Verstößen gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen. So sind zwar die Rasterdaten und Dateien mittlerweile vernichtet, nicht jedoch die Ermittlungsunterlagen zu den 114 „Verdächtigten“.

(Norbert Pütter)