von Rafael Lara
Die doppelten Stacheldrahtzäune um Ceuta und Melilla sind zum Sinnbild für die geschlossenen Grenzen der EU geworden. Im Herbst 2005 wagten afrikanische Flüchtlinge und ImmigrantInnen mehrfach den verzweifelten Versuch, die Grenzbefestigungen um die beiden spanischen Exklaven auf der südlichen Seite der Meerenge von Gibraltar zu stürmen.
Die Ereignisse des letzten Herbstes haben eine längere Vorgeschichte. Seit Jahren setzen die EU und insbesondere Spanien die marokkanische Regierung unter Druck, sie solle der irregulären Einwanderung von AfrikanerInnen von südlich der Sahara ein Ende setzen. Nachdem die marokkanische Polizei sie aus den Städten vertrieben hatte, hatten Tausende von AfrikanerInnen im Jahre 2004 in behelfsmäßigen Lagern in der Nähe der Grenzen zu Ceuta und Melilla Zuflucht gesucht: in Oujda, El Gourugú, Mesnana und Benyunesh. Diese Personen hatten die Reise quer durch den Kontinent hinter sich – eine Reise, die teilweise bis zu einem Jahr dauerte und unter den unmenschlichsten Bedingungen stattfand: kaum Wasser und Nahrung, lange Fußmärsche, häufig genug polizeiliche Verfolgung und willkürliche Festnahmen. Nun mussten sie über Monate hinweg die Bedingungen dieser Lager erdulden. Tausende, darunter schwangere Frauen und Kinder, lebten hier ohne Versorgung und Obdach, ohne sauberes Wasser und ohne eine adäquate medizinische Hilfe.[1] Hinzu kamen die ständigen Hetzjagden, die Razzien und die Gewalt der marokkanischen Ordnungskräfte.[2]
Im Laufe des Jahres 2005 intensivierte Marokko die Repression gegen die afrikanischen MigrantInnen. Das Lager Mesnana am Stadtrand von Tanger wurde bereits im Dezember 2004 geräumt. Im Januar 2005 lösten Hunderte von Gendarmen das Lager am Berg Gourugú, in der Nähe von Melilla, auf. Im Februar geschah dasselbe in Benyunesh, in den Wäldern nahe der Grenze zu Ceuta. Das Militär hatte dieses Lager zuvor abgeriegelt und die Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln verhindert. Die BewohnerInnen lebten während Wochen unter der ständigen Angst vor Übergriffen. Einige MigrantInnen, die sich in den umliegenden Hügeln versteckt hatten, versuchten schwimmend nach Ceuta zu gelangen. Mindestens zwölf kamen dabei ums Leben.
Wie Mitglieder der andalusischen Menschenrechtsvereinigung (APDHA) durch eigene Beobachtungen und Zeugenaussagen feststellten, gingen Polizei und Militär bei diesen Räumungen mit massiver Gewalt vor. Frauen wurden vergewaltigt, Festgenommene misshandelt. Zum Teil beschlagnahmte die Polizei das wenige Geld der LagerbewohnerInnen oder nahm ihnen lebensnotwendige Gegenstände (Schuhe, Kleidung, Plastikplanen, selbst Wasser und Lebensmittel) weg. Ohne jegliches Verfahren wurden MigrantInnen an die algerische Grenze deportiert, wo einige erfroren sind. Humanitäre Hilfsleistungen durch NGOs wurde be- oder verhindert. Längst bevor ab August 2005 die Grenzen zu Ceuta und Melilla ins Blickfeld der europäischen Öffentlichkeit gerieten, bot sich also ein Bild gravierender Menschenrechtsverletzungen.
Tödliche Grenze
Die Versuche, die Grenzen zu Ceuta und Melilla zu erstürmen, sind nur erklärbar angesichts der Verzweiflung von Tausenden bedrängter und misshandelter Menschen, die mit ansehen müssen, wie ihnen sowohl Marokko als auch Spanien die Tür vor der Nase schlossen. Zwischen August und Oktober 2005 starben bei diesen Versuchen mindestens 14 (wahrscheinlich 16) Personen, die meisten durch Schüsse.
- Am 29. August starb ein 17-jähriger Kameruner nach dem Versuch, die Grenzzäune zu überqueren, an einem Leberriss. Alle Zeugen bestätigten, dass er von Beamten der Guardia Civil zusammengeschlagen wurde. Sowohl Vertreter von NGOs als auch Immigranten erklärten, eine weitere Leiche in der Nähe der Grenzsperren gesehen zu haben, die aber später nicht gefunden wurde. Gemäß denselben Zeugen habe die marokkanische Polizei die Leiche beseitigt, wohin ist nicht bekannt.
- Am 12. September starb im Krankenhaus von Melilla ein Immigrant, nachdem er fünf Tage im Koma gelegen hatte. Offenbar war er beim Versuch, die Grenze zu überqueren, von der marokkanischen Gendarmerie angeschossen worden.
- Nach Angaben der spanischen Behörden tauchten am 15. September, kurz nach sechs Uhr morgens, zwei junge Immigranten im Grenzperimeter auf und baten die Guardia Civil um Hilfe. Der eine habe aus dem Mund geblutet, vier Stunden später sei er im Krankenhaus verstorben. Nach Angaben von Ärzten hatte ein Gummigeschoss eine schwere Verletzung der Luftröhre verursacht. Die marokkanische Gendarmerie benutzt solche Waffen nicht.
- Am Abend desselben Tages starb ein junger Mann aus Mali, als er auf der Flucht vor der marokkanischen Gendarmerie in einen Graben stürzte. Die Gendarmen hatten Immigranten verfolgt, die sich dem Grenzzaun von Melilla zu nähern versuchten. Der Leichnam wurde einen Tag später ins Leichenschauhaus im marokkanischen Nador gebracht.
- Am 29. September starben fünf Personen bei einem Massenansturm auf die Grenzbefestigungen. Spanien und Marokko beschuldigten sich gegenseitig, geschossen zu haben. Die marokkanische Seite
übernahm am Ende die Verantwortung. - Um einen Massenansturm auf die Grenzanlagen von Melilla zu verhindern, erschossen marokkanische Sicherheitskräfte am 6. Oktober sechs Immigranten. Das marokkanische Innenministerium behauptete später, man habe geschossen, um die Wachposten vor dem Stacheldrahtzaun vor der ungeheuren Gewalt der Anstürmenden zu schützen.
Hunderte von Personen wurden im Laufe dieser Wochen verletzt – sei es durch polizeiliche Schüsse von der einen oder anderen Seite der Grenze, sei es, weil sie bei den Massenanstürmen von den hinter ihnen kommenden überrannt wurden oder in den Stacheldrähten hängen blieben.
Grenze des Rechts
Zahlreiche Organisationen haben angesichts dieser Ereignisse darauf hingewiesen, dass der spanische Staat im Verlaufe des Jahres 2005, insbesondere während des Ansturms auf die Grenzbefestigungen, aber auch danach internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte verletzte.[3]
So zum Beispiel durch die Grenzbefestigungen, deren Bau in den Jahren 1999 und 2000 begann und durch EU-Gelder finanziert wurde. Der doppelte Stacheldrahtzaun soll abschrecken, einschüchtern und denjenigen, die ihn zu überwinden versuchen, Schaden zufügen. Das Bauwerk garantiert angeblich „unsere Sicherheit“. Was hier passiert, geht jedoch weit über die einfache Grenzüberwachung hinaus und ist mit dem Schutz der Menschenrechte nicht vereinbar. Der Raum zwischen den zunächst drei Meter und nun sechs Meter hohen Zäunen ist spanisches Territorium, wird aber als Niemandsland behandelt, auf dem das Recht des spanischen Staates keine Anwendung findet.
Typisches Beispiel dafür ist, dass Personen, die sich bereits auf spanischem Gebiet befanden, durch Türen in den Zäunen (unbenutzte Grenzübergänge) illegal nach Marokko zurückgeschoben werden. Das für Ausweisungen vorgesehene Verfahren und die Rechte der Betroffenen werden dabei schlicht ignoriert. Dass die Guardia Civil nach diesem Muster verfährt, ist nicht nur durch die Aussagen der ImmigrantInnen breit dokumentiert. Am 6. Oktober 2005 druckte die Zeitung „El País“ den Mitschnitt eines Funkgesprächs, in dem ein Offizier der Guardia seine Untergebenen an den Grenzzäunen von Ceuta aufforderte, die aufgegriffenen Immigranten doch einfach wieder „rauszuschmeißen“. Dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt, belegt ein offizielles Schreiben der Guardia Civil selbst an das 4. Untersuchungsrichteramt von Ceuta, in dem es um den Tod eines marokkanischen Markthändlers geht und in dem die sofortige Rückschaffung von Personen durch die Türen im Zaun als übliche Vorgehensweise beschrieben wird. Dieses offizielle Schreiben belegt zudem, dass auch die Führung der Guardia von dieser Praxis weiß oder sie sogar billigt.
Ebenso bekannt ist, dass die Guardia Civil bei diesen „kurzen Prozessen“ der Abschiebung äußerst gewalttätig vorgeht. Die Folgen sind vielfach Verletzungen bis hin zu Knochenbrüchen. Wie die APDHA feststellen musste, waren selbst erkennbar schwangere Frauen von solchen Übergriffen betroffen. Am 4. Oktober 2005 strahlte der Fernsehsender „Tele5“ einen Dokumentarfilm aus, auf dem Beamte der Guardia Civil zu sehen sind, die immer wieder auf einen am Boden liegenden Immigranten eintreten.[4]
Mit einer Massenabschiebung von 73 Personen nach Marokko erreichte der staatliche Rechtsbruch am 6. Oktober einen Höhepunkt. Für diese Abschiebeaktion gab es keine gerichtliche Bewilligung. Die Betroffenen hatten keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Die Verletzten unter ihnen erhielten nicht die notwendige medizinische Hilfe. Der spanische Staat hat damit aber nicht nur sein innerstaatliches Recht, sondern auch seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzt. Sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention als auch die Anti-Folterkonvention der UNO verbieten es, Personen abzuschieben, auszuliefern oder an der Grenze zurückzuweisen, wenn dadurch ihr Leben oder ihre Freiheit gefährdet würden. Das „Non-Refoulement“-Prinzip soll nicht nur diejenigen schützen, die vor ihrer Flucht verfolgt wurden, sondern auch Personen, die als Konsequenz der Abschiebung Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden könnten. Genau damit mussten die Abgeschobenen aber rechnen. Für sie gab es in Marokko – zumindest zu diesem Zeitpunkt – keine Garantie, dass ihre Würde, ihre Rechte und die Integrität ihrer Person respektieren würden.
In diesem Sinne erklärte sich auch der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats Alvaro Gil Robles. Im Bericht über seinen Spanien-Besuch im vergangenen Jahr kritisiert er scharf den Umgang mit den ImmigrantInnen und insbesondere die Abschiebung der 73. Gil Robles weist die spanischen Behörden darauf hin, dass das vierte Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention Kollektivausweisungen verbietet und die Prüfung jedes einzelnen Falles verlangt. Darüber hinaus sei es notwendig, die Vorfälle an den Grenzen von Ceuta und Melilla einer genauen Untersuchung zu unterziehen.[5]
Zwar hatte der Ministerpräsident anlässlich des spanisch-marokkanischen Gipfeltreffens in Sevilla am 29. September 2005 eine Aufklärung der Todesfälle an den Grenzzäunen samt ihrer Begleitumstände versprochen. Aus dem Versprechen ist jedoch nicht viel geworden. Die Untersuchung und vor allem die Ermittlung von Verantwortlichen blieb einseitig, unvollständig und letztlich ergebnislos. Auch die technische Mission der EU-Kommission, die die Grenze zwischen dem 7. und 10. Oktober besuchte, befasste sich in erster Linie mit deren Sicherung. Menschenrechte spielten für sie kaum eine Rolle.[6] Umso bedauerlicher ist es, dass die von der APDHA lancierte und von mehr als 700 weiteren Organisationen unterstützte Forderung nach einer internationalen Untersuchungskommission über die Vorfälle von Ceuta und Melilla erfolglos blieb.[7] Die Opfer der EU-Grenzabschottung und vor allem diejenigen, die an dieser Grenze ihr Leben ließen, haben nicht verdient, dass die spanischen Behörden sie durch Desinteresse und Vergessen ein weiteres Mal entwürdigen.
Marokko: Hilfspolizist der EU
Marokko solle „seine Verantwortung bei der Kontrolle der illegalen Einwanderung wahrnehmen“, fordern die spanische Regierung und die EU. Die Forderung ist Ausdruck einer Politik der Externalisierung, die Drittstaaten nicht nur die Aufgabe der Grenzkontrolle, sondern auch die Repression gegen die betroffenen Flüchtlinge und Einwanderer zuweist.
Am 5. Oktober, wenige Tage nach dem spanisch-marokkanischen Gipfeltreffen, ging die marokkanische Regierung an die Arbeit. Zwischen Tausend und 1.200 ImmigrantInnen wurden in die Nähe der algerischen Grenze verbracht und dort mitten in der Wüste ohne Wasser und Nahrung ausgesetzt. Die Präsenz von Nichtregierungsorganisationen und die Aufmerksamkeit der Medien verhinderte eine humanitäre Katastrophe. Nichtsdestoweniger schätzt SOS Rassismus, dass zwischen 14 und 20 Personen starben und in der Wüste begraben wurden.
Am 8. Oktober hatte der Skandal derartige Ausmaße angenommen, dass die marokkanischen Behörden die Überlebenden wieder einsammelten. In Handschellen, kaum versorgt und ohne die Möglichkeit, zur Toilette gehen zu können, wurden sie in Bussen quer durch das Land verfrachtet. Unter JournalistInnen und NGO-MitarbeiterInnen erhielt diese Operation den Namen „Karawane des Todes“.
Eine unbestimmte Zahl von Personen aus Senegal und Mali kam nach Oujda, von wo aus sie kurz darauf per Flugzeug in ihre Herkunftsländer abgeschoben wurden. Hunderte von ImmigrantInnen schaffte das Militär an die Grenze zu Mauretanien. Nachdem dieses Land ihre Aufnahme verweigert hatte, wurden sie nun in der Westsahara ausgesetzt – in dem verminten Gebiet hinter der „Mauer“, die den marokkanisch besetzten Teil von dem der Polisario trennt. Helikopter der UN-Schutztruppe Minurso und die Polisario retteten mindestens hundert Personen.
Eine weitere große Gruppe wurde zur Vorbereitung der Abschiebung unter miserablen Bedingungen in Kasernen inhaftiert, z.B. Taouima (nahe Nador) oder in Berden (nahe Guelmin). Innerhalb weniger Wochen hat Marokko über 3.500 ImmigrantInnen in ihre Herkunftsländer (Senegal, Mali, Kamerun, Guinea, Gambia, Nigeria) zurückgeschafft.
Angesichts dieser massiven Menschenrechtsverletzungen blieb die „internationale Gemeinschaft“ passiv – eine Passivität, die im Falle der EU und der spanischen Regierung als Komplizenschaft bezeichnet werden muss. Schließlich ist das Vorgehen der marokkanischen Regierung die nahezu notwendige Konsequenz ihrer Externalisierung der Migrationskontrolle in Länder, in denen die minimalsten demokratischen Bedingungen und der Respekt vor der Würde der Person fehlen.[8]
Die Folgen dieser „Eindämmung der Migrationsströme“ sind tödlich: Seit November, d.h. seit den hier beschriebenen Ereignissen an den Grenzen zu Ceuta und Melilla und in Marokko selbst, haben hunderte von Menschen auf einem anderen Weg nach Europa ihr Leben verloren: Dieser Weg führt nicht mehr über die Meerenge von Gibraltar, sondern von Mauretanien über den Atlantik zu den Kanarischen Inseln.