Die neuen europäischen Grenzen – Abschottung nach außen – Vergrenzung nach innen

von Anja Lederer und Heiner Busch

Der Schutz der Außengrenzen spielt für die EU-Innenpolitik eine zentrale Rolle. Mit allen erdenklichen Mitteln soll der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ gegen Unerwünschte gesichert werden.

Der Frankfurter Schriftsteller Jakob Arjouni hat unlängst eine satirische Negativutopie vorgelegt: Sein Roman „Chez Max“ spielt im Jahr 2064.[1] Ein Zaun schützt das mit Wohlstand und allen Fortschritten der Technik gesegnete „Eurasien“ vor der Armut, der Gewalt und den Bürgerkriegen im Süden und natürlich auch vor illegalen Einwanderern, die den Terrorismus ins gelobte Land importieren könnten. In Eurasien ist es gängige Praxis, dass Verbrechen bereits im Vorfeld erkannt werden. Für das Ausschalten potenzieller Täter und „illegaler“ ImmigrantInnen sorgt die staatliche Geheimorganisation „Ashcroft“, für die Max Schwarzwald, die Hauptfigur des Romans, der Wirt des „Chez Max“, arbeitet.

Satire hat das Recht auf Übertreibung, allerdings muten viele Elemente der Erzählung durchaus realistisch an. Nachdem die Mauern des Kalten Krieges gefallen sind, treten die Grenzen zwischen den reichen kapitalistischen Metropolen und der Peripherie umso deutlicher hervor. An einigen Stellen sind es in der Tat „Zäune“, die die Trennlinie markieren – zwischen Mexiko und den USA oder zwischen Marokko und den spanischen Außenposten auf dem afrikanischen Kontinent. Ceuta und Melilla sind bisher die einzigen Orte, an denen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten eines solchen archaisch erscheinenden, skandalträchtigen Mittels militärisch geschützter physischer Barrieren bedienen. Beim Schutz der Außengrenzen, der seit den 90er Jahren Tausende Menschenleben gekostet hat, setzt die Union mehr und mehr auf neueste Technik.

Die grundsätzliche Funktion der Grenze ist jedoch geblieben. Sie umgrenzt den Nationalstaat, in dem nur die StaatsbürgerInnen volle Rechte haben und der verschiedene Kategorien der AusländerInnen bis hin zu den vollends Rechtlosen definiert. Die Erfassung und Kategorisierung von Fremden und solchen, die dazu gemacht wurden, gehörte von Beginn an zu den zentralen Kennzeichen des Nationalstaats. Die Grenze ist der Ort, an dem die Zugangsberechtigung zum Staatsgebiet selbst und damit auch zu den Rechten und Leistungen, die der Staat gewährt, immer und ohne weitere Erklärung kontrolliert werden kann. Wer diese Linie ohne die notwendige Legitimation überschreitet, setzt sich ins „Unrecht“.

Europäisierung

Die neue Grenzordnung Europas und die Europäische Union selbst scheinen dem nationalstaatlichen Muster nur noch bedingt zu entsprechen. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 galt die „Voll­endung des Binnenmarkts“ auch rechtlich als das zentrale politische Ziel der damaligen EG bzw. der heutigen EU. Der „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital … gewährleistet ist“, war seitdem im EG-Vertrag (Art. 14) verankert. Der Binnenmarkt, seine ökonomische Entgrenzung und Entfesselung sind auch ohne den gescheiterten Verfassungsvertrag die tragenden Säulen der Realverfassung EU-Europas. Das Schengen-Projekt versprach ab 1985 den „schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ von zunächst fünf Mitgliedstaaten. Heute gilt das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) in 23 EU-Staaten sowie in Norwegen, Island und ab November in der Schweiz.

Allerdings ging es nur in einem Artikel des SDÜ um die Binnengrenzen, und der ließ den Mitgliedstaaten bezeichnenderweise die Möglichkeit offen, das Recht, diese Grenzen an jedem Ort und zu jeder Zeit unkontrolliert überschreiten zu dürfen, in angeblichen Gefahrensituationen temporär wieder aufzuheben. Als Ausgleich für die (unvollkommene) Öffnung der Binnengrenzen forderte das Abkommen unter anderem eine rigide Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen. Diese blieben zwar in der Zuständigkeit des jeweiligen Mitgliedstaates, aber sie sollten in gemeinsamer Verantwortung und aufgrund gemeinsamer Maßstäbe wahrgenommen werden, die in einer Reihe von „Handbüchern“ weiter ausdifferenziert wurden. Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags im Jahre 1999 ging der gesamte Schengen-Acquis, also der „Besitzstand“ aus Abkommen und Beschlüssen, in EU-Recht über.

Grenzfragen, Asyl- und Visumspolitik waren nun „vergemeinschaftet“. Die Hoffnungen auf ein Ende der harten Abschottungspolitik, die das Schengener Kerneuropa außerhalb des formellen EU-Rahmens vorangetrieben hatte, erfüllten sich jedoch nicht. Ganz im Gegenteil: Im Februar 2002 verabschiedete der Rat einen Aktionsplan zur „Bekämpfung der illegalen Einwanderung“.[2] Im Juni desselben Jahres folgte der Grenzschutzplan. „Die EU-Außengrenzen spielen bei der Definition und dem Schutz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den wir alle wünschen, eine Schlüsselrolle“, erklärte der Rat gleich im ersten Satz dieses Plans.[3] Die Grenz- und die damit verkoppelte verpolizeilichte Ausländerpolitik sind in der Tat zu identitätsstiftenden Elementen des europäischen Staatsgebildes avanciert.

Über ein Grenzschutzkorps, wie es der damalige deutsche Innenminister Otto Schily im März 2001 gefordert hatte, verfügt die EU zwar (noch) nicht. Es sind nach wie vor die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, die für die Kontrolle und Überwachung ihres Teils der Außengrenze verantwortlich sind. Allerdings beschränkt sich die Rolle der EU längst nicht mehr nur darauf, gemeinsame Standards festzusetzen und zu überprüfen, ob diese von den Mitgliedstaaten eingehalten werden („Schen­gen-Evaluation“). Ab 2002 begannen die EU-Grenz­polizeien mit gemeinsamen Operationen und richteten gemeinsame Zentren ein. Das Stichwort dafür – „integrierter Grenzschutz“ – hatte die Kommission im Mai 2002 in einer Mitteilung geliefert: Eine „rein nationale“ Absicherung der Außengrenzen durch den jeweils zuständigen Mitgliedstaat reiche nicht aus. Auf EU-Ebene sei ein „Arbeitsmechanismus“ zu schaffen; die „tatsächlich mit den Kontrollen an den Außengrenzen befassten Vollzugsbeamten“ müssten sich „an einen Tisch“ setzen, „um ihre operationellen Maßnahmen im Rahmen einer integrierten Strategie miteinander zu koordinieren“.[4]

Der „integrierte Grenzschutz an den Außengrenzen“ stand in der EU-Verfassung und steht im Lissabonner Vertrag gleichrangig neben den Maßnahmen zum kontrollfreien Überschreiten der Binnengrenzen. Der „Arbeitsmechanismus“ hat sich mittlerweile zur „Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“, kurz: Frontex, gemausert, die den technischen Ausbau der Kontrolle und Überwachung vorantreibt und die nationalen Grenzpolizeien koordiniert und damit steuert.

Technisierung

Der „Schutz der Außengrenzen“ beinhaltete seit den 90er Jahren auch eine technische Aufrüstung. Was die Überwachung der „grünen“ und der „blauen“ Grenzen anbetrifft, nutzten die Mitgliedstaaten schon in den 90er Jahren Techniken, die dem militärischen Bereich entstammten. An der deutschen Ostgrenze setzte der Bundesgrenzschutz, die heutige Bundespolizei, seit 1993 Nachtsicht- und Wärmebildgeräte ein. Die ersten hatte man von der Bundeswehr geliehen. Italien und Spanien installierten an ihren Küsten Radaranlagen und beteiligten offiziell die Marine bei dem Versuch, „illegale Einwanderer“ auf See abzufangen. Dass die EU-Kommission jetzt bei ihren im Februar 2008 vorgestellten Plänen für das Grenzüberwachungssystem (Eurosur) auf (militärische) Satelliten und unbemannte Flugzeuge (Drohnen) zurückgreifen will, erscheint insofern nur konsequent.

Weiter technisiert wurde aber auch die Kontrolle an den Grenzübergängen. Datenbanken bildeten seit den 70er Jahren schon im nationalen Rahmen den Hintergrund der Grenzkontrolle. Die ersten 35 Terminals des deutschen polizeilichen Informationssystems INPOL wurden 1972 an Grenzübergängen installiert. Mit dem Schengener Informationssystem (SIS) entstand das erste supranationale polizeiliche Datensystem. Seit seiner Inbetriebnahme im Jahre 1995 handelte es sich kontinuierlich bei über 80 Prozent der darin gespeicherten Personen um „DrittausländerInnen“, die zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben waren. Daran wird auch die Einführung des SIS der zweiten Generation nichts ändern.

Mit dem SIS II und dem Visa-Informationssystem (VIS) hält bei der Grenzkontrolle auch die Biometrie Einzug. Eine Technik, die noch in den 90er Jahren allenfalls dazu geeignet schien, den Zugang zu speziell zu sichernden Orten auf einige wenige Befugte zu begrenzen, soll nun für die Zugangskontrolle zu einem Kontinent sorgen. Biometrische Merkmale – nämlich in erster Linie die Fingerabdrücke – sollen nicht nur erfasst werden, sie sollen auch die bestimmenden Kriterien für die Abfrage der beiden neuen Datenbanken sowie des Ein- und Ausreisekontrollsystems sein, das die Kommission in ihrem „Grenzpaket“ vom Februar dieses Jahres vorgeschlagen hat. SIS II und VIS, die auf einer gemeinsamen technischen Plattform betrieben werden, unterstreichen den engen Zusammenhang zwischen der verpolizeilichten Ausländer- und Visumspolitik der EU einerseits und der in starkem Maße auf AusländerInnen ausgerichteten Polizeikooperation andererseits. So werden die Konsulate das polizeiliche SIS II abrufen, während die Polizei sowohl bei Grenz- als auch bei Inlandskontrollen Zugang zum VIS erhält.

Vorverlagerung

Konsulate und Botschaften sind immer schon Grenzvorposten gewesen. Hier werden Visumsanträge geprüft und hier findet in Zukunft das „Enrolment“ der biometrischen Daten, im Klartext: die erkennungsdienstliche Behandlung, für das VIS statt. An Konsulaten und Botschaften sind aber auch die „Dokumentenberater“ und grenzpolizeilichen VerbindungsbeamtInnen (Immigration Liaison Officer, ILO) stationiert, die einerseits Transportgesellschaften und Behörden des jeweiligen Einsatzstaats instruieren, wie sie falsche Dokumente erkennen und die Kontrollen schon am Ort der Abreise effizienter gestalten können, und die andererseits Informationen über Migrationsbewegungen und „Schleuser“ nicht nur an ihren Heimatstaat zurückmelden, sondern in das Netz der EU (Iconet) einspeisen sollen.

Sichtbarer und dramatischer ist die Vorverlagerung der Außengrenzen dort zu erkennen, wo Nachbarstaaten als Pufferstaaten genutzt werden. In den 90er Jahren waren es Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, die sich in die Kontrolle und Überwachung ihrer Westgrenzen einbinden ließen – für finanzielle Gegenleistungen, aber auch mit dem Ziel, die Visumsfreiheit für die eigenen StaatsbürgerInnen und auf lange Sicht die Aufnahme in die EU zu erreichen. Heute hat die Ukraine die Rolle als Pufferstaat im Osten übernommen. Die „orangene Revolution“ und der Beitritt des Landes zu den diversen internationalen Verträgen kommt der EU dabei gerade recht. Sie machen aus der Ukraine auf dem Papier einen sicheren Drittstaat, in den man problemlos Menschen zurückschieben kann. Kein Thema ist dagegen die fehlende demokratische Qualität beispielsweise Marokkos und Libyens, die auf der südlichen Seite des Mittelmeers die Außengrenzen der EU schützen helfen, Flüchtlinge aus Afrika in Lager einknasten, sie ohne jegliches Verfahren in ihr Herkunftsland oder einfach in die Wüste abschieben.

Vergrenzung des Inlands

Kommen wir zurück ins Innere des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. An den Binnengrenzen mögen im „Normalfall“ keine Kontrollen mehr stattfinden, für den Ernstfall, der ihre Wiedereinführung erlaubt, bedarf es aber nicht viel: Demonstrationen gegen ein Gipfeltreffen oder ein bedeutenderes Fußballturnier reichen aus. Die Binnengrenzen sind zu polizeilichen Stützpunkten besonderer Art geworden. Gemeinsame Kommissariate koordinieren gemischte Streifen auf beiden Seiten und diverse Formen des grenzüberschreitenden Polizeieinsatzes.

Zugleich hat das Bestreben, unerwünschte ImmigrantInnen und Flüchtlinge abzuwehren, eine Vergrenzung des Inlands bewirkt: Sie zeigt sich an Räumen, die mitsamt der Grundrechte exterritorialisiert werden. Flüchtlinge, die auf Flughäfen Asyl beantragen, gelten als nicht eingereist und können umso leichter wieder abgeschoben werden. Nicht nur in den Pufferstaaten rund um die Außengrenzen, sondern auch im Innern der EU ist ein System von Lagern und „Ausreisezentren“ entstanden.

Die Vergrenzung zeigt sich aber auch an den verdachts- und ereignis­unabhängigen polizeilichen Kontrollen, die früher nur an Grenzen mög­lich waren. Die BRD hat die nach innen verlagerte Grenzkontrolle als „Schleierfahndung“ förmlich verrechtlicht – und zwar nicht nur im „rück­wärtigen Grenzraum“, sondern auch in definitiv grenzfernen Gegenden. Sie ermöglicht eine krampfhafte Jagd auf „Illegale“, die man ei­gentlich für die Drecksarbeiten gerne nimmt und braucht. „Sans-papiers“ arbeiten im Baugewerbe, in der Gastronomie oder zu miserablen Bedingungen un­ter den Plastikplanen der Intensivlandwirtschaft – nicht nur in Südspanien, von wo die BürgerInnen der EU selbst im tiefsten Winter ihre Tomaten beziehen. Sie pflegen alte Leute, sie putzen und versorgen Haushalte, und ermöglichen es damit so mancher Frau aus der Mittelschicht, ihrem Beruf nachzugehen, ohne einen Konflikt über die Teilung der Hausarbeit mit dem eben so sehr beruflich engagierten Mann zu riskieren.

Es versteht sich fast von selbst, dass nicht nur ImmigrantInnen in den Genuss solcher verdachtsloser Polizeikontrollen geraten, sondern durchaus auch InländerInnen – sei es, weil sie zufälligerweise dem Merk­malsraster des „grenzüberschreitenden Kriminellen“ entsprechen, oder auch nur, weil sie als Ausgegrenzte, „Randständige“ ohnehin im Visier der Polizei sind.

Jakob Arjounis Jahr 2064 hat schon begonnen, nur ist es nicht so komisch wie im Roman.

Anja Lederer und Heiner Busch sind Redaktionsmitglieder von Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
[1] Arjouni, J.: Chez Max, Zürich 2007
[2] Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 142 v. 14.6.2002, S. 23-36
[3] Ratsdok. 10019/02 v. 14.6.2002
[4] KOM(2002) 233 endg. v. 7.5.2002

Bibliographische Angaben: Lederer, Anja; Busch, Heiner: Die neuen europäischen Grenzen. Abschottung nach außen – Vergrenzung nach innen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 89 (1/2008), S. 3-8

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