Im Feld der Inneren Sicherheit – Über den Vormarsch der Bundeswehr in der Heimat

von Norbert Pütter

Seit der „neue Sicherheitsbegriff“ zum Bezugspunkt der Politik geworden ist, gibt es kein Halten mehr: Weil sich innere und äußere Gefahren nicht mehr unterscheiden ließen, weil Kriminalität, Terrorismus und Krieg im Zeitalter der „asymmetrischen Bedrohungen“ eine gefährliche Melange eingegangen wären, müsse das Militär potentiell überall eingreifen können. Auf vier Wegen wird derzeit versucht, dieses Ziel zu erreichen.

Im Vordergrund der Debatte steht seit Jahren der Streit um die Änderung des Grundgesetzes. Die entscheidenden Bestimmungen waren 1968 durch die Notstandsgesetzgebung in die Verfassung eingefügt worden. Sie beschränken den Einsatz der Bundeswehr – außerhalb des Spannungs- und Verteidigungsfalls – auf die Hilfe bei schwerwiegenden Katastrophen und Unfällen. Bereits in den 90er Jahren hatten Politiker der CDU immer wieder den Einsatz der Bundeswehr im Innern gefordert – mal zur Abwehr von Flüchtlingsströmen, mal zur Kontrolle der Chaostage. Jedoch erst mit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde die Debatte konkreter.[1]

Seit 2004 legten die CDU/CSU-geführten Länder im Bundesrat und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mehrere Gesetzentwürfe vor, durch die zwei Artikel des Grundgesetzes verändert werden sollten:[2] In den Regelungen über die Katastrophenhilfe (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) sollte eine Bestimmung aufgenommen werden, der zufolge die Bundeswehr „im Falle terroristischer Bedrohungen“ von den Ländern zum zivilen Objektschutz angefordert werden könnte. Außerdem sollte der Einsatz unmissverständlich auch zur „Verhinderung einer unmittelbar drohenden Katastrophe“ zulässig sein (denn in der gegenwärtigen Rechtslage ist umstritten, ob die Katastrophenhilfe sich nur auf die Bewältigung der Folgen einer eingetretenen Katastrophe oder auch auf deren Verhinderung erstreckt). Durch die Erweiterung von Art. 87a Abs. 2 GG sollte die „Abwehr von Gefahren aus der Luft und von See her, zu deren wirksamer Bekämpfung der Einsatz der Streitkräfte erforderlich ist“ der Bundeswehr übertragen werden.

Die damalige rot-grüne Bundestagsmehrheit lehnte die Vorschläge ab. Statt das Grundgesetz zu ändern, wurde das Luftsicherheitsgesetz 2004 als Ausführungsgesetz zu Art. 35 Abs. 2 und 3 verabschiedet. Angesichts der politischen Differenzen zwischen CDU/CSU und SPD hatte sich die Große Koalition nach dem Regierungswechsel darauf verständigt, über die Frage einer etwaigen Grundgesetzänderung nach dem Urteil des Verfassungsgerichts über das Luftsicherheitsgesetz zu entscheiden. Dieses verwarf im Februar 2006 das Gesetz nicht nur wegen seiner Unverträglichkeit mit Art. 1 und 2 GG, sondern auch, weil Art. 35 GG keine Grundlage für den Einsatz militärischer Waffen darstelle.[3]

Seit dieser Entscheidung diskutiert die Koalition über Novellierungsvorschläge unterschiedlicher Reichweite.[4] Die SPD möchte die Bestimmungen über die Katastrophenhilfe erweitern und den Streitkräften den Gebrauch „auch militärischer Mittel zur Gefahrenabwehr“ erlauben, wenn diese Gefahren „aus dem Luftraum oder von See her unmittelbar“ drohen.[5] Das CDU-geführte Innenministerium möchte hingegen über Art. 87a Abs. 2 GG die Bundeswehr „zur unmittelbaren Abwehr eines sonstigen Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens“ ermächtigen.[6]

Da die Kluft zwischen beiden Vorschlägen sehr groß ist, da es für die SPD einen hohen politischen (Symbol-)Wert besitzt, den Einsatz der Bundeswehr zu begrenzen,[7] die CDU aber die Gelegenheit nicht verstreichen lassen will, der Bundeswehr mehr Aufgaben im Innern zu übertragen, ist der Weg zu einer Grundgesetzänderung gegenwärtig parteipolitisch blockiert – so lange kein terroristischer Anschlag in Deutschland verübt wird, der die Fronten schnell aufweichen wird.

Zeitgemäße Verfassungsdeutungen

Wenn die Verfassung nicht geändert wird, dann bietet sich über eine neue Interpretation der bestehenden Bestimmungen ein Ausweg. Die entscheidende Hürde für einen Inlandseinsatz liegt in Art. 87a Abs. 2, der den Einsatz „außer zur Verteidigung“ nur in jenen Fällen zulässt, die das Grundgesetz „ausdrücklich“ erwähnt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass alle Tätigkeiten, die als Verteidigung aufgefasst werden können, von der Verfassung gedeckt sind. Bereits durch die Out of Area-Ent­schei­dung des Verfassungsgerichts von 1996 war der Verteidigungsbegriff von den territorialen Grenzen Deutschland getrennt worden; Verteidigung im Sinne des Grundgesetzes umfasst seitdem auch die Verteidigung der NATO-Interessen bzw. die der Vereinten Nationen.[8]

Im Hinblick darauf, was das Grundgesetz mit „Verteidigung“ meint, ist die ältere Kommentarliteratur eindeutig. In Dürigs Kommentierung zu Art. 87a von 1971 heißt es z.B.: „Die Bundeswehr ist ein Instrument der Verteidigung. – Hier wird … betont, dass die Streitkräfte der Bundesrepublik im Rahmen zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen an den verfassungsrechtlichen Verteidigungsauftrag gebunden sind und ihrer Verwendung dadurch entscheidende Grenzen gezogen sind.“[9] Demnach handelt es sich nur dann um Verteidigung, wenn es um Konflikte zwischen Staaten geht.

Neuere Kommentare lehnen diese Interpretation durchweg ab. Angesichts der Anschläge international agierender terroristischer Gruppen komme es nicht darauf an, ob der Angriff von einem Staat oder von Kombattanten ausgehe.[10] Vielmehr sei ausschlaggebend, dass der Angriff von außen komme und die Polizei ihn nicht abwehren könne.[11] Das Auslandskriterium sei auch dann erfüllt, „wenn die Tat zwar im Innern begangen wird, der Angriff aber vom Ausland gesteuert“,[12] „initiiert, geplant, angeordnet wird oder in sonstiger Weise Auslandsbezug aufweist“[13]. Zusätzlich wird auf die Organisationsstruktur der Angreifenden und auf die Zerstörungskraft des Angriffs hingewiesen.[14] Entscheidend seien seine Modalitäten und sein Ausmaß. Seien diese mit zwischenstaatlichen Konflikten vergleichbar, dann handele es sich bei den Abwehrreaktionen um Verteidigung.[15] Unter den Bedingungen der „asymmetrischen Kriegführung“ müsse der Verteidigungsbegriff „von der Opferseite her mit Blick auf die objektiv empirisch qualitativ wie quantitativ kriegsanaloge Verheerungsausmaße tragenden Folgen“[16] verstanden werden. Auch wird argumentiert, es handele sich immer dann um Verteidigung, wenn nur die Bundeswehr aufgrund ihrer Bewaffnung oder ihrer sonstigen exklusiven Fähigkeiten „einen Angriff auf die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger effektiv abwehren“ könne.[17] Eine letzte Bedeutung erhält der Verteidigungsbegriff der Verfassung durch die Verbindung zum Völkerrecht. Demnach sei der Bereich der Verteidigung eröffnet, wenn ein Problem – etwa der internationale Terrorismus – „ein zwischenstaatlichen Konflikten vergleichbares Bedrohungspotential erreicht“ habe. Dies sei immer dann gegeben, wenn etwa die NATO den Bündnisfall beschließe oder die Vereinten Nationen eine Bedrohung des Weltfriedens feststellten.[18]

Mit diesen teils alternativen, teils kumulativ genutzten Kriterien zur Definition von „Verteidigung“ wird das potentielle Aufgaben- und Handlungsspektrum der Bundeswehr ausgedehnt, ohne dass es einer Verfassungsänderung bedarf. Nach dem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz wurde denn auch vom Bundesverteidigungsminister ins Gespräch gebracht, ob bei terroristischen Anschlägen einer gewissen Qualität nicht von einem Angriff auf das Gemeinwesen ausgegangen werden müsse, auf den nur mit „Verteidigung“ reagiert werden könne.[19] Zur Untermauerung dieser Auffassung verweist Innenminister Wolfgang Schäuble auf die Erklärung des Bündnisfalles durch die NATO nach dem 11. September 2001, der internationale „Verteidigungshandlungen“ aus­gelöst habe.[20] Noch haben diese Interpretationen keine unmittelbaren Folgen, aber sie entgrenzen den militärischen Zuständigkeitsbereich und bereiten das Feld vor, auf dem zukünftige Verfassungsänderungen als bloße „Klarstellung“ deklariert werden können.

Transformation nach innen

Seit Ende der 90er Jahre befindet sich die Bundeswehr in der „Transformation“: Aus den auf die Landesverteidigung ausgerichteten Streitkräften, deren Selbstverständnis an der Logik der Abschreckung orientiert war, wird eine Einsatzarmee, die in der Lage sein soll, deutschen und Bündnisinteressen weltweit mit militärischen Mitteln Nachdruck zu verleihen. Für die Tätigkeiten der Bundeswehr im Inland sind zwei Elemente der Transformation von unmittelbarer Bedeutung: Erstens wird die Bundeswehr personell reduziert. Im Jahr 2010 wird sie mit rund 250.000 SoldatInnen nur noch halb so groß sein wie 1989. Sie hat aber nicht nur weniger Personal zur Verfügung, sondern diese sind auch weniger breit im Land verteilt, da 105 Standorte aufgegeben werden bzw. schon aufgegeben sind. Zweitens wird das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr an ihrer neuen Aufgabe ausgerichtet. Die Streitkräfte werden – quer zu Heer, Marine und Luftwaffe – in „Eingreifkräfte“, „Stabilisierungskräfte“ und „Unterstützungskräfte“ gegliedert. Während die Eingreifkräfte (35.000 SoldatInnen) faktisch zur Kriegführung in der Lage sein sollen, stehen die 70.000 Stabilisierungskräfte für Einsätze „niedriger und mittlerer Intensität“ zur Verfügung. Die fast 150.000 Unterstützungskräfte sollen die „Durchhaltefähigkeit“ der Einsätze gewährleisten und den Grundbetrieb der Bundeswehr aufrecht erhalten.[21] Für die Inlandstätigkeiten der Bundeswehr bedeutet die Transformation insgesamt, dass weniger Personal an weniger Orten in Deutschland zur Verfügung steht und die gesamte Organisation auf Operationen außerhalb Deutschlands ausgerichtet ist.

Statt sich angesichts dieser Situation aus der Inlandstätigkeit zu verabschieden, reklamiert die Bundeswehr vielmehr einen erweiterten Auftrag, der den „Schutz der Bevölkerung und der Infrastruktur“ umfassen soll.[22] Institutionelles Rückgrat der Neuausrichtung im Innern bildet die neue territoriale Organisation der Bundeswehr. Bereits 2001 wurde in Köln-Wahn das „Streitkräfteunterstützungskommando“ (SKUKdo) eingerichtet, dem sämtliche territoriale Einheiten der Bundeswehr unterstellt wurden, und das Einsätze im Innern planen, koordinieren und führen soll. Bis 2007 war die territoriale Organisation in vier Wehrbereichskommandos gegliedert, die als Ansprechpartner für die Landesregierungen fungierten. Die nachgeordneten 27 Verteidigungsbezirkskom­mandos, die in großen Zuständigkeitsbereichen durch insgesamt 50 „Verbindungskommandos Kreis“ unterstützt wurden, (und das Standortkommando Berlin) waren für die Zusammenarbeit mit den Regierungsbezirken, Landkreisen und kreisfreien Städte zuständig.[23]

Nach Modellversuchen in drei Bundesländern wurde im ersten Halbjahr 2007 eine neue territoriale Struktur bundesweit eingeführt. Unterhalb des SKUKdo werden in jedem Bundesland „Landeskommandos“ (in Berlin „Standortkommando“) aufgestellt, die je nach Größe des Bundeslandes zwischen 30 bis 90 Dienstposten umfassen. Unterhalb dieser aktiven Kommandos wurden für die 31 Regierungsbezirke „Bezirksverbindungskommandos“ (BVK) und für die 426 Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland „Kreisverbindungskommandos“ (KVK) eingerichtet. Während die Landeskommandos aus aktiven SoldatInnen bestehen, werden die Kommandos der unteren Ebenen durch Reservisten gestellt, die die Tätigkeit in ihrer Freizeit ausüben sollen. Mit dieser Struktur passt die Bundeswehr ihre Inlandsorganisation an die politische Gliederung des Bundesgebiets an und stellt ebenengerecht Ansprechpartner zur Verfügung.[24]

Die KVK/BVK bestehen aus zwölf Dienstposten; damit werden bundesweit über 5.000 Reservisten in die Bundeswehrarbeit einbezogen. Die Kommandos werden von einem Oberst bzw. einem Oberstleutnant der Reserve geführt, der als „Beauftragter der Bundeswehr für die zivil-mili­tärische Zusammenarbeit“ (BeaBwZMZ) fungiert. Diese Beauftragten werden auf ihre Aufgaben durch Lehrgänge an der Feldjägerschule in Sonthofen und an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz in Bad Neuenahr-Ahrweiler ausgebildet. KVKs und BVKs werden jeweils mit zwei Mobiltelefonen, zwei Laptops sowie mit Drucker, Scanner und Digitalkamera ausgestattet. Die zivilen Behörden sollen ihnen nach Möglichkeit ein Büro zur Verfügung stellen.[25]

Als Ansprechpartner für die zivilen Behörden sollen die Verbindungskommandos Kontakte herstellen und pflegen. Sie sollen in allen Angelegenheiten mit Bezug zur Bundeswehr beraten, bei der Erstellung von lokalen Lagebildern mitwirken, Unterstützungsgesuche entgegennehmen und gemäß den Weisungen des Landeskommandos die militärischen Interessen vor Ort vertreten. Die Leiter der KVKs/BVKs sollen nicht nur die zivilen Krisenstäbe (sofern solche gebildet werden) beraten, Unterstützungsgesuche weiterleiten und die Aufnahme von Unterstützungskräften vorbereiten, sondern auch eine „schichtfähige militärische Unterstützungszelle“ bilden und den „örtlichen militärischen Führer“ beraten.[26]

Die nicht-aktive, weil auf Reservisten gestützte territoriale Basisorganisation wird durch zwei aktive Elemente ergänzt. Zum einen bilden die Landeskommandos „Regionale Planungs- und Unterstützungstrupps“, die den KVKs/BVKs bei Daueraufgaben helfen sollen. Zum anderen werden bundesweit insgesamt 16 „ZMZ-Stützpunkte“ eingerichtet. Dabei handelt es sich um bestehende Standorte, an denen Material und Ressourcen aus den Bereichen Pioniere, ABC-Abwehr und Sanität vorrätig gehalten werden.[27]

Die territorialen Kommandos haben allein beratende Aufgaben. Sie helfen weder unmittelbar selbst, noch können sie über die Ressourcen der Bundeswehr verfügen. Alle Einsätze werden vom Streitkräfteunterstützungskommando geführt. Da die Bundeswehr für Inlandstätigkeiten keine eigenen Einheiten bereithält, können auch Unterstützungs- oder Eingreifkräfte eingesetzt werden.[28] Ob den zivilen Behörden Geräte, Personal oder Dienstleistungen bereitgestellt werden, entscheiden – abhängig von Umfang und Brisanz des Nachgefragten – die Wehrbereichskommandos, das SKUKdo oder das Verteidigungsministerium. Mit der neuen Organisation versucht die Bundeswehr die Quadratur des Kreises, nämlich mit weniger Personal und Auslandsorientierung gleich­wohl im Inland präsent zu sein. Im Moment ist die praktische Relevanz dieser Lösung noch unklar. Deutlich ist aber, sollte das Modell funktionieren, dass die Bundeswehr erheblich näher an die zivilen Behörden heranrückt und sich anschickt, eine schlafende, aber im Ernstfall zu aktivierende Parallelorganisation zum zivilen Krisenmanagement zu schaffen.

Katastrophen- und Amtshilfe

Dass die Bundeswehr über Ressourcen verfügt, die zur Bewältigung von Katastrophen und Unglücksfällen beitragen können, ist unbestritten. Eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe hat 2005 anhand unterschiedlicher Schadensszenarien die Spezialfähigkeiten der Bundeswehr aufgelistet. Im Kern bestehen sie in den Bereichen ABC-Abwehr, Lufttransport, schweres Gerät und medizinische Versorgung.[29] Auf diese und andere Fähigkeiten verweist das Verteidigungsministerium auch im jüngsten Weißbuch.[30] Im Prinzip stellt die Bundeswehr diese Ressourcen für den Katastrophenfall zur Verfügung. Der Katastrophenschutz, d.h. auch die Vorbereitung auf etwaige Katastrophen, obliegt den Landes- und Kreisbehörden. Die Bundeswehr weigert sich jedoch – mit Verweis auf ihren primären Verteidigungsauftrag – konkrete Zusagen im Bereich der Katastrophenhilfe einzugehen. Sie verweist allein auf bestimmte „Fähigkeiten“, über die sie verfügt; ob diese aber im Ernstfall auch aktiviert werden können, das müsse von den jeweiligen militärischen Erfordernissen, etwa dem Engagement in anderen Weltregionen, abhängig gemacht werden.[31]

In der Vergangenheit hat sich die Bundeswehr derartigen Katastropheneinsätzen nie widersetzt: von der Hamburger Flutkatastrophe 1962 über Waldbrände und Schneekatastrophen in den 70er Jahren bis zu den Hochwassern der Oder (1999) oder der Elbe (2002), vom ICE-Unglück in Eschede (1998) bis zum Einsatz gegen die Vogelgrippe auf Rügen (2006). Im Juli 2007 machte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Links-Fraktion Angaben über die Inlandstätigkeiten der Bundeswehr für den Zeitraum von 1996 bis 2007.[32] Demnach wurde die Bundeswehr bei 71 Katastrophen oder schweren Unfällen eingesetzt: 19 Einsätze galten Hochwassern, jeweils neunmal waren Waldbrände oder Abstürze von Flugzeugen oder Hubschraubern, je fünf­mal Schnee oder Zugunglücke und je viermal Stürme oder Feuer Anlass des Einsatzes. Mit 45.000 Bundeswehrangehörigen fand der größte Inlandseinsatz im Juli/August 2002 wegen des Hochwassers an Elbe, Mulde und Donau statt. Obwohl die Tätigkeiten allenfalls am Rande eines militärischen Fähigkeitsprofils (und außerhalb des Auftrags zur Landesverteidigung) liegen, erfolgen die Katastropheneinsätze der Bundeswehr mit großem Engagement und Kräfteeinsatz. Schließlich bieten sie die einmalige Chance, praktisch zu helfen und die eigene Existenz gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen.

Jenseits von Katastrophenfällen kann die Bundeswehr auch unter bestimmten Voraussetzungen Dritten helfen; dabei kann es sich um öffentliche oder private Stellen handeln. Diese Hilfe ist kostenpflichtig (sofern das Verteidigungsministerium nicht auf die Erhebung von Kosten verzichtet). Zwischen 1997 und 2007 hat sie 220-mal Hilfeleistungen gewährt. Am häufigsten half die Bundeswehr bei Sportveranstaltungen (46-mal, z.B. Berlin-Marathon), gefolgt von der Beteiligung an Festen (29-mal, z.B. Feldküchen auf Weihnachtsmärkten), dem Transport oder der Verpflegung von Randgruppen (16-mal), dem Bau von Ersatzbrücken (15-mal) und der jährlichen Münchener Sicherheitskonferenz (12-mal).

Mit der Bestimmung über die Amtshilfe („Die Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe.“) bietet das Grundgesetz in Art. 35 Abs. 1 noch eine weitere rechtliche Grundlage für Tätigkeiten der Bundeswehr im Innern. In der oben genannten Antwort listete die Bundesregierung für das vergangene Jahrzehnt 61 Fälle von Amtshilfe durch die Bundeswehr auf: in 25 Fällen stellte die Bundeswehr Unterkunft und/oder Verpflegung (in der Regel für Polizeikräfte) bereit, in 12 Fällen half sie bei Bombenentschärfungen. Die anderen Anlässe reichten vom Einkleiden der Olympiamannschaft bis zur Bergung eines Baggers oder vom Besuch des US-Präsidenten George W. Bush in Mainz bis zur Fußball-Weltmeisterschaft.[33]

Besondere Ausmaße nahm die Amtshilfe durch die Bundeswehr während der Fußball-WM 2006 und des G8-Gipels in Heiligendamm Anfang Juni 2007 an. Bei der Weltmeisterschaft waren nach Auskunft der Bundesregierung 3.185 SoldatInnen tätig; weitere 3.000 waren als Personalreserve eingeplant. Knapp die Hälfte des Bundeswehrpersonals war für den Bereich Verletztenrettung und -versorgung vorgesehen, rund 860 SoldatInnen waren in der ABC-Aufklärung und über 300 Personen in verschiedenen militärischen Lagezentren beschäftigt. Neben Rettungshubschraubern, -wagen und -stationen wurden auch vier Faltstraßen, 24 Spürpanzer Fuchs und acht Pionierpanzer Dachs bereit gestellt.[34]

Zum G8-Gipfel wurden an die Bundeswehr 32 Amtshilfeanträge gestellt. Die Antragsteller reichten vom Auswärtigen Amt (z.B. Herrichten eines Hubschrauberlandeplatzes) über das Bundeskriminalamt (Anlegen eines Untergrunds für die Aufstellung von Küchencontainern) bis zum Bundespresseamt (Transport von Journalisten). Die meisten Anträge kamen naturgemäß vom Mecklenburg-Vorpommerschen Innenministerium. Beantragt wurde u.a. Minenjagdboote, Radar zur Erkennung von Kleinstflugkörpern, Nachtsichtbrillen, Ferngläser, Zelte, Decken, Unterkünfte (für über 6.000 PolizistInnen), zwei Flüge zur Überprüfung der Erdoberflächenbeschaffenheit und neun Panzerspähwagen vom Typ Fennek zur „Geländeaufklärung“.[35] Statt der genehmigten zwei Flüge („Missionen“) mit je zwei Maschinen kam es schließlich zum Einsatz von 14 Tornados in sieben Missionen.[36] Im Rahmen der Amtshilfe wurden beim G8-Gipfel ca. 1.100 Angehörige der Bundeswehr eingesetzt, gleichzeitig waren 1.000 SoldatInnen mit originären Aufgaben der Bundeswehr befasst (z.B. Eigensicherung militärischer Anlagen und militärischen Personals); 350 Bundeswehrangehörige waren an der Kontrolle des Luftraums beteiligt.[37]

Nach Auffassung der Bundesregierung waren alle Amtshilfen rechtlich zulässig. Denn Art. 87a Abs. 2 GG untersage nur den „Einsatz“, nicht aber jede Tätigkeit der Bundeswehr im Innern. Und ein „Einsatz“ im Sinne der Verfassung liege nur dann vor, wenn die Soldaten selbst hoheitlich tätig würden, indem sie „in die Grundrechte von Bürgern eingreifen“.[38] Das sei aber in Heiligendamm nicht der Fall gewesen. Die Bundesregierung macht sich damit eine besonders enge Definition des Einsatzbegriffs zu Eigen, die angesichts der Praxis auf dem Gipfel nicht besonders überzeugend ist. So räumt sie etwa ein, dass die Beobachtungen der Fenneks unmittelbar an die polizeiliche Einsatzleitung weitergegeben wurden, um der Polizei ein umfassendes Bild der Lage zu verschaffen.[39] Damit kann die Dienstleistung der Bundeswehr auf polizeiliches Verhalten direkt Einfluss nehmen. Ihr Beitrag besteht nicht in einer allgemeinen Leistung (wie etwa das Bereitstellen von Unterkünften), sondern er ist ein Teil hoheitlichen Handelns.

Außerdem verkennt diese enge Fassung des Einsatzbegriffs, dass dessen politischer Sinn darin bestehen sollte, den Einfluss des Militärs auf politische Streitfragen zu neutralisieren.[40] Demnach handelt es sich dann um einen Einsatz, wenn diese innenpolitische Neutralität der bewaffneten Macht verletzt wird. Die Spähpanzer auf den Autobahnbrücken, mehr noch die Tornadoflüge (davon einer unterhalb der erlaubten Flughöhe über ein Camp der Demonstrierenden) haben diese Schwelle eindeutig überschritten, weil ihre einschüchternde Wirkung auf die Protestierenden offenkundig ist.

Alles in eine Richtung

Während auf der politischen Ebene der Streit um eine Grundgesetzänderung schwelt, arbeiten die Interpreten der Verfassung an neuen Spielräumen. Auf der einen Seite wird Terrorismus zum Quasi-Krieg stilisiert, damit möglichst vieles als „Verteidigung“ deklariert werden kann, auf der anderen Seite wird hoheitliches Handeln eng definiert, damit möglichst vieles zur „technischen“ Amtshilfe bagatellisiert werden kann. Die Spielräume werden unterdessen praktisch ausgelotet. Ein erster Versuch über das Luftsicherheitsgesetz ist einstweilen noch am Verfassungsgericht gescheitert. Gleichwohl hat der Bundesverteidigungsminister erklärt, er werde in einer entsprechenden Situation den Abschussbefehl erteilen. Die Verfassungswidrigkeit des Einsatzes im Innern versucht man in anderen Fragen mit vorgeschobener Naivität zu verdecken, indem Spähpanzer auf Autobahnbrücken oder Tornadoflüge auf dieselbe Stufe gestellt werden wie die Bereitstellung von Unterkünften.

Die Bundeswehr hat ihrerseits organisatorische Fakten geschaffen. Sie steht bereit, alles das zu tun, was gesetzlich möglich ist (oder nach herrschender Auffassung möglich scheint). Sie ist zwar an allen Orten ansprechbar, aber da wo es am ehesten nachvollziehbar wäre, in der Katas­trophenhilfe, ist sie zu verbindlichen Verpflichtungen nicht bereit. Offenkundig geht es gegenwärtig nicht darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Bundeswehr bei Katastrophen effektiv helfen kann, sondern darum, eine allgemeine Einsatzreserve zu schaffen, wenn wieder einmal der Staat in Gefahr sein sollte.

[1] s. Gose, S.: Bundeswehr im Innern. Die Union rüstet erneut zum Kampf, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 70 (3/2001), S. 49-54
[2] BR-Drs. 181/04 v. 5.3.2004; identischer Wortlaut in den BT-Drs. 15/2649 v. 9.3.2004 u. 15/4648 v. 15.1.2005
[3] www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html
[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.9.2007
[5] Wiefelspütz, D.: Die Abwehr terroristischer Anschläge und das Grundgesetz, Frankfurt am Main 2007, S. 88
[6] zit. nach Piper,G.: Einsatz der Bundeswehr im Innern, in: Telepolis v. 12.9.2007 (www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26136/1.html)
[7] Die Ablehnung einer weiterreichenden Grundgesetzänderung geht bei der SPD allerdings mit einer besonders bundeswehrfreundlichen Interpretation des Einsatz- und Verteidigungsbegriffs einher.
[8] Kutscha, M.: „Verteidigung“ – Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, in: Kritische Justiz 2004, H. 3, S. 228-240
[9] Dürig, G.: Art. 87a, Rdnr. 22 f., in: Maunz, T.; Dürig, G.; Herzog, R. u.a.: Grundgesetz (Kommentar), München 1971
[10] Wiefelspütz, D.: Bundeswehr und innere Sicherheit, in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (NWVBl.) 2006, H. 2, S. 41-45 (42)
[11] Wiefelspütz, D.: Die Mär von der Schutzlücke, in: Frankfurter Rundschau v. 1.8.2005
[12] Wiefelspütz a.a.O. (Fn. 10), S. 42
[13] Krings, G.; Burkiczak, C.: Sicherer Himmel per Gesetz?, in: NWVBl. 2004, H. 7, S. 249-253 (252)
[14] Kokott, J.: Art. 87a, in: Sachs, M. (Hg.): Grundgesetz, München 2007, S. 1682-1697 (Rn. 34)
[15] s. Krings; Burkiczak a.a.O. (Fn. 13), S. 251
[16] Hernekamp, K.-A.: Art. 87a, in: Münch, I. v.; Kunig, P. (Hg.): Grundgesetz-Kommentar (3. Band), München 2003, S. 361-386 (365)
[17] Gramm, C.: Der wehrlose Verfassungsstaat, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2006, H. 11, S. 653-661 (656)
[18] Kokott a.a.O. (Fn. 14), S. 1691 Rn. 33; Baldus, M.: Artikel 87a, in: Mangoldt, H. v.; Klein, F.; Starck, C. (Hg.): Kommentar zum Grundgesetz, München 2005, S. 189-243, Rn. 47
[19] s. FAZnet v. 2.5.2006
[20] so Innenminister Schäuble in einem Interview, Frankfurter Rundschau v. 4.5.2006
[21] Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Berlin 2004
[22] BMVg: Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Berlin 2005, S. 45 (Nr. 80); BMVg: Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2006, S. 70
[23] www.streiftkraeftebasis.de (Stichwort: Zivil-Militärische Zusammenarbeit in Deutschland)
[24] Streitkräftebasis: Basisinformationen zur Neuordnung der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit bei Hilfeleistungen/Amtshilfe, Bonn 2007
[25] BMVg: Führungsunterstützungskonzept für die Zivil-Militärische Zusammenarbeit auf Bezirks- und Kreisebene ausschließlich durch Reservisten und Reservistinnen (FüUstgKonz BeaBwZMZ/BVK/KVK), Bonn 2006, S. 8
[26] ebd.
[27] www.streitkraeftebasis.de a.a.O. (Fn. 23)
[28] BMVg a.a.O. (Fn. 21), S. 25-27
[29] Bundesministerium des Innern: Gemeinsamer Bericht der Arbeitsgruppe „Unterstützung durch die Bundeswehr im Katastrophenschutz der Länder“ des Bundesministeriums des Innern, des Bundesministeriums der Verteidigung und der Länder Bayern, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Berlin 2005, S. 7-10
[30] BMVg a.a.O. (Fn. 22: Weißbuch), S. 90 f.
[31] Bericht des AK V „Feuerwehrangelegenheit, Rettungswesen, Katastrophenschutz und zivile Verteidigung“ der Innenministerkonferenz zur Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes (Stand: 19.04.05), München 2005. S. 27 f.
[32] BT-Drs. 16/6159 v. 26.7.2007
[33] ebd.
[34] BT-Drs. 16/1416 v. 10.5.2006
[35] BT-Drs. 16/6317 v.10.9.2007
[36] BMVg: Bericht des Bundesministeriums der Verteidigung zu Unterstützungsleistungen der Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm vom 6. bis 8. Juni 2007, Bonn, Berlin 2007, S. 8 (http://www.montys.de/dateien/the
men/heiligendamm07/kriegsministerum___bericht_bw_einsatz_heiligendamm.pdf)
[37] ebd., S. 4 f.
[38] BT-Drs. 16/6301, S. 1
[39] BMVg a.a.O. (Fn. 36), S. 18
[40] Dürig a.a.O. (Fn. 9), S. 17, Rn. 31