Bandenkampf und blinde Flecken – Der Gebrauch von „Geschichte“ in der Polizei

von Michael Sturm

Die polizeiliche Historiografie war während Jahrzehnten eine biedere Hausgeschichtsschreibung, die mehr verschleierte als erhellte. Diese Haltung scheint heute einer neuen Offenheit zu weichen. Für das gegenwärtige Selbstverständnis, die Handlungsmuster und Einsatzkonzepte bleibt die Auseinandersetzung vor allem mit der NS-Vergangenheit jedoch folgenlos.

„Vorbehaltlos“ aber weitgehend inhaltsleer waren die Bekenntnisse zur parlamentarischen Demokratie, die die Polizei nach 1949 in Fachzeitschriften, Präambeln von Ausbildungshandbüchern oder Ansprachen bei der Vereidigung von Bereitschaftspolizeieinheiten ablegte. Die Spuren der kommunalen und nicht-militarisierten Polizeikonzepte, die die britischen und amerikanischen Besatzungsmächte – wenn auch vielfach nur halbherzig – zu installieren versucht hatten, waren schnell beseitigt. Nachdem die Polizeigewalt wieder in deutschen Händen war, bemühte man sich um eine Restauration des preußisch-deutschen Polizeimodells.

Die Strukturen, das Selbstverständnis und die paramilitärische Ausrüstung der neuen Bereitschaftspolizeiverbände knüpften nahezu bruchlos an die geschlossenen Schutzpolizeiformationen der 20er und 30er Jahre an. Dass die Polizei der frühen Bundesrepublik vor allem hier ihre Traditionen suchte, war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Polizeiführer ihre Karrieren bei den Truppenpolizeien der Weimarer Republik begonnen hatten und mental besonders von den Einsatzerfahrungen jener Jahre geprägt waren. Diese Generation von Beamten, die Klaus Weinhauer treffend als „Patriarchen“ bezeichnet,[1] dominierte das Selbstverständnis und die Außendarstellung der Polizei bis zur Mitte der 60er Jahre.

Bürgerkriegsähnliche Ereignisse wie der Mitteldeutsche Aufstand 1921, der Berliner „Blutmai“ 1929 oder der „Altonaer Blutsonntag“ 1932 wurden in den Fachzeitschriften und Ausbildungshandbüchern ausführlich rezipiert – und zwar nicht nur, um die damaligen Strategien der Schutzpolizei im Hinblick auf künftige Einsätze zu analysieren. Ziel war es vor allem, das kollektive Selbstbewusstsein der neu gegründeten Bereitschaftspolizeien durch die Konstruktion positiver historischer Referenzpunkte zu untermauern. In zahlreichen Aufsätzen wurden die Kämpfe der Weimarer Republik noch einmal geschlagen. Die für die beschriebenen Polizeieinsätze charakteristische, bisweilen militärische Ge­waltanwendung geriet dabei ebenso wenig zum Gegenstand kritischer Reflexionen wie die Frage, ob die Glorifizierung bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen mit dem Selbstverständnis einer modernen demokratischen Polizei zu vereinbaren sei. Überschriften wie: „Hart geprüft, aber bestanden. Polizeitruppe rettete die Heimat vor dem Terror“[2] verdeutlichten die durchweg apologetische Tendenz dieser Texte.

Weit weniger ausführlich befasste sich die polizeiliche Historiografie mit der Rolle der eigenen Institution und ihrer Beamten während der Zeit des Nationalsozialismus. Auch wenn sie wie Adolf von Bomhard, Heinrich Lankenau oder Paul Riege nach 1945 nicht mehr eingestellt wurden, avancierten hohe Polizeiführer des „Dritten Reiches“ zu einflussreichen geschichtspolitischen Akteuren in eigener Sache, die es geschickt verstanden, den gerne geglaubten Mythos von der „sauberen Ordnungspolizei“ zu verbreiten. Einige ihrer Publikationen galten noch vor wenigen Jahren als „Standardwerke“.[3] Das Echo dieser Version der Geschichte hallte auch durch die Fachzeitschriften: Die Staatsmacht sei zwar vom Regime für dessen Zwecke „missbraucht“ worden, insgesamt hätten sich aber die „Machthaber im NS-Staat … zur Durchsetzung ihrer Ziele … ganz anderer Mittel als der regulären Polizei“[4] bedient. Nicht selten wurden auch die „vorbildlichen“ Leistungen der während des Zweiten Weltkriegs im Bereich der Partisanenbekämpfung eingesetzten Polizeibeamten hervorgehoben. Von den beispiellosen Massenverbrechen der Polizeibataillone, die gewissermaßen als „Fußvolk der Endlösung“ (Klaus-Michael Mallmann) eine blutige Spur quer durch Europa gezogen hatten, war freilich zu diesem Zeitpunkt an keiner Stelle die Rede.

Einsatzkonzepte zwischen Beat und Bürgerkrieg

Die historischen und personellen Kontinuitätslinien zur Weimarer Republik prägten bis weit in die 60er Jahre die polizeilichen Einsatzkonzepte, die sich in erster Linie auf die Bewältigung bürgerkriegsähnlicher Szenarien konzentrierten und zumal in Zeiten des Kalten Krieges auf antikommunistische Feindbilder rekurrierten. In einem 1954 erschienenen Beitrag in „Die Polizei“ hieß es beispielsweise: „Der Störer Nr. 1 in der Bundesrepublik ist derselbe wie in den Zeiten der Weimarer Republik, nur mit dem Unterschied, dass wir damals kein dreigeteiltes Deutschland und die Sowjets nicht unmittelbar hinter einem ‚Eisernen Vorhang‘ hatten.“[5] Im Zentrum der Bedrohungsanalysen vor allem der Bereitschaftspolizeien und des Bundesgrenzschutz stand die Vorstellung des durch bewaffnete Umsturzversuche hervorgerufenen Ausnahmezustands. Diese Szenarien beherrschten auch die Ausbildungsinhalte der geschlossenen Polizeiverbände. Zwar galt die Festnahme von „Störern“ als vorrangiges Ziel polizeilichen Einschreitens, das Einüben von Zugriffs- und Festnahmetechniken spielte aber bei der Bereitschaftspolizei nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen befassten sich die Ausbildungsrichtlinien mit Einsatzlagen, die augenscheinlich „militärisch“ gelöst werden sollten. Das 1930 erstmals erschienene und rund zwanzig Jahre später fast unverändert neuaufgelegte Standardwerk „Der Einsatz stärkerer Polizeikräfte“ diskutierte unterschiedliche Angriffsvarianten gegen bewaffnete „Störer“: „Lässt der Widerstand nicht nach, so muss das Widerstandsnest umgangen oder durch den Einsatz von Schnellfeuerwaffen und genügend Munition ausgeschaltet werden.“[6] Bei den mehrtägigen Einsatzübungen der Bereitschaftspolizei, die sich kaum von militärischen Manövern unterschieden, ging es denn auch in der Regel darum, marodierende, die Bevölkerung terrorisierende „kommunistisch“ gesteuerte „Banden“ unschädlich zu machen und die öffentliche Sicherheit wieder herzustellen.

In der Praxis polizeilicher Demonstrationseinsätze während der 50er und 60er Jahre zeigte sich deutlich, dass die Verabsolutierung starrer Ordnungsvorstellungen wie auch die Rezeption überkommener massenpsychologischer Theorien des 19. Jahrhunderts zu unflexiblen Handlungsstrategien führten, die Gewalteskalationen oder auch nur „Unordnung“ oftmals erst hervorriefen. Der langjährige Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber konstatierte im Rückblick, die „Polizeitaktik gegenüber demonstrierenden Mengen“ sei bis zum Beginn der 60er Jahre jene der Bayerischen Landespolizei vor 1933 gewesen: „Aufsitzen, Ausrücken, Absitzen, Räumen, Aufsitzen, Einrücken, Essenfassen.“[7]

Die Bezugnahme auf die Polizeikonzepte der Weimarer Republik sowie die damit einhergehende mythische Überhöhung des Staates geriet erst Ende der 60er Jahre ins Wanken. Vorausgegangen waren spektakuläre Jugendproteste, etwa die Welle der „Halbstarkenkrawalle“ 1957/58, die „Schwabinger Krawalle“ im Juni 1962 oder die „Beatkrawalle“ anlässlich der Konzerttourneen der „Beatles“ und der „Rolling Stones“ 1965/66, bei denen es oftmals zu brachialen Polizeieinsätzen kam. Diese Erfahrungen ließen zum einen auch innerhalb der Polizei die Erkenntnis wachsen, dass die auf bürgerkriegsähnliche Szenarien fokussierten Ausrüstungs- und Ausbildungsstandards den politischen und kulturellen Wirklichkeiten der Bundesrepublik kaum entsprachen – eine Wahrnehmung, die durch das Abflauen der Blockkonfrontation während der 60er Jahre weiter verstärkt wurde. Zum anderen entstanden seit Ende der 50er Jahre erste Ansätze einer kritischen Zivilgesellschaft, die von der Polizei die Einhaltung bürgerrechtlicher Mindeststandards verlangte. Im Kontext des Ulmer „Einsatzgruppenprozesses“ (1958), des Eichmann-Prozesses in Jerusalem (1961) und des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963-1965) rückte zudem die unbewältigte NS-Vergan­genheit verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Die personellen Kontinuitätslinien in den Polizeibehörden und Verfassungsschutzämtern wurden nun zunehmend als skandalös wahrgenommen.

Befangene Polizeireformen

Das Selbstverständnis wie auch die Strukturen und Einsatzstrategien der Polizei in der Bundesrepublik erfuhren in Folge dieser Entwicklungen wie auch durch die Erfahrungen mit den Protesten der 68er-Bewegung einschneidende Umbrüche. Als Protagonisten der Polizeireformen firmierte eine neue, in den 20er Jahren geborene Generation von Beamten, die ihre Karrieren meist erst nach 1945 begonnen hatten und sich in ihrem Selbstverständnis von den „Patriarchen“ erkennbar abhoben. Paradoxerweise leiteten gerade die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze eine strukturelle Entmilitarisierung der Polizei ein. Die Gesetze, die seither in Krisenfällen den Einsatz der Bundeswehr im Innern ermöglichen, führten zu einem Funktionswandel der Bereitschaftspolizeien und des Bundesgrenzschutzes (BGS), die ihre Bedeutung als potentielle „Bürgerkriegsar­meen“ verloren. Die militärischen Waffen verschwanden allmählich aus ihren Arsenalen. Die Ausbildungsinhalte und Übungsszenarien vor allem der geschlossenen Einheiten sollten anderen Schwerpunkten folgen.

Die Polizei galt nunmehr als integraler Bestandteil des expandierenden Sozialstaates. Polizeiliche Tätigkeitsfelder sollten dieser Vorstellung zufolge künftig stärker in präventive Bereiche verlagert werden. Die Erwartungen richteten sich auf einen professionalisierten und verwissenschaftlichten Polizeiapparat, der im Verbund mit anderen Institutionen des Sozialstaates in der Lage sein sollte, gesellschaftliche Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren. In einigen Beiträgen der umfangreichen Reformdebatten, die besonders in den Jahren zwischen 1969 und 1972 die Diskurse in den polizeilichen Fachzeitschriften prägten, wurden daher Entwürfe skizziert, die den Polizeibeamten der Zukunft als eine Art „Sozialarbeiter“ zu definieren versuchten. In jenen Jahren begann sich die Polizei in bis dahin nie da gewesenem Umfang für außerpolizeiliche Einrichtungen zu öffnen; diese Entwicklung verlief durchaus nicht spannungsfrei, aber gemessen an den von Kulturpessimismus und elitärem Denken geprägten polizeilichen Selbstbildern der 50er und frühen 60er Jahre war ein Veränderungsprozess hin zu einer Demokratisierung der Polizeistrukturen erkennbar. Am bedeutendsten erwies sich in diesem Kontext die Öffnung gegenüber den Sozialwissenschaften und der Psychologie. In der Polizei wuchs die Bereitschaft, verschiedene Facetten der Institution auch von als polizeikritisch geltenden Sozialwissenschaftlern untersuchen zu lassen.[8]

Die umfangreichen Polizeireformen waren jedoch fast ausschließlich nach „vorne“ gewandt und erwiesen sich eigentümlich „geschichtsblind“. So blieb auch während der 70er Jahre die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit innerhalb der Polizei im Wesentlichen das Betätigungsfeld interessierter Einzelpersonen, die unter ihren Kollegen im besten Fall als ein wenig kauzig galten, sich bisweilen jedoch dem Ver­dacht der „Nestbeschmutzung“ ausgesetzt sahen. Die Feststellung, dass trotz der erkennbaren Liberalisierungstendenzen die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus kaum thematisiert wurde, hatte vor allem zwei Ursachen. Erstens währte die Reformeuphorie innerhalb der Polizei nicht lange. Die Anschläge der RAF und die blutig verlaufende Geiselnahme israelischer Sportler während der Olympischen Spiele in München im September 1972 führten zu einem deutlichen Abflauen der polizeilichen Öffnungs- und Demokratisierungsdiskurse – eine Entwick­lung, die sich im Kontext der zahlreichen Protestereignisse der folgenden Jahre weiter verstärken sollte. Von nun an folgten der Aus- und Umbau der Sicherheitsarchitektur in der Bundesrepublik fast ausschließlich den vermeintlichen Notwendigkeiten einer effektiven Terrorismusbekämpfung, die offenkundig keinen Raum ließen für kritische historische Fragestellungen. Im Gegenteil: Zumindest bis Mitte der 70er Jahre erlebte die Erörterung von „Bandenkampf“-Szenarien in polizeilichen Diskursen eine erkennbare Renaissance.[9] Zweitens ist auf die persönliche Befangenheit zahlreicher Protagonisten der Polizeireformen zu verweisen, die trotz der von ihnen ausgehenden Demokratisierungsansätze weiterhin enge Beziehungen zur Generation der „Patriarchen“ unterhielten, die womöglich an den Massenverbrechen der Polizei im NS-Staat beteiligt gewesen waren, zumindest aber davon gewusst haben konnten. Diese Nähe resultierte zweifellos aus der oftmals hermetischen, von Primärgruppenbindungen geprägten männlichen „Dienstgemeinschaft“, die für die Organisationskultur der Behörde bis in die 60er Jahre kennzeichnend war und in der die für den Polizeiberuf als notwendig betrachteten Kenntnisse und Erfahrungen von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben wurden.

Die im Hinblick auf die kritische Thematisierung der NS-Vergan­genheit problematische persönliche Nähe zwischen älteren „Patriarchen“ und jüngeren „Modernisierern“ hob etwa Siegfried Zaika in einem Zeitzeugengespräch im Jahr 2002 hervor. Zaika, Polizeibeamter seit 1947, später Dozent an der Polizeiführungsakademie in Münster-Hiltrup, und während der 70er Jahre ein Verfechter der Polizeireformen in Nordrhein-Westfalen, hatte neben seinem Beruf Geschichte studiert und 1979 über „die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik“ promoviert.[10] Wie er rückblickend einräumte, wäre es ihm aufgrund seiner historischen Forschungen möglich gewesen, auch über die Einsätze der Ordnungspolizei in Osteuropa und der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges zu schreiben. Dies hätte ihn aber in die von ihm als misslich empfundene Situation bringen können, diskreditierende Erkenntnisse über ältere Kol­legen veröffentlichen zu müssen.[11]

Die Beobachtung, dass intergenerationelle Bindungen eine kritische Beschäftigung mit der NS-Geschichte über Jahrzehnte hinweg blockierten, zumindest aber erschwerten, gilt freilich nicht ausschließlich für die Polizei, sondern auch für zahlreiche andere Berufsgruppen, wie beispielsweise die heftigen Kontroversen über die Rolle der Historiker im „Dritten Reich“ belegt haben. Demnach führte erst ein weiterer generationeller Umbruch zu einer offeneren und kritischen Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus.

„Bewältigte“ Vergangenheit – bürgerfreundliche Polizei?

Diese Zäsur ist etwa auf den Zeitraum zwischen 1988 und 1992 zu datieren, also jene Phase, in der die Alterskohorte der während der 20er Jahre Geborenen aus dem Dienst ausschied und denen nun Beamte folgten, die zum einen kaum noch über Verbindungen zu den „Patriarchen“ verfügten, zum anderen oftmals die in den 1970er Jahren geschaffenen neuen Aus- und Fortbildungseinrichtungen der Polizei durchlaufen hatten. Seit den 80er Jahren rückten zudem neuere historische und sozialwissenschaftliche Forschungen zum Nationalsozialismus das „Hinnehmen und Mitmachen der Vielen“ (Alf Lüdtke) ins Zentrum der Betrachtung. In diesem Kontext erhielt auch der Mythos von der „sauberen Ordnungspolizei“ erste Risse. Einen Ausgangspunkt hierfür bildete Christopher Brow­nings Studie über die „ganz normalen Männer“ des Hamburger Reservepolizeibataillons 101.[12] Wichtige Impulse gingen auch von Daniel Goldhagens Werk „Hitlers willige Vollstrecker“[13] sowie den beiden so genannten Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung aus. In deren Folge entstanden, an manchen Orten in enger Kooperation mit der Polizei, einige bemerkenswerte Ausstellungs- und Forschungsprojekte zur Geschichte einzelner Polizeibataillone und lokaler Polizeibehörden in der Zeit des „Dritten Reichs“. Zu nennen sind hier beispielsweise die im Jahr 2000 eröffnete Wanderausstellung „Wessen Freund und wessen Helfer“, die sich der Kölner Polizei im Nationalsozialismus widmete, oder die Dauerausstellung „Transparenz und Schatten. Düsseldorfer Polizisten zwischen Demokratie und Diktatur“, die seit 2007 im Polizeipräsidium Düsseldorf zu sehen ist.[14] Insgesamt ist festzustellen, dass innerhalb der offiziellen Polizeikultur in der Bundesrepublik spätestens seit der Jahrtausendwende die verbrecherische Rolle der Ordnungs­polizei im NS-Staat kaum mehr umstritten ist.

Der neue polizeiliche Umgang mit der Geschichte bleibt indessen am­bivalent. Zwar sind die Aktivitäten einzelner Polizeibeamten, die sich en­gagiert um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ihrer Behörde bemühen ebenso zu begrüßen wie die daraus resultierende Abkehr von Jahrzehnte lang tradierten Mythen. Dennoch ist erstens die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte innerhalb der Polizei weiterhin ein Min­derheitenphänomen. Nach wie vor hängen diese Initiativen von Einzelpersonen ab, die meist auf höheren polizeilichen Führungs- und Verwaltungsebenen tätig sind, während die „Basis“ mit den Projekten in der Regel kaum in Berührung kommt. Vergleicht man die von den verschiedenen Polizeibehörden initiierten oder unterstützten Ausstellungs- und Publikationsprojekte, sind zudem erhebliche Unterschiede im Hinblick auf deren fachwissenschaftlichen und didaktischen Gehalt festzustellen. Das Spektrum reicht dabei von inhaltlich anspruchsvollen multimedialen Präsentationen bis hin zur schlichten Devotionaliensammlung, die sich mit der Vorführung möglichst vieler Waffen und Uniformknöpfe begnügt. Diese Beobachtung verweist auf einen zweiten Punkt. Die Vermittlung von Polizeigeschichte ist in der Aus- und Fortbildung, mit Ausnahme einiger Modellversuche etwa in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, nicht vorgesehen. Insofern scheint die polizeiliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit weniger die Herausbildung eines reflektierten kri­tischen Geschichtsbewusstseins unter den Beamten zu bezwecken. Vielmehr bildet das Bekenntnis zu den Verbrechen der Ordnungspolizei in der Zeit des Nationalsozialismus den negativen Ausgangspunkt einer identifikationsstiftenden Basiserzählung, die die Entwicklung der Polizei in der Bundesrepublik als beispiellose Erfolgsstory deklariert. Auffallend ist drittens, dass sich an die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit innerhalb der Polizei keine gegenwartsbezogenen Reform- und Demokratisierungspostulate knüpfen. Im Gegenteil: Polizeiliche Diskurse sind zur Zeit – anders als während der „Reformära“ der Bundesrepublik am Ende der 60er Jahre oder im Kontext des „Brokdorf“-Urteils des Bundesverfassungsgerichts Mitte der 80er Jahre – von einem deutlichen Pragmatismus geprägt, der die vermeintlichen Sachzwänge der Inneren Sicherheit und deren Bewältigung durch die Polizei in den Mittelpunkt rückt. Damit einher gehen Strategien des „protest policing“, die trotz aller Bekenntnisse zur Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), in erster Linie die Herstellung „flächendeckender Ordentlichkeit“ (Alf Lüdtke) im Blick zu haben scheinen. Der Verweis auf die martialischen (militärisch unterstützten) Polizeieinsätze in Heiligendamm anlässlich des G8-Gipfels im Juni 2007 soll an dieser Stelle genügen.

Eine Polizeigeschichte indes, die sich auf eine reine Historisierung der NS-Vergangenheit beschränkt, deren nachwirkenden personellen, strukturellen und mentalen Kontinuitätslinien aber ebenso ausblendet, wie aktuelle Bezüge, verliert jegliches kritische Potential und mutiert zu affirmativer Geschichtspolitik in eigener Sache.

[1] Weinhauer, K.: Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und Innerer Sicherheit. Die turbulenten sechziger Jahre, Paderborn 2003
[2] in: Die Polizei 1954, H. 7/8, S. 70 f.
[3] Lankenau, H.: Polizei im Einsatz während des Krieges 1939–1945 in Rheinland-West­fa­len, Bremen 1957; Riege, P.: Kleine Polizei-Geschichte, Lübeck 1954 (Neuauflagen 1959 und 1966)
[4] Kunke, B.: Probleme der „Inneren Führung“, in: Die Polizei 1963, H. 5, S. 145
[5] Liebau, K.: Warum sind besondere Führungsstäbe für die Bereitschaftspolizei erforderlich?, in: Die Polizei 1954, H. 21/22, S. 214
[6] Kreutzer, M.: Der Einsatz stärkerer Polizeikräfte, München 1950, S. 107
[7] Schreiber, M.: Das Jahr 1968 in München, in: Schubert, V. (Hg.): 1968. 30 Jahre danach, St. Ottilien 1999, S. 35-52 (38)
[8] s. u.a. Feest, J.; Blankenburg, E.: Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion, Düsseldorf 1972
[9] Weinhauer, K.: Zwischen „Partisanenkampf“ und „Kommissar Computer“: Polizei und Linksterrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: ders.; Requate, J.; Haupt, H.-G. (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt 2006, S. 244-270
[10] Zaika, S.: Polizeigeschichte. Die Exekutive im Lichte der historischen Konfliktforschung. Untersuchungen über die Theorie und Praxis der preußischen Schutzpolizei in der Weimarer Republik zur Verhinderung und Bekämpfung innerer Unruhen, Lübeck 1979
[11] Zeitzeugengespräch mit Siegfried Zaika am 18.2.2002, Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster
[12] Browning, C.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek b. Hamburg 1993
[13] Goldhagen, D.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996
[14] Buhlan, H.; Jung, W. (Hg.): Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus, Köln 2000; Geschichte am Jürgensplatz e.V. (Hg.): Transparenz und Schatten. Düsseldorfer Polizisten zwischen Demokratie und Diktatur. Katalog zur Dauerausstellung im Polizeipräsidium Düsseldorf, Düsseldorf 2008