Prozess im Griff der Polizei – Das Verfahren um den Tod von Oury Jalloh

Im Dezember 2008 sprach das Landgericht Dessau zwei Polizisten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung bzw. Körperverletzung mit Todesfolge frei. Nachdem nun das schriftliche Urteil vorliegt, scheint der „Fall“ Oury Jalloh erledigt. Dennoch: einen Freispruch für die Institution Polizei darf es nicht geben.

Mit Händen und Füßen an eine Matratze gefesselt, verbrannte Oury Jalloh aus Sierra Leone am 7. Januar 2005 in Zelle 5 des Gewahrsamstrakts der Dessauer Polizei. Vier Monate später erhob die Staatsanwaltschaft Dessau gegen die Polizeibeamten Sch. und M. Anklage wegen fahrlässiger Tötung bzw. Körperverletzung mit Todesfolge – jeweils begangen durch Unterlassen. Es dauerte fast zwei Jahre, bis am 27. März 2007 das Verfahren gegen die beiden Beamten vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau begann. Nach 58 Sitzungstagen verkündete der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff am 8. Dezember 2008 die Freisprüche und bezichtigte gleichzeitig die Polizei der systemischen Lüge. Am 2. März 2009 folgte das schriftliche Urteil. Die Polizei ist weißer gewaschen als zuvor.

Das Verfahren begann und endete wie (fast) alle Prozesse, in denen unmittelbar Angehörige der Polizei und mittelbar die Polizei als Institution zum Objekt der Anklage werden. Das „Objekt“ mausert sich zum Subjekt. Allenfalls werden individuelle Fehler einzelner PolizistInnen eingeräumt. Die Polizei als Institution bewahrt ihre Integrität als Instanz des staatlichen Monopols legitimer physischer Gewaltsamkeit.

Umso mehr überraschte der Vorsitzende Richter am 8. Dezember letzten Jahres durch seine mündlich geäußerten Urteilsgründe. Wie nicht anders zu erwarten war, sprach das Gericht zwar die beiden Angeklagten frei. Es tat dies jedoch ausdrücklich nicht, weil im Verfahren deren Unschuld erwiesen worden sei. Richter Steinhoff rügte vielmehr, dass der Prozess zu einer rechtsstaatlichen Farce geworden sei. Schuld daran sei das dichte Lügengespinst, das von nahezu allen polizeilichen Zeuginnen und Zeugen individuell und in der Summe kollektiv gewebt worden sei. Ein Urteil auf dem Boden verlässlicher Information sei unmöglich gewesen. Steinhoffs Schlusssatz im Gerichtssaal zu Dessau lautete deshalb sinngemäß: „Diese Kammer ist gehalten, im Namen des Volkes zuzugeben, dass sie nichts zur Wahrheit beitragen kann.“[1]

In der am 2. März 2009 veröffentlichten schriftlichen Fassung des Urteils ist die von Richter Steinhoff mündlich so klar formulierte Kritik völlig verloren gegangen. Es ist, als habe das Gericht einen kollektiven Schlaganfall erlitten und das Gedächtnis verloren und als seien alle Umstände, die am 7. Januar 2005 den Tod Oury Jallohs bewirkten, immer schon in polizeilicher Ordnung gewesen. Irritationen über das polizeiliche Verhalten sind offenbar nicht (mehr) angezeigt, und auch die polizeilichen ZeugInnen erhalten nun durchgehend das Prädikat „glaubhaft“. Der Tod des gefesselten, in Deutschland nur „geduldeten“ Asylbewerbers in Zelle 5 – ein bedauerlicher Unfall, an dem das Opfer bewusst/unbe­wusst mitgewirkt hat?

Die Justiz im Griff der Polizei

Wer das Verfahren vor dem Landgericht nur einigermaßen kritisch be­obachtet hat, dem und der musste auffallen, dass dieser Prozess sowohl nach außen als auch im Inneren von der Polizei beherrscht wurde. Von umstrittenen Strafverfahren hat man sich zwar längst an eine erhöhte Kontrolldichte und -tiefe gewöhnt. Die polizeiliche Allpräsenz in Dessau war dennoch ungewöhnlich. Das Gerichtsgebäude wirkte wie eine kleine Festung, die ringsum von Polizeifahrzeugen und -beamtInnen umstellt war. Aufzüge und Gänge bis hin zur Cafeteria im dritten Stock wurden von wachsamen polizeilichem Augen beobachtet. Dauernde Präsenz in Zivil und in Uniform zeigte die Polizei auch an der weithin gläsernen Rückfront des Gebäudes im Anschluss an den großen Vorraum des Gerichtssaals, in dem die Eingangs- und Ausgangssperren aufgebaut waren. Zeugen und Sachverständige mussten dort warten und wurden von ihren PolizeikollegInnen unterhalten, bis sie schließlich von hinten nach vorn durchgeschleust wurden. Kein Zeuge ohne diese Ambiente zuvor und danach. Da bedurfte es keines habitualisierten Esprit de corps.

Im Gerichtssaal waren nicht nur die beiden angeklagten Polizisten samt ihren Verteidigern präsent, ab und an ergänzt durch zusätzliche Zeugen und Sachverständige aus der Tiefe des polizeibesetzten Raums. Vielmehr saß durchgehend wenigstens ein höherer Polizeibeamter in Zivil auf einem reservierten Platz in der Nähe der Angeklagten. Nicht ein­mal der Versuch war erkenntlich, einen Hauch von Neutralität und mangelnder Voreingenommenheit zu erwecken. Die Aussagen der nach den Vorermittlungen nun gerichtlich erneut befragten Angehörigen der Des­sauer Polizei, die am 7. Januar 2005 mit dem „Fall“ Oury Jalloh befasst waren, beeindruckten darum nicht zufällig durch ihre zwar individuell geäußerten, zuvor aber kollektiv eingeübten Töne. Der Gerichtsraum war polizeilich „aufgehoben“, sprich: bewahrt und beseitigt in einem.

Stationen sich totalisierender polizeilicher Gewalt

Fassen wir die Ereignisse zusammen, die am 7. Januar 2005 zum Tode Oury Jallohs geführt haben: Alles begann damit, dass er vier Frauen auffiel, die in der Dessauer Turmstraße mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Er sei „stark betrunken“ gewesen und habe die Frauen „belästigt“, weshalb diese die Polizei riefen, hieß es später im schriftlichen Urteil. Die Befragung der Zeuginnen ergab jedoch keine Anzeichen für gewaltförmige Drohungen, konkrete Gefährdungen oder gar Übergriffe. Erst als die Polizei auf den Plan trat, kam Gewalt ins Spiel, polizeiliche Gewalt.

Jalloh wurde festgenommen, als habe er etwas angestellt. Er wurde mit Gewalt ins Polizeiauto gezwängt. Das Urteil, das sich auf die „widerspruchsfreien“ Aussagen der „glaubhaften“ ZeugInnen stützt, registriert, dass sich der Festgenommene gegen die polizeilichen Pressionen wehrte. Darum wurde er noch im Polizeiauto mit Handschellen, wie es so heißt, ruhig gestellt. Die Frage, ob die Festnahme notwendig und verhältnismäßig war, ob man den Mann nicht besser nach Hause, statt aufs Revier gebracht hätte, wird nicht erörtert.

Als sei die zulässige polizeiliche Gewaltausübung nicht längst überschritten gewesen, folgte nun auf der Polizeidienststelle eine Blut­entnahme, die ein herbeigerufener Polizeiarzt vornahm. Der kannte Jalloh schon und hatte ihm schon des öfteren Blut genommen. Weil sich Jalloh nicht beruhigen wollte, „entschlossen sich die Beamten ihm Fußfesseln anzulegen“. Selbiger Arzt, polizeierfahren, wirkte auch beim nächsten qualitativen Sprung polizeilicher Gewalt mit: Oury Jalloh wurde in eine Gewahrsamszelle gepfercht. Er sei trotz seines alkoholisierten und von zusätzlichen Drogen beeinträchtigten Zustands „gewahrsamstauglich“ und „bewusstseinsklar im Wachsinne“ gewesen, zitiert das Urteil die Aussage des Polizeiarztes. Die medizinischen Sachverständigen stellten genau das hinterher in Frage. Damit aber nicht genug: Der ohne die geringste Gefahr im Verzug, der Einfachheit halber, Festgenommene wurde nun – auf Empfehlung des Arztes – in der Zelle rücklings auf eine Matratze gezwungen und mit Händen und Füßen an deren vier Halterungen fixiert. „Zur eigenen Sicherheit“, so die bequeme Standardformel.

Der unbegründeten, medizinisch willfährig und inkompetent unterstützten Eskalation polizeilicher Gewalt – Festnahme, Verfrachtung ins Auto, Hand- und Fußschellen, Fixierung in Zelle 5 – folgte sodann eine lose Kette fahrlässig-schlampiger polizeilicher Umgangsformen mit dem zum Objekt degradierten, also seiner Würde und Integrität beraubten Oury Jalloh. Über diese kann nicht im Sinne allgemein-menschlicher Unzulänglichkeiten hinweg gesehen werden – zum einen, weil sie sich im konkreten Fall zu einem System der Fahrlässigkeit summieren; zum anderen, weil sich Oury Jalloh völlig in der Gewalt der Polizei befand und diese deshalb hundertprozentig für seine Sicherheit verantwortlich war.

Und genau hier versagte sie in allen Hinsichten: Oury Jallohs Verlangen, frei gelassen zu werden, wurde pauschal zurückgewiesen. Er wurde nicht durchgehend von zwei Beamten und nicht häufig genug in seiner Zelle aufgesucht. Auffälligkeiten, wie eine Flüssigkeitspfütze, wurden ignoriert. Die störende Lautstärke der Wechselsprechanlage, die die Zelle mit dem Dienstraum verbindet, wurde zwischenzeitlich heruntergedreht. Der Alarm der Rauchmeldeanlage wurde zunächst als Fehlfunktion interpretiert. Als er dann „plötzlich“ nicht mehr zu verkennen war, fehlte es hinten und vorne an selbstverständlichen polizeilichen Requisiten: an für alle BeamtInnen griffbereite Schlüssel, um die Fesseln zu öffnen, an zugänglichen Feuerlöschern dort, wo man sie braucht, etc. Es ist grotesk, dass mitten im polizeilichen Herz aller Sicherheit Mängel bestehen, die man ansonsten keiner Behörde nachsähe.

Struktureller Mord

So wie der Prozess 58 Sitzungstage lang verlaufen ist, scheinen die Freisprüche im Sinne der personell auf zwei Polizeibeamte konzentrierten Anklage verständlich. Ein allemal problematischer Indizienbeweis hätte im sumpfigen Lügengelände keinen festeren Grund finden lassen. Das Verfahren hätte freilich anders verlaufen können und müssen, wäre es wenigstens ein Jahr früher eröffnet worden. Abgesehen von der unzureichend schlüssigen Evidenz hätte aber ein Schuldspruch, der nur die beiden Polizeibeamten negativ als rätselhaft individuelle Körner des Bösen strafrechtlich herausgepickt hätte – unzureichend wie sie zweifelsohne gehandelt haben –, die Sache verfehlt, um die es in Dessau gegangen ist und weiterhin gehen muss, nämlich um die Schuld der Polizei als Institution am Tod des Oury Jalloh. Die strafrechtliche Fiktion besteht darin, ausschließlich von selbstverantwortlichen Individuen auszugehen, denen jeweils ihre Schuld zugewiesen werden kann, so als seien nur Individuen schuldfähig, Institutionen aber, ihr Recht und ihre Prozeduren, stünden nicht zur Disposition.

„Struktureller Mord“ ist kein Tatbestand des deutschen Strafrechts. Dennoch trifft dieser Terminus, wenn er nicht verflachend als pauschale Bewertung angewendet wird, die schreckliche Art, wie Oury Jalloh am 7. Januar 2005 getötet worden ist. Der Begriff ist dem der „strukturellen Gewalt“ nachgebildet, den der norwegische Friedensforscher Johan Galtung Ende der 60er Jahre prägte.[2] Galtung wollte vor allem darauf aufmerksam machen, dass politisch geschaffene Umstände dafür verantwortlich sind, wenn beispielsweise arme und verelendete Menschen in einer ansonsten eher wohlständischen Gesellschaft zu leben gezwungen seien. Ungleich geschaffene und immer erneut bestätigte Verhältnisse übten ihrerseits Gewalt gegen einzelne oder ganze Gruppen von Personen aus. So offenkundig die Resultate sind, lässt sich solches Gewalthandeln jedoch nicht direkt beobachten und nicht unmittelbar einzelnen Personen zuschreiben. Die Gewalteffekte werden vielmehr durch die Bedingungen politischer und ökonomischer Produktion geschaffen, für welche die Personen, die die entsprechenden Gesetze, Einrichtungen etc. vertreten („Funktionäre“), nicht insgesamt verantwortlich zu machen sind. Der Begriff der „strukturellen Gewalt“ bzw. in unserem Falle des „strukturellen Mordes“ darf jedoch nicht inflationär gehandhabt werden, weil sonst die Gefahr entstünde, dass in der Tat verantwortliche Personen sich aus ihrer Schuld davon stehlen.

Auch die Anklage des „strukturellen Mordes“ erfordert konkrete Nachweise, nämlich der strukturellen, also in Institutionen, Gesetzen, Funktionen, Verhaltensweisen, in positiven und negativen Sanktionen geronnenen Vorurteilen, Verhaltensweisen und Effekten. Eine solche Beweisführung ist ungleich aufwändiger als die üblichen individualisierten, kontextvergessenen Urteile und ihre Begründungen.

Der Dessauer Polizei als Institution und Kollektiv „den Prozess zu machen“, hieße belegen, wie ihr Lob der Routine, die Mängel ihrer Ausstattung und Verfahren, dort wo es darauf ankam (und ankommt), ihre Organisation und Verfahrensweisen und nicht zuletzt ihr unverantwortlicher Umgang mit der Ressource Gewalt, mit Hand- und Fußfesseln, mit Fixierung und Isolierung in Zellen zum Tode von Oury Jalloh geführt haben. Zusätzlich erlaubt und erfordert der Begriff „struktureller Mord“, wichtige Kontextbedingungen zu berücksichtigen, die das Geschehen am 7. Januar 2005 erst verstehen lassen, allem voran die allgemeine bundesdeutsche Ausländerfeindlichkeit, die sich in Sachsen-Anhalt und in Dessau diskriminatorisch verdichtet(e).

Freispruch für die Polizei?

Hätte sich das Dessauer Gericht, seine selbstredend nur formell gegebene Unabhängigkeit vorausgesetzt, daran gemacht, die polizeiliche Konstruktion des mutmaßlich nicht angestrebten, aber eben auch nicht unter allen Umständen vermiedenen Mords an Oury Jalloh nachzuvollziehen, der Prozess hätte einen anderen Verlauf genommen.

An seinem Ergebnis, den Freisprüchen für die beiden Polizisten, hätte dies vermutlich nichts geändert. Das Dilemma von nicht nachweisbarer individueller Verantwortung und strafrechtlich irrelevanter Schuld der Institution Polizei hätte die Strafkammer wenigstens teilweise umgehen können, wenn sie die Traute gehabt hätte, zu ihrer mündlich vorgetragenen Urteilsbegründung zu stehen.

[1] vgl. bspw. Hans Holzhaiders Artikel in der Süddeutschen Zeitung v. 9.12.2008
[2] Galtung, J.: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Hamburg 1975