Literatur

Zum Schwerpunkt

Die Zahl der Veröffentlichungen zu den bundesdeutschen Geheim- bzw. Nachrichtendiensten ist auch in den letzten Jahren überschaubar geblieben. Beschränkte man sich auf wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema, dann gäbe es eine nur magere Ausbeute. Und suchte man nach seriösen Abhandlungen zum staatlichen „Verfassungsschutz“ der Republik, man könnte den Ertrag leicht in einer Aktentasche verstauen.

Der Natur der Sache nach, so scheint es, ist die „Geheimdienstliteratur“ vom Kainsmal der Geheimnistuerei, der Mischung aus Halb- und Unwahrheiten, der Melange aus Information und Vermutung, der Information durch „undichte Stellen“, der spekulativen Behauptung etc. gekennzeichnet. Das publizistische Geheimdienstgenre wird von vier Arten von Veröffentlichungen dominiert: Erstens die Selbstdarstellung der Exekutiven (entweder durch diese selbst oder aus der Feder von Journalisten und Wissenschaftlern); zweitens journalistische Arbeiten, die die Arbeit der Dienste offenlegen wollen und sich dabei auf dem schmalen Grat zwischen Informantenschutz und Indienstnahme für die Interessen der Dienste be­wegen; drittens juristische Arbeiten und viertens Veröffentlichungen ehemaliger Geheimdienstleute. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Arbeit und der Wirkungsweise der deutschen Dienste ist demgegenüber nahezu inexistent. Das ist nicht allein Folge der in Deutschland extensiv gepflegten Geheimhaltungspolitik, sondern hat auch mit dem (sozial)wis­senschaftlichen und historischen Desinteresse an der Entwicklung staatlicher Repressionsinstrumente zu tun. Im Unterschied zur DDR, in deren Geschichtsschreibung die Stasi alles in den Schatten zu stellen scheint, tauchen die westdeutschen Nachrichtendienste allenfalls in ihren Skandalen auf.

Auf die ältere Literatur zum Verfassungsschutz haben wir in CILIP 28 (3/1987), S. 105 ff. hingewiesen. Bei den jüngeren Geheimdienstmonographien ist auffällig, dass sie sich überwiegend dem BND widmen (Schmidt-Eenboom, Heinz und Knigge, Ulfkotte, Gujer, Juretzko). Vergleichbare „Gesamtdarstellungen“ zu den 17 Verfassungsschutzämtern feh­len – sieht man von der juristischen Kommentierung Drostes ab. Da diese Veröffentlichungen in früheren CILIP-Ausgaben besprochen worden sind, werden im Folgenden nur wenige neuere Bücher vorgestellt.

Buschfort, Wolfgang: Geheime Hüter der Verfassung. Von der Düs­seldorfer Informationsstelle zum ersten Verfassungsschutz der Bundes­republik (1947-1961), Paderborn (Schöningh) 2004, 327 S., EUR 19,90

Diese Fallstudie über die Gründung des nordrhein-westfälischen Landesamtes für Verfassungsschutz und seine Tätigkeit in den 50er Jahren ist die einzige wissenschaftliche Untersuchung der Vor- und Frühgeschichte des westdeutschen staatlichen „Verfassungsschutzes“. Fußend u.a. auf der Auswertung umfangreicher interner Aktenbestände und Interviews mit Akteuren jener Zeit, verknüpft Buschfort die Entwicklung des Apparates mit der bundesrepublikanischen und der NRW-Geschich­te sowie mit innenpolitischen Konflikten und der Entwicklung der politischen Parteien und ihnen nahestehender Organisationen. In der Vorgeschichte des Amtes weist der Autor Übereinstimmungen und Konflikte zwischen der britischen Besatzungsmacht und den führenden Politikern des Landes nach. Beide Seiten waren sich einig, dass der Staat sich vor seinen Gegnern schützen müsse, aber die deutschen Akteure, geprägt von ihren Erfahrungen als preußische Beamte oder Politiker in der Weimarer Republik, wollten einen mit exekutiven Befugnissen ausgestatteten Dienst. Wenn die Alliierten sich in dieser Frage auch durchsetzten, so konnten sie nicht verhindern, dass das nordrhein-west­fäli­sche Innenministerium hinter ihrem Rücken mit dem Aufbau einer „Informationsstelle“ begann, die auch außerhalb des Landes tätig wurde (S. 53 ff.).

Textlicher Schwerpunkt der Arbeit ist die Entwicklung des politischen Extremismus als Beobachtungsobjekt des Amtes (S. 128-286). Entsprechend der unübersichtlichen Lage im linken wie im rechten Lager, der Vielzahl von handelnden Personen und der Verflechtungen mit dem politischen Strafrecht und polizeilichem Staatsschutz ist die Darstellung mitunter nur schwer nachvollziehbar. Gemessen an den vorgestellten Kontexten gerät die Arbeit des NRW-Dienstes zeitweise in den Hintergrund. Aber immer wieder werden Episoden präsentiert, die einen aufschlussreichen Blick auf das verfassungsschützerische Tätigkeitsprofil erlauben. Als zentrales Element der Arbeit wird der Einsatz von V-Personen deutlich, die in allen „Beobachtungsobjekten“ – von der SRP bis zur KPD und ihren „Tarn­organisationen“ – platziert wurden. Bereits früh werden aber Probleme der Infiltration sichtbar: Man müsse sich hüten, nicht den Eindruck zu erwecken, eine Organisation werde vom Verfassungsschutz unterhalten. Deshalb dürfe vielleicht noch der Landesgeschäftsführer, aber nicht der Landesvorsitzende als Quelle geführt werden (S. 240). In diese Linie passte etwa, dass der Dienst die Büromiete eines V-Mannes zu zwei Dritteln bezahlte. Als Gegenleistung erlaubte der Mieter, dass die Büros, in denen regelmäßig illegale KPD-Versammlungen stattfanden, abgehört wurden (S. 280 f.).

Die Untersuchung ist eine Fundgrube zur frühen Staatsschutzpraxis der Bundesrepublik. Sie zeigt, dass sehr schnell die politische Linke (Kom­munisten, vermeintliche Kommunisten und vermeintliche Kommunisten-Freunde) das eigentliche Beobachtungsobjekt wurde; während die rechte Unterwanderung der FDP durch Eingreifen der Briten gestoppt werden musste. Leider bleibt die Aufbereitung des recherchierten Materials hinter dessen Potential zurück. Zum einen versäumt es der Autor, seine Teilbefunde zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Das Fazit: „Insgesamt konnten sich die Tätigkeitsergebnisse des Verfassungsschutzes während der ersten Jahre der Demokratie gerade in Nordrhein-Westfalen sehen las­sen“ (S. 306), ist eine Bewertung, deren Kriterien schleierhaft bleiben. Zum anderen fehlt dem Autor sowohl der Abstand zur westdeutschen Restaurationsgeschichte wie zur Mission der Ämter. Ansonsten hätten nicht nur die illegalen und halblegalen Praktiken des Amtes eine andere Würdigung erfahren müssen, sondern auch ihr Beitrag zur politischen Verfolgung und zur Vergiftung des politischen Klimas in der frühen Bundesrepublik.

Smidt, Wolbert K.; Poppe, Ulrike (Hg.): Fehlbare Staatsgewalt. Sicherheit im Widerstreit mit Ethik und Bürgerfreiheit, Berlin (LIT Verlag) 2009, 350 S., EUR 29,90

Der Band dokumentiert im Wesentlichen zwei Tagungen, die in der Evangelischen Akademie zu Berlin in den Jahren 2005 und 2007 stattfanden. Gemeinsam mit der Akademie hatte der „Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V.“ Vertreter der Sicherheitsadministration und – wenige – Vertreter bürgerrechtlicher Perspektiven eingeladen. Der „Gesprächskreis“ ist ein Zusammenschluss ehemaliger Mitarbeiter der deutschen Dienste sowie von anderen Personen, denen die Dienste am Herzen liegen. Gemäß der Zusammensetzung der AutorInnen werden in dem Band durchaus konträre Positionen vertreten. Quantitativ dominieren aber Vertreter und (ehemalige) Mitarbeiter der Apparate. Zu den lesenswerten kritischen Positionen gehört der Beitrag von Wolfgang S. Heinz über die Anti-Terrormaßnahmen in den USA, Großbritannien und Deutschland (S. 39-72). Demgegenüber wird in vielen anderen Aufsätzen das Hohelied der Nachrichtendienste angestimmt: Das Gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum wird legitimiert (von S. Eifler, Bundeskanzleramt und vorher für das Bundesamt für Verfassungsschutz im GTAZ). Der Anti-Terror-Gesetzgebung ab 2001 wird attestiert, dass sie rechtsstaatlich einwandfrei sei (von H.J. Vorbeck, Leiter der Gruppe Nachrichtendienste im Bundeskanzleramt). Ein „Grundvertrauen“ der Bevölkerung in die Dienste wird verlangt (von T. Puschnerat, Pressesprecherin des Bundesamtes für Verfassungsschutz, BfV). In anderen Beiträgen fällt die Differenz zwischen Anspruch und Realisierung auf: P. Frisch, ehemaliger Präsident des BfV, handelt auf zwei Seiten und drei Zeilen die „Multilaterale Kooperation der Inlandsnachrichtendienste in Europa“ ab. H.-G. Wieck, ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendienstes, genügen etwas mehr als vier Seiten für seine Gedanken zu „Staatsräson und Menschenwürde – Wie kann die Bewahrung ethischer Maßstäbe in der Terrorismusbekämpfung gelingen?“ Über die tatsächliche Arbeit der Dienste verrät der Band insgesamt wenig. Im Beitrag W. Kriegers (Historiker an der Uni Marburg) über „Verstöße von Polizei und Geheimdiensten gegen ethische Normen“ finden sich nur am Ende wenige Bemerkungen zur Bundesrepublik. Auch die Ausführungen von V. Foertsch und W. Smidt (beide ehemalige Direktoren des Bundesnachrichtendienstes) lassen nur wenige Einblicke in die nachrichtendienstliche Praxis zu.

Jäger, Thomas; Daun, Anna (Hg.): Geheimdienste in Europa. Transformation, Kooperation und Kontrolle, Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2009, 347 S., EUR 29,90

Auch dieser Band dokumentiert eine Tagung des „Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland“. Sie fand in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung im Frühjahr 2008 statt. In ihrem Vorwort betonen der Herausgeber und die Herausgeberin, PolitikwissenschaftlerIn aus Köln, mit diesem Buch „einen Beitrag für eine weitere und vertiefende Diskussion über Aufbau, Rolle und Funktion von Diensten in der Europäischen Union“ leisten zu wollen. Angesichts dieses Anspruchs ist es erwähnenswert, dass der Band auf Angaben zu den Autoren verzichtet. Beim Thema „Geheimdienste“ mag man kaum an ein verlegerisches Versehen glauben. Zwei ehemalige BND-Präsidenten, ein ehemaliger Europol-Direktor, ein stellvertretender Leiter eines Landesamtes für Verfassungsschutz, ein politischer Koordinator aus dem Kanzleramt – durchaus Experten, die aber schon ahnen lassen, in welche Richtung die in der Einleitung versprochenen „tief schürfenden Analysen“ gehen.

Inhaltlich ist der Band in drei Abschnitte gegliedert: „Geheimdienste in Europa“, „Neue Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen multilateraler Intelligence-Kooperation“ und „Transformation und Kontrolle von nachrichtendienstlichen Organisationen in Europa“. Im Rahmen einer kurzen Besprechung ist es kaum möglich, die einzelnen Beiträge angemessen zu würdigen. Auffallend ist insgesamt, dass bürgerrechtliche Fragen kaum eine Rolle spielen. In der Regel geht es entweder um eine Darstellung der Apparate und ihrer jüngeren Entwicklung (die Dienste sechs europäischer Länder im ersten, Rechtsgrundlagen europäischer Kooperation im zweiten und Kontrollverfahren im dritten Teil) oder es werden Schritte zur internationalen Vernetzung entworfen. Dabei stehen Positionen, die eine „Intelligence“-Zentralstelle fordern (so J. Storbeck, vormals Europol), neben Vertretern einer Netzwerk-Lösung, die sich auf ein europäisches NADIS stützen soll (M. Scheren). Im allgemeinen Konsens über die Notwendigkeit internationalisierter Geheimdienststrukturen tauchen unterschiedliche Positionen auch an anderen Stellen auf. Bei M. Murck, Verfassungsschutz Hamburg, bestimmen die Vorbehalte gegen eine weitere Zentralisierung der Geheimdienstarbeit die gesamte Darstellung.

Skepsis gegenüber der Entwicklung der Dienste wird in diesem Band nur vereinzelt deutlich. J.P. Singer weist am Ende seiner Ausführungen darauf hin, dass die Vermischung von Aufgaben und Zuständigkeiten von Polizei und Diensten kaum dem Schutz vor Terror nütze, sie aber „der rechtsstaatlichen Organisation der Bundesrepublik“ „schadet“ (S. 289). In diesem Sinne müsste auch die von W. Krieger diagnostizierte „Normalisierung“ der Dienste (S. 331) stärker problematisiert werden. Er selbst versieht die Hoffnung, verstärkte Kontrollen der Dienste könnten das Problem lösen, mit einem großen Fragezeichen.

Insgesamt handelt es sich um einen informativen Sammelband, der jedoch einen großen Bogen um die bürgerrechtlichen und demokratischen Probleme von Geheimdienstarbeit und deren Internationalisierung macht. Bezeichnenderweise fehlt dem Band eine die einzelnen Beiträge resümierende Analyse. So bleiben Bestandsaufnahmen nationaler und europäischer Art, Reformvorschläge und strategisches Wunschdenken unvermittelt nebeneinander stehen – verbunden durch die Überzeugung, dass die Staaten europäisierte Dienste brauchen, ohne dass deren Wirkungen und Nebenwirkungen nur halbwegs angemessen zur Sprache kommen würden.

(alle: Norbert Pütter)

Aus dem Netz

www.verfassungsschutz.de

http://www.bnd.de

http://www.mad.bundeswehr.de

Natürlich sind unsere Dienste auch im Netz präsent. Ihre Selbstdarstellung gerät jedoch sehr unterschiedlich. Die Seite des Bundesamtes für Verfassungsschutz verfährt offenkundig nach dem Prinzip, die Interessenten durch möglichst viele Informationsangebote auf einen Blick in den Bann zu schlagen. Hat das Auge sich beruhigt und sich für eine der angebotenen Kategorien entschieden, folgt die Ernüchterung umgehend. Unter „Wir über uns“ und „Was wir tun“ sind einzelne Aspekte aufgeführt. Spannendes erhofft man unter der Überschrift „Die Organisation des Amtes ist kein Geheimnis“ – aber einen Mausklick später lauert die Enttäuschung: Einem nichtssagenden kurzen Text, der mit dem Satz „Der Personalbestand wurde flexibel den Bedürfnissen angepasst“ endet, folgt eine schlichte Auflistung der Abteilungen! Nach der Organisation geht’s zur Kontrolle. Der Überschrift „Keine Sorge – wir werden streng kontrolliert“ folgt sogleich das Bekenntnis: „Kontrolliert wie kaum eine andere Behörde“, das durch eine eindrucksvolle Grafik unterstrichen werden soll. Während die Seite die Arbeit des Amtes nur vernebelt, gelten die meisten Informationsangebote dem Aufklärungsauftrag des Amtes: Primärquellen zur behördlichen Konstruktion von „Verfassungsfeinden“.

Ebenfalls auf der Ebene schlichtester Informationen bleibt die Homepage des BND. Jeder Wikipedia-Leser weiß mehr über das Amt als dessen eigene Seite verrät. Das gilt auch für die im Volltext und zweisprachig gebotene Jubelbroschüre zur 50-Jahr-Feier. Für manchen mag der Stellenmarkt am interessantesten sein – immerhin offeriert der Dienst gegenwärtig 25 offene Stellen.

Im Unterschied zum BND listet der Militärische Abschirmdienst immerhin seine zwölf Standorte in der Republik auf. Ansonsten bleibt er dem Informationsniveau seiner großen Partner verpflichtet. Einzig Heraldikern wird mit dem „internen Verbandsabzeichen“ ein besonderer Leckerbissen geboten.

Angesichts des Informationsgehalts dieser drei Seiten hätte das Internet nicht erfunden werden müssen.

(Norbert Pütter)

Sonstige Neuerscheinungen

Dobler, Jens: Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933, Frankfurt/M. (Verlag für Polizeiwissenschaft) 2008, 618 S., EUR 26,90

Das Thema polizeiliche Homosexuellenverfolgung wird meist nur mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Die Jahre vor 1933 wie auch die nach 1945 geraten nur selten in den politischen und forscherischen Blick. Für den langen Zeitraum zwischen 1848 und 1933 rekonstruierte der Historiker Jens Dobler verdienstvoll die Verfolgung von Homosexuellen durch die Berliner Polizei. Die letzte Phase der Polizeientwicklung ab 1848 unterteilt er in drei zeitliche Abschnitte (bis 1900, 1918, 1933) und rollt diese entlang der Tätigkeiten und Neuerungen durch die Berliner Kriminalisten – Wilhelm Stieber, Leopold von Meerscheidt-Hüllessem, Hans von Tresckow, Heinrich Kopp und Bernhard Strewe – auf. Untersucht wird, wie das „Delikt“ Homosexualität (im Sinne sog. beischlafähnlicher Handlungen) innerhalb der sich entwickelnden Kriminalpolizei organisatorisch situiert und verfolgt wurde. Auf diese Weise wird programmatisch „Polizeigeschichte und Homosexuellengeschichte“ verknüpft.

In seiner von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Dissertation, räumt Jens Dobler mit der Vorstellung auf, die Jahre der Weimarer Republik, die mit blühender lesbisch-schwuler Subkultur verbunden werden und gemeinhin als liberal gelten, seien auch aus der Perspektive polizeilicher Homosexuellenverfolgung vergleichsweise ruhige Jahre ge­we­sen; statt dessen weist er zunehmende Repression nach. Die sich in den Jahrzehnten ebenfalls zeigende, aber stets fragile „Duldungs­politik“, stützte sich auf keine Rechtsgrundlage und bot entsprechend keinerlei Sicherheit für Homosexuelle. 1933 wurde das Changieren zwischen Duldung und Verfolgung endgültig kriminalistisch in eine „aktive Ver­brechensbekämpfung“ des „Delikts“ (nicht jedoch der sozia­len Grup­pe) überführt.

Neben repressiven Elementen im Umgang mit Schwulen und Lesben – wie Razzien, Überwachung, Zensur und Fahndung – zeigen sich in der quellengesättigten Analyse aber auch Formen von Zusammenarbeit einzelner Protagonisten der Homosexuellenbewegung mit der Polizei Anfang des 20. Jahrhunderts, wie etwa Polizeifortbildungen im Institut für Sexualwissenschaft oder Vorträge von Tresckow in Homosexuellenorganisationen. Ob die Kooperationspraxen innerhalb der Homosexuellenbewegung umstritten waren, fragt Jens Dobler indessen nicht.

Vor dem Hintergrund der polizeilichen Duldungspolitik vs. Verfolgung stellt sich die Frage nach dem größeren gesellschaftlichen Kontext wie der Ächtung weiblicher und männlicher Homosexueller. Hier bietet das historische Buch vielfältige politik- und sozialwissenschaftliche Anknüpfungspunkte, die der gründlichen Studie nur zu wünschen sind.

(Christiane Leidinger)

Klimke, Daniela: Wach- und Schließgesellschaft Deutschland. Sicherheitsmentalitäten in der Spätmoderne. Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften) 2008, 262 S., EUR 34,90

In einer groß angelegten Befragung – die Akzeptanz und das Ausmaß privater Schutzmaßnahmen wurden quantitativ bei 3.011 Bundesbürgern abgefragt, qualitative Erhebungen gab es sodann in leitfadengestützten Interviews mit 55 Bewohnern Hamburgs – und in klein ausgelegter Schriftgröße – Zitate aus den qualitativen Befragungen und längere Zitate sind, auch wegen bescheidener Druckqualität, nur mühsam zu lesen – geht die Geschäftsführerin des Hamburger Instituts für Sicherheits- und Präventionsforschung der Frage nach, wie sehr die Politik der Inneren Sicherheit mit Blick auf Kriminalitätsfurcht und Eigenvorsorge der Bürger greift. Sie kritisiert dabei auch die herrschende Kriminalitätsforschung, wenn sie etwa oberflächliche Unterscheidung von incivilities nach sozialen und physischen Unordnungserscheinungen – also „herumlungernde Jugendliche“ hier, „Müll“ und auf der Straße „abgestellte Einkaufswagen“ da – als „soziologisch unsensibel und unempirisch“ kritisiert (S. 59). Der Befund – die Autorin operiert mit dem Begriff der „Sicherheitsmentalitäten“ (S. 217) – lautet zunächst, dass „Kriminalitätsfurcht und Opferwerdung … nicht einfach vorfindliche Tatsachen“ sind, „die sich quantitativ gemessen abfragen lassen. Das Erinnern und die Klassifizierung krimineller Adressierungen hängen von den interpretativen Rahmungen der Ereignisse ab“ (S. 218). Mit der interpretativen Verknüpfung von Deutungen und Praktiken gelingt es Klimke, das, „was tatsächlich getan wird, um sich vor kriminellen Übergriffen zu schützen“, dem bloßen „Abfragen von Meinungen über die Sicherheitslage mit ungesicherten Operationalisierungen“, gegenüberzustellen (ebd., Hervorhebung. i. O.).

Zu zwölf Dimensionen von Sicherheit wurden die Bewohner Hamburgs befragt: vom eigenen Sicherheitsgefühl bis zu den Ursachen von Kriminalität, von Schutzmaßnahmen im öffentlichen Raum und in der Wohnung bis zu „gefährlichen Gruppen“ (S. 225). Aus ihren Antworten typologisiert Klimke fünf Sicherheitsmentalitäten heraus: den Pragmatiker (58 Prozent aller Befragten), den Ängstlichen (10 Prozent), den Ein­greifer (8 Prozent) und, mit jeweils 12 Prozent, den Anklagenden und den Responsibilisierten (S. 219-225). Ihnen sind einige Vorstellungen aber gemein: Dass der Staat den Konsum illegalisierter Drogen bekämpft, sei „den meisten Befragten vollkommen unverständlich“ (S. 71); die „allseits als unsicherheitsstiftend problematisierten Graffitis oder andere Vandalismen“ wurden „von keinem der Befragten … problematisiert“ (S. 73); auch Bettler oder Drogenkonsumenten werden als „eher lästig denn Angst machend“ geschildert (S. 64). Nur „Migrant“, das sollte man den Interviewergebnissen zufolge besser nicht sein (S. 62ff). Die Schlussbemerkung der Autorin kommt lapidar daher, ist aber erhellend: „Weder folgt man der politisch medialen Gefahrensicht noch stimmt man ihren sicherheitspolitischen Konsequenzen zu. Denn eigentlich sollte doch alles so bleiben wie bisher“ (S. 224). Wenn freilich stimmt, dass „auch hierzulande an der Ersetzung der urban-tole­ranten Haltung gegenüber städtischem Ungemach gearbeitet wird“ – und das ist kaum zu bezweifeln –, und wenn weiter stimmt, dass „dieser Problemdiskurs die Mehrheit der Befragten nicht zu berühren“ scheint (S. 73), bleibt die Frage (offen), warum er so erfolgreich um sich greift.

Moss, Kate: Security and Liberty. Restriction by Stealth. Basingstoke (Palgrave/Macmillan) 2009, 184 S., EUR 57,–

Der Titel dieses Bandes ist ein wenig irreführend, denn es geht schwerpunktmäßig um das Verhältnis von Recht und Freiheit. Die an der Universität Wolverhampton lehrende Kriminologin Kate Moss stellt, aus die­sem Spannungsverhältnis abgeleitet, im ersten und zweiten Kapitel die Frage: „Is legislating to reduce crime a really good idea?“ (S. 4). Immerhin sei die Kriminalität dadurch nicht zurückgegangen – und das aus na­heliegenden Gründen weil und nicht obwohl „since 1997 the Homeoffice has produced over 60 bills and during the ten years in office has created over 3,000 new offences“ (S. 5). In den angelsächsischen Ländern – der Band setzt sich fast ausschließlich mit Großbritannien auseinander – gilt nach wie vor das Strafrechtssystem des Common Law, das es etwa illegal macht, „to carry a bag of soot along the road in Congleton“ (S. 40), es aber in Chester einem Engländer erlaubt, einen Waliser mit Pfeil und Bogen zu erschießen, „as long as it is after midnight“ (ebd.). Das mag für den Kontinentaleuropäer albern klingen, ist aber tatsächlich geltendes Recht. Moss fährt fort: „More worrying are the laws which have more recently passed onto our statute books” (ebd.).

Im dritten Kapitel verortet sich die Autorin zunächst zwischen Garland und Foucault und mithin zwischen einer kulturalistisch angehauchten Kriminologie („crime control culture“) und dem Gouvernementalitätsdiskurs. Leider übernimmt sie dabei auch empirisch falsche Annahmen von Garland, etwa zu angeblich gestiegenen Kriminalitätsraten in den USA, die im angelsächsischen Raum bereits seit langem und breit rezipiert wurden. In den nachfolgenden Kapiteln dekliniert Moss einige der 3.000 neuen Straftatbestände und 60 Gesetze anhand von drei Beispielen durch: Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren, vermeintliche Hooligans und die damit verbundenen Verbotsverfügungen sowie die neuen Grenzregimes sind ihre empirischen Beispiele, ohne dass deren Auswahl begründet wird. Im abschließenden Kapitel kritisiert sie, Kriminologen seien „strangely silent in relation to many of the issues I have raised here and many others besides“ (S. 161). Das mag so sein, ob das allerdings, wie sie abschließend mutmaßt, wesentlich mit der Reform des britischen Hochschulsystems zu erklären ist, darüber ließe sich treff­lich streiten. Ein knapper Überblick zur britischen (Straf-)Gesetz­ge­bung, flüssig geschrieben, aber 57 Euro sprechen auch klare Worte.

(beide: Volker Eick)

Glienke, Stefan Alexander; Paulmann, Volker; Perels, Joachim (Hg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen (Wallstein Verlag) 2008, 396 S., EUR 36,–

Die blasierte offizielle Einbildung übersonnten bundesdeutschen Erfolgs aus eigener, selbstredend demokratischer Leistung wird von etlichen Hof-Historikern und Hof-Politologen mit wissenschaftlicher Aura versehen. (Herrschaftsnahes Musterexempel: Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.) Dagegen bietet der hier anzuzeigende Sammelband mit gut recherchierten Beiträgen bis fast an die Schwelle der Gegenwart triftige Kratzer.

Nur wenige Beiträge sollen knapp apostrophiert werden. Im ersten Beitrag überzeugt Claudia Fröhlich, warum der Begriff „Restauration“ fälschlicher Weise abgetan worden ist. Nur mit ihm lassen sich die „Wieders“ im wörtlichen und tatsächlichen Sinne verstehen, die die Bundesrepublik über die „Wiedervereinigung“ hinaus in neuen Kontexten weithin bestimmten. Im Zuge dieser Restaurationen, wozu auch der fortgesetzte, nun christlich und westlich gekleidete ideologische Antikommunismus gehörte, ereignete sich die Re-Militarisierung ebenso wie der Aufbau der Kriminalpolizei und der Geheimdienste.

In einem erhellenden Beitrag von Joachim Wolschke-Bulmahn: „Naturschutz und Nationalsozialismus“ wird dargetan – signifikant weit über den Naturschutz hinaus –, wie die unsägliche Mischung genannt „Blubo“ weiter weste. Rainer Schuckart macht an der fast konstitutiven verfassungsrechtlichen Rolle Ernst Forsthoffs einsichtig, welche argumentativen „braunen, geradezu tiefbraunen“ (K. Adenauer) Kontinuitäten im gesamten Rechtsbereich weit über die Hochschulen hinaus nach 1949 vorherrschten und, wenn überhaupt, erst spät ausdünnten.

Und so geht’s weiter. Ein eigener von vier AutorInnen bestrittener Abschnitt gilt dem „gesellschaftlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus“. „Literatur und Theater“ werden wie „Justiz und NS-Herrschaft“ mit gewichtigen Beiträgen und immer wieder neuem Material präsentiert. Zuletzt finden sich wichtige Auseinandersetzungen von Joachim Perels mit Götz Alys seltsam ambivalenten „Lob“ des NS-„Volksstaats“ und von Ralf Steckerts mit dem Versuch, den „Bombenkrieg“ à la Jörg Friedrich nationalsozialistisch aseptisch darzustellen.

Kurzum: unbeschadet aller Ergänzungswünsche und Kritik im Einzelnen ein lesenswerter, mit implizitem roten Faden versehener Sammelband. Schade ist allerdings, dass die AutorInnen, und sei’s wenigstens als Nachbemerkung, keine Überlegungen dazu mitteilen, wie und wo die versammelten Restaurationen längst sedimentiert und aufgehoben (beseitigt und bewahrt in einem) heute zu erkennen seien. Fast scheint es am Ende, als habe die BRD heute alle Halbseitigkeiten, alle autoritären, braunfleckigen und vorurteilstriefenden Mängel der Frühzeit ausgewachsen. Mitnichten!

(Wolf-Dieter Narr)