Archiv der Kategorie: CILIP 093

(2/2009) Bundesdeutsche Geheimdienste – eine aufhaltsame Geschichte?

Redaktionsmitteilung

„Im Übrigen“ sind wir der Meinung, dass Geheimdienste abgeschafft werden müssen. Das ist das „ceterum censeo“, das Bürgerrechte & Polizei/CILIP seit drei Jahrzehnten wiederholt. Und dafür gibt es Gründe en masse: Die Dienste sind nicht nur schlecht kontrolliert, sondern unkontrollierbar. Sie verfügen zwar in Deutschland mittlerweile über ausführliche gesetzliche Grundlagen, die aber im Wesentlichen Ermächtigungen und keine Grenzen darstellen. Dass sie notwendig seien zum Schutz der Demokratie oder für eine friedliche Außenpolitik – diese Ammenmärchen etablierter Politik mag glauben, wer will – wir tun es nicht.

Zugegeben: die Abschaffungsforderung liegt nicht im „realpolitischen“ Trend. Das Ende des Kalten Krieges hat den bundesdeutschen Diensten nur kurzfristig eine Krise beschert. Zwanzig Jahre danach verfügen sie über mehr Aufgaben und Befugnisse und sind besser mit den polizeilichen Sicherheitsbehörden vernetzt denn je – dank Anti-Terrorismus und einer militarisierten Außenpolitik, die deutsche Interessen und Sicherheit nicht nur am Hindukusch „verteidigen“ will. Die Gegenwart der drei (ehemals west-)deutschen Dienste wird trotz aller Skandale nicht hinterfragt, ihre Geschichte im Kalten Krieg ist – praktischerweise – vergangen. Letztere offen zu legen und den Betroffenen freien Zugang zu Akten und Daten einzuräumen, wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Redaktionsmitteilung weiterlesen

Die Dienste der Bundesrepublik – Vom Kalten Krieg zur „neuen Sicherheitsarchitektur“

von Norbert Pütter

Mit dem Ende des Kalten Krieges verloren die (west-)deutschen Geheimdienste ihr zentrales Beobachtungsobjekt und damit ihre Legitimationsgrundlage. Die Krise währte nur kurz. Schnell fanden sich neue Aufgaben. Die Dienste wurden enger denn je mit anderen Sicherheitsbehörden „vernetzt“.

Jede Stufe auf dem Weg zu voller Souveränität, die der westdeutsche Teilstaat nach der Zerschlagung des Deutschen Reiches erreichte, markierte zugleich einen Schritt beim Auf- und Ausbau von Geheimdiensten: 1949 genehmigten die Alliierten „eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische … Tätigkeiten“ (= einen Inlandsnachrichtendienst, der den Namen „Verfassungsschutz“ erhielt); integriert in die Vorbereitungen zur „Wiederbewaffnung“ betrieb man seit 1951 den Aufbau eines militärischen Dienstes, der mit der Gründung der Bundeswehr 1956 zum „Militärischen Abschirmdienst“ (MAD) wurde; mit der durch den Deutschlandvertrag gestärkten Selbstständigkeit der Republik übernahm die Bundesregierung im selben Jahr von den USA die „Organisation Gehlen“, die seither als „Bundesnachrichtendienst“ (BND) die Auslandsspionage der BRD betreibt; 1968 erhielten die Dienste im Rahmen der Notstandsgesetzgebung Befugnisse zur Fernmeldeüberwachung, die die deutschen Behörden von alliierten Stellen unabhängig machen sollten; und nach 1990 ist das wiedervereinigte Deutschland bemüht, die letzten Folgen des verlorenen Krieges abzuschütteln und zu einem „normalen“ Staat zu werden, dessen geheimdienstliches Potenzial hinter dem anderer westlichen Demokratien nicht zurücksteht. Die Dienste der Bundesrepublik – Vom Kalten Krieg zur „neuen Sicherheitsarchitektur“ weiterlesen

Wer wird Verfassungsfeind? Zur „freien“ Deutungshoheit der Verfassungsschutzämter

von Ron Steinke

Das Ritual der jährlichen Verfassungsschutzberichte, die festhalten, welche Bewegung, Organisation oder Partei gerade als „verfassungsfeindlich“ einzuschätzen sei, verleiht der Meinung des jeweiligen Innenministeriums einen Anschein rechtlicher Objektivität. Für alles Weitere sorgen die Reaktionen: Viele orientieren sich völlig unkritisch am Inhalt der Berichte.

Trüge der Inlandsgeheimdienst in Deutschland einen sachlicheren Namen als „Verfassungsschutz“, wir wären wohl um eine Verwirrung ärmer. Zur Arbeit der 17 Verfassungsschutzämter, von denen eines beim Bundes- und ein weiteres bei jedem Landesinnenministerium angesiedelt ist, gehört es, Erkenntnisse über bestimmte politische „Bestrebungen“ im Inland zu sammeln. Der Begriff der „Verfassungsfeindlichkeit“ jedoch, um den herum die Dienste ihre jährlichen politischen Berichte[1] aufbauen, stellt JuristInnen, die versuchen, ihn für einen Moment ernst zu nehmen, schlicht vor ein Rätsel.

Die meisten Bestimmungen des Grundgesetzes können die Parteien im Bundestag mit Zweidrittelmehrheit ihren aktuellen Vorhaben anpassen, die wenigsten sind für die Ewigkeit, vieles in der Verfassung sieht heute anders aus als noch vor zwanzig Jahren – und natürlich darf nicht nur im Parlament über weitere Änderungen diskutiert werden. Einhalten muss man das Strafgesetzbuch. Darin, sich eine bessere Verfassung zu wünschen, ist jeder frei. Wer wird Verfassungsfeind? Zur „freien“ Deutungshoheit der Verfassungsschutzämter weiterlesen

Nestlégate – Private Spioninnen im Dienste von Nestlé

von Dinu Gautier

Drei Spioninnen infiltrierten über Monaten hinweg linke und autonome Gruppen in der Westschweiz. „Nestlégate“ wird der Spitzelskandal in der Presse genannt, da der Nahrungsmittelmulti Nestlé den Auftrag erteilt hatte. Ausgeführt hat ihn die Sicherheitsfirma Securitas. Erstmals liegen dem Autor nun auch Gerichtsakten zu einem der drei Fälle vor.[1]

Auftraggeberin von mindestens zwei der drei Spionagemissionen war Nestlé. Der Konzern mit Sitz in Vevey am Genfer See lässt seine Gebäude in der Schweiz traditionellerweise von der Securitas bewachen. Die Securitas ist ein Schweizer Familienunternehmen mit knapp 6.000 Angestellten und zahlreichen Tochtergesellschaften, das eine breite Palette an „Sicherheitsdienstleistungen“ anbietet. Bekannt ist sie einer breiteren Öffentlichkeit durch ihre NachtwächterInnen, zumeist ältere Männer in blauen Uniformen, die nachts mit Taschenlampen durch die Städte ziehen und in manchen Gemeinden auch Parkbußen verteilen dürfen. Securitas Schweiz ist nicht zu verwechseln mit der global tätigen Securitas AB, die in der Schweiz unter dem Namen Protectas auftritt.

Innerhalb der Securitas existiert seit dem Jahr 2000 eine Art Geheimdienstabteilung namens „Investigation Services IS“, deren Zweck laut Handelsregistereintrag „Überwachungen und Nachforschungen jeglicher Art“ sind. Sitz der IS ist Kloten, operativ ist sie aber in Zürich und in Lausanne beheimatet. Nestlégate – Private Spioninnen im Dienste von Nestlé weiterlesen

Summaries

Theme: German intelligence services

Intelligence services of the German Federal Republic – an introduction
by Norbert Pütter
Germany’s intelligence services that is the Federal Office and the 16 regional offices of the Länder as internal intelligence services, the foreign intelligence service Bundesnachrichtendienst (BND) and the Military Counterintelligence Agency (Militärischer Abschirmdienst) – are remnants of the Cold War. After the end of the same, they swiftly found new remits and became – more closely than ever – interlinked with the police authorities. The constitutional law of separation between the two has long since been redefined to one of cooperation. Contrary to their official pledges, intelligence services are not merely passive information collection points, but they rather carry out covert actions. Their legal bases do not really restrict them in their actions and their parliamentary control has proven to be ineffective. Even if discounting the numerous scandals surrounding the services, there are no success stories to justify their existence. Abolishing intelligence services altogether is therefore the only logical conclusion. Summaries weiterlesen

G8 in Genua: hohe Haftstrafen

Anfang Oktober sprach der Appellationsgerichtshof in Genua in zweiter Instanz die höchsten je ausgesprochenen Haftstrafen nach Gipfelprotesten aus.[1] Angeklagt waren 25 ItalienerInnen, denen seit 2001 der Prozess wegen „Plünderung und Verwüstung“ gemacht wird. Nachdem bereits die erste Instanz Strafen von bis zu zwölf Jahren verhängen wollte, hat das Appellationsgericht nun die Urteile noch verschärft. Zehn Angeklagte erhielten Haftstrafen von bis zu 15 Jahren. G8 in Genua: hohe Haftstrafen weiterlesen

Kampagne zu Auskunftsersuchen in Polizeidatenbanken

Mit einer Veranstaltung im Berliner „Haus der Demokratie“ starteten Bürgerrechtsgruppen am 1. Oktober 2009 die Kampagne „Reclaim your data from the European police authorities!“.[1] Die Kampagne richtet sich gegen den Datenhunger von Polizei- und anderen Behörden der Inneren Sicherheit. Europaweit sind mittlerweile Millionen von Menschen in na­tionalen oder zentralen EU-Datenbanken erfasst, die immer stärker vernetzt und dem Zugriff weiterer Agenturen geöffnet werden, während sich der Standard des grenzüberschreitenden Datenschutzes auf minimalem Niveau bewegt. Kampagne zu Auskunftsersuchen in Polizeidatenbanken weiterlesen

Die EU auf dem Weg nach Stockholm

Nachdem die informelle „Future Group“ im Sommer 2008 mit ihrem Bericht die Marschrichtung für die Zukunft der europäischen Innenpolitik vorgegeben hatte,[1] legte im Juni 2009 die Kommission ihre Vorschläge für das „Stockholm Programm“ vor. Nach Tampere und Haager Programm wird das Stockholm Programm das dritte Fünf-Jahres-Programm zur Weiterentwicklung des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ sein. Dieser soll, folgt man der Rhetorik der Kommission, fortan „im Dienste der Bürger“ stehen.[2] Die EU auf dem Weg nach Stockholm weiterlesen

Datenbanken beim Bundeskriminalamt

Das Bundeskriminalamt (BKA) führt mehr als 200 „Dateien“ mit etwa 18 Millionen Einträgen zu Personen. Dies ergab im Juni 2009 eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag.[1] Bei den Dateien handelt es sich um drei Typen von Datenbanken: „Verbunddateien“ werden vom BKA geführt, aber auch von Bundes- und Landespolizeien sowie dem Zoll automatisiert über das polizeiliche Informationssystem INPOL mit Daten gefüttert und abgerufen. Auf „Zentraldateien“ haben nur BKA-BeamtInnen schreibenden Zugriff. Datenbanken beim Bundeskriminalamt weiterlesen

Ermittler dürfen rechtswidrig erworbene Beweise nutzen

„Es besteht kein Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnenen Beweise stets unzulässig wäre.“ Mit dieser Begründung wies das Bundesverfassungsgericht im Juli 2009 die Beschwerde eines Mannes als unbegründet zurück, bei dem 2004 bei einer rechtswidrigen Wohnungsdurchsuchung knapp 500 g Haschisch gefunden worden waren.[1] Ermittler dürfen rechtswidrig erworbene Beweise nutzen weiterlesen