Bild: Jason Kirkpatrick, SpiedUpon.com

Markige Worte – Polizei und Gewalt von Heiligendamm bis zum 1. Mai

von Martin Beck

„Wer stellt sich schützend vor die Polizei?“ Diese Frage bewegt – nicht nur – die Polizeigewerkschaften. Ein ganzer Chor von SicherheitspolitikerInnen und Fans von Law and Order stimmt dieses Lied an. Viel ist dabei von verlorenem Respekt gegenüber Uniformierten die Rede – und natürlich von „linker Gewalt“.

Nach Angaben der Gewerkschaft der Polizei (GdP) hat die Gewalt gegen PolizistInnen in den vergangenen zehn Jahren um 31 Prozent zugenommen. Alleine 2008 soll es zu rund 28.000 Widerstandshandlungen gegen BeamtInnen gekommen sein.[1] Gestützt auf diese Zahlen wird der GdP-Bundesvorsitzende Konrad Freiberg nicht müde zu wiederholen, man habe seit Jahren auf die wachsende Gewalttätigkeit in der Gesellschaft aufmerksam gemacht. Beleidigungen und die Missachtung polizeilicher Anweisungen im täglichen Dienst nähmen zu. Darin zeige sich ein „weitgehender Respektsverlust gegenüber staatlicher Autorität“, sekundiert sein Kollege von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt.[2]

Doch es geht nicht nur um „mit Alkohol ‚vorgeglühte‘ Jugendliche“ oder „,durchgeknallte‘ Erwachsene“, die „Polizeibeamte … kaum mehr vorurteilsfrei“ gegenübertreten würden, wie der bayrische Landesverband der DPolG beklagt.[3] Auftrieb erhält die Debatte auch durch das zurzeit wieder fröhliche Urstände feiernde Feindbild des „Linksextremismus“. „Mit Sorge“ betrachte er den „in allen Phänomenbereichen zu beobachtenden – wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägten – Anstieg der gegen die Polizei gerichteten Straftaten“, erklärte Bundesinnenminister Lothar de Maizière (CDU) im März bei der Vorstellung der Zahlen zur „politisch motivierten Kriminalität“ im vergangenen Jahr.[4]

Insgesamt ist demnach 2009 die Zahl „politisch motivierter Straftaten“ um gut 2.000 Fälle auf 33.917 Taten gestiegen. Zuwachs habe es auch bei Gewaltdelikten gegeben: 3.044 Fälle – ein Fünftel mehr als 2008 – erfassten die Behörden. Besonders Körperverletzungen und Widerstandsdelikte gegenüber Polizeikräften hätten „vor allem durch Angehörige der linken Szene“ zugenommen, so der Minister. Man müsse deshalb schnell das Regierungsziel umsetzen, „strafrechtlich den Schutz von Polizeikräften gegen brutale Angriffe zu verbessern“.[5]

Gewalt ist nicht gleich Gewalt

Empört zeigte sich de Maizière, dass PolizistInnen, die das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schützen wollten, „Opfer von Gewalt werden“.[6] „Das wäre empörend, wenn es so wäre“, so die Bundestagsabgeordnete der LINKEN, Ulla Jelpke. „Aber die Erfahrung vieler linker Demonstranten ist eine ganz andere.“[7] Wie die Polizei zur Gewalteskalation beiträgt, wies jüngst eine vom Berliner Senat in Auftrag gegebene Studie der Freien Universität Berlin zum 1. Mai nach.

Die Auswertung von Strafakten, Interviews und Weblogeinträgen zeigte, dass sich die untersuchten Straftaten fast ausschließlich gegen PolizistInnen richteten, deren Vorgehen in vielen Befragungen als „unverhältnismäßig und bedrohlich“ wahrgenommen worden war: „Sowohl in den Interviews als auch in den Blogeinträgen berichten Privatpersonen von Gewaltanwendung durch die Polizei, die als rechtswidrig eingestuft wird: Unverhältnismäßiger Zwangsmitteleinsatz sowie Schläge und Tritte nach bereits erfolgter Festnahme oder gegen Unbeteiligte.“[8]

Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf, kapriziert sich die Diskussion auf die gestiegene Zahl „linksextrem motivierter“ Straftaten. Sie stiegen im vergangenen Jahr um 39,4 Prozent auf 9.375 Fälle. 1.822 Gewaltdelikte wurden verzeichnet. Dabei handelt es sich überwiegend entweder um Körperverletzungsdelikte am Rande oder im Verlauf von Demonstrationen oder im Zuge der Auseinandersetzungen mit Neofaschisten. Daneben haben vor allem Brandstiftungen zugenommen.

In Berlin und Hamburg gingen im vergangenen Jahr mehr als 500 PKW in Flammen auf. Allerdings vermutet selbst die Polizei, dass nur die Hälfte der Brandstiftungen einen politischen Hintergrund habe. Der Rest sei von TrittbrettfahrerInnen verursacht. Es seien Leute, „die sich wichtig machen wollten“ bzw. „aus purer Lust am Vandalismus“ Autos anzünden, so der Berliner Oberstaatsanwalt Thomas Schwarz.[9]

Dichtung und Wahrheit

„Polizeibeamtinnen und -beamte halten buchstäblich ihren Kopf für Entscheidungen der Politik hin! … Egal, ob in Heiligendamm, bei Auseinandersetzungen zwischen ‚Rechts‘ und ‚Links‘, bei Ausschreitungen rund um den Fußball, bei Volksfesten oder bei Alltagssituationen im Streifendienst“, schreibt die bayrische DPolG in ihrem „Blaulicht“.[10] Die GdP bemüht in der Januar-Ausgabe ihrer Zeitschrift „Deutsche Polizei“ ähnliche Beispiele: In der Bebilderung dürfen dabei die „Rostocker Krawalle“ während der Großdemonstration gegen den G8-Gipfel 2007 ebenso wenig fehlen wie brennende Mülltonnen am Rande eines Neonaziaufmarschs am 1. Mai 2008 in Hamburg-Barmbek oder das obligatorische Foto vom 1. Mai in Berlin-Kreuzberg.

Der Einsatz bei der Rostocker Großdemonstration am 2. Juni 2007 ist vermutlich vielen PolizistInnen – ob sie nun dort im Einsatz waren oder nicht – im Gedächtnis geblieben. Dazu beigetragen haben sicherlich die vermeintlich hohen Verletztenzahlen in Kombination mit dem angeblich immensen Sachschaden sowie die Art der Darstellung der Zusammenstöße im Rostocker Hafen als „bürgerkriegsähnliche Zustände“. Das alles verdichtete sich zu dem Zerrbild der „Rostocker Krawalle“.

Am 2. Juni 2007 hatte sich die von der Polizei genannte Zahl von verletzten PolizistInnen innerhalb von zwölf Stunden verdreifacht. War am Anfang von mehr als 100, davon 18 Schwerverletzten die Rede, erhöhte sich die Zahl sukzessive auf 433 verletzte Beamte. Erst nachdem das Bundesverfassungsgericht am 6. Juni alle Kundgebungen verboten hatte, wurde zugegeben, dass nach offiziellen Kriterien nur zwei Beamte schwer verletzt worden seien, also stationär behandelt werden mussten. Auch sie konnten nach zwei Tagen das Krankenhaus verlassen.[11]

Halbwahrheiten und ihre Folgen

In das kollektive Gedächtnis – zumindest der VollzugsbeamtInnen und ihrer Funktionäre – sind offensichtlich auch andere Falschmeldungen aus den Tagen in Heiligendamm übergegangen. Das lässt jedenfalls die Äußerung des DPolG-Chef Rainer Wendt vermuten. „Wir reden nicht mehr darüber, dass Polizisten gegen das Schienbein getreten wird. Wir reden über Brandanschläge. Über Benzin und andere Lösungs­mittel, mit denen die Polizei übergossen wird. Beamte sollen angezündet werden, sollen schwerste Verbrennungen erleiden. Wir reden über Gegenstände, die in der Lage sind, Polizisten tatsächlich auch zu töten.“

Wer denkt bei diesen Worten nicht an die Meldungen, Clowns hätten BeamtInnen mit „Säure“ bespritzt oder „Autonome“ die Polizei mit Äpfeln beworfen, welche mit Rasierklingeln und Nägeln bespickt gewesen seien. Ein Polizeisprecher erklärte später, es habe sich bei der „Säure“ um Haushaltsreiniger gehandelt. Der Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder sagte im Innenausschuss des Landtags Mecklenburg-Vor­pommern, es seien zu keiner Zeit „deutliche Gewalt­tätig­keiten“ von der Clownsarmee ausgegangen.

Dem gleichen Muster folgt die kurz nach dem 1. Mai 2009 lancierte Meldung, am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg sei Giftgas gegen Poli­zistInnen eingesetzt worden. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei der „Giftgas-Granate“, die 47 PolizistInnen außer Gefecht gesetzt haben soll, um einen britische Nebelwurfkörper mit CS-Reizgas, der zur Abwehr von Aufständen und zur Terrorbekämpfung in Nordirland entwickelt wurde. Es kann nicht überraschen, dass der Berliner Polizeipräsident Dieter Glietsch klarstellte, dass CS-Gas in üblichen Selbstverteidigungssprays Verwendung finde und von einer „grundsätzlichen Gesundheitsgefährdung“ keine Rede sein könne – immerhin gehört CS-Gas zum üblichen Einsatzmittel der Polizei.[12] Wer die CS-Gas-Kartusche am 1. Mai geworfen hat, dazu liegen keine Informationen vor.

Modifikationen und Kontinuitäten

Teile der radikalen Linken haben – stärker als in den Jahren zuvor – militante Politik für sich wieder entdeckt. Das äußert sich nicht nur am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg oder im Hamburger Schanzenviertel und im Abfackeln von Autos, sondern auch in Attacken auf Polizeiwachen. In Berlin wurden im vergangenen Jahr mindestens zwei Polizeidienststellen mit Steinen beworfen und mit Parolen besprüht. In der Hauptstadt traf es am 3. Dezember die Außenstelle des Bundeskriminalamts in Treptow.

Zeitgleich wurde in Hamburg eine Polizeiwache in der Lerchenstraße mit Molotow-Cocktails attackiert. Ein Eingang wurde verschlossen, Scheiben wurden mit Steinen zerstört, zwei Streifenwagen in Brand gesetzt und PolizistInnen im Eingangsbereich der Wache beworfen. Verletzt wurde niemand. Obwohl die Wache über zwei Eingänge verfügt, wird nun wegen versuchten Mordes und versuchter besonders schwerer Brandstiftung ermittelt. Die Bundesanwaltschaft hat das Verfahren an sich gezogen und damit diese Attacke zur quasi terroristischen Bedrohung aufgewertet. Bereits während des Schanzenfests im September 2009 war das Revier angegriffen worden. Damals machte die Polizei jedoch nicht die Autonomen verantwortlich. Man habe es mit einem neuen Typ von Randalierern zu tun. „Nicht alles, was schwarz gekleidet ist, ist ein Autonomer“, hieß es auf einer Polizeipressekonferenz.[13]

Die Wache in der Lerchenstraße ist seit Jahrzehnten wegen Polizeiübergriffen berüchtigt. 1988 belegte amnesty international die Vorwürfe schwerer Misshandlungen auf diesem Revier anhand zweier Fälle.[14] Auch während des so genannten Hamburger Polizeiskandals Mitte der 90er Jahre stand die Lerchenstraße im Zentrum. Weil er von ihnen verprügelt und gedemütigt worden war, erstattete im Dezember 2008 ein türkischstämmiges Vorstandsmitglied der SPD-Altona Anzeige wegen Köperverletzung und Beleidigung gegen Beamte der Wache.[15]

Renaissance des linken Terrors?

Rainer Wendt, der immer dann zur Stelle ist, wenn mit markigen Worten ein maßlos überzeichnetes Bild der „Gefährdungslage“ im Inneren beschworen werden soll, spricht schon seit Längerem von einer angeblichen „Renaissance des linken Terrors der Siebziger“[16]: „Die Gewaltbereitschaft, der Hass auf den Staat und die sozialrevolutionären Ideale der linken Gewalttäter sind die gleichen. Auch die Methoden wie Brandanschläge sind dieselben wie bei der frühen RAF.“[17]

Von „einer neuen Qualität“ will dagegen Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) nicht sprechen, allerdings davon, dass die linke Szene seit dem G8-Gipfel 2007 „aktiver und gewaltbereiter“ sei. Er ist einer der wenigen Verantwortlichen, der nicht nur in das allgemeine Lamento über den „Wertewandel in Teilen der Gesellschaft“ und einen zunehmenden „Akzeptanzverlust der Polizei“ einstimmt, sondern soziale Ursachen benennt und in Rechnung stellt, „dass viele Menschen das Gefühl haben, dass es in dieser Gesellschaft nicht mehr gerecht zugeht“.[18] Bezeichnend für die gegenwärtige Diskussion ist, dass Körtings Äußerung eine einzelne Wortmeldung ist, die noch dazu absehbar folgenlos bleiben wird.

Zu den Denkwürdigkeiten gehört schließlich auch die Tatsache, dass es eine öffentlich zugängliche Statistik über das Ausmaß der Gewalt gegen PolizistInnen in der BRD nicht gibt. Die Innenministerien (aber auch die Polizeigewerkschaften) publizieren nur disparate Zahlen.

Wohl aus gutem Grund: In Berlin meldeten sich im Jahre 2008 nach Angaben der Senatsinnenverwaltung 2.874 PolizistInnen als verletzt. Das ist der höchste Wert seit 2003. Damals gab es 2.955 verletzte PolizistInnen.[19] In Schleswig-Holstein wurden 2009 in 704 Fällen PolizistInnen angegriffen oder bedroht (2008: 757). Die Zahl der verletzten Beamten stieg von 44 auf 108.[20] Ein eindeutiger Trend sieht anders aus.

[1] vgl. den Beitrag von Norbert Pütter in diesem Heft
[2] Welt am Sonntag v. 11.4.2010
[3] DPolG: Wer stellt sich schützend vor die Polizei?, in: Blaulicht. Magazin der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) im DBB Landesverband Bayern, Nr. 15, Januar 2009, S. 1
[4] Bundesministerium des Innern: Presseerklärung v. 23.3.2010
[5] ebd.
[6] Welt Online v. 24.3.2010, www.welt.de/politik/article6898806/Der-Linksextremismus-wurde-unterschaetzt.html
[7] junge Welt v. 25.3.2010
[8] Hoffmann-Holland, K.: Analyse der Gewalt am 1. Mai 2009 in Berlin. Forschungsbericht, Berlin 2010, S. 133
[9] Berliner Zeitung v. 7.11.2009
[10] DPolG a.a.O. (Fn. 3)
[11] Donat U.; Backmund M.; Ullmann, K.: Gipfel der Lügen. Polizeiliche Desinformationspolitik bei Demonstrationen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 88 (3/2007), S. 10-17
[12] Berliner Morgenpost v. 21.9.2009
[13] taz Hamburg v. 13.9.2009
[14] vgl. Polizeilicher Rassismus in Hamburg, in: ak – analyse & kritik, Nr. 370 v. 21.9.1994
[15] Hamburger Morgenpost v. 9.12.2008
[16] Spiegel Online v. 28.7.2009, www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,638552,00.html
[17] ddp v. 22.8.2009
[18] Welt Online v. 19.12.2009, www.welt.de/vermischtes/article5583560/Wie-die-Finanzkri
se-den-Linksextremismus-foerdert.html
[19] Berliner Morgenpost v. 19.6.2009
[20] Schlesweig-Holsteinischer Zeitungsverlag v. 19.3.2010, www.shz.de/nachrichten/schles
wig-holstein/artikeldetail/article/111/innenminister-will-polizei-besser-schuetzen.html