von Norbert Pütter
So lange es Polizei gibt, gibt es Gewalt. Über „Gewalt durch PolizistInnen“ wird meist anlässlich ihres gravierenden Missbrauchs geredet. Die „Gewalt gegen die Polizei“ gehört zu jenen Phänomenen, die von PolizistInnen, Behörden und PolitikerInnen in periodischen Abständen immer wieder thematisiert werden. Zu wenig wird der Zusammenhang zwischen beiden Seiten betrachtet.
Gegenwärtig hat die offizielle Politik sich des Themas „Gewalt gegen Polizeibeamte“ angenommen. In öffentlichen Erklärungen des Bundes- und der Landesinnenminister ist die Klage über Angriffe auf die Polizei ebenso präsent wie in den Verlautbarungen des Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder der Polizeigewerkschaften. Die Regierungsparteien CDU, CSU und FDP erklärten in ihrem Koalitionsvertrag vom Herbst letzten Jahres, dass „Polizeibeamte und andere Personen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen … immer häufiger Ziel brutaler gewalttätiger Angriffe“ würden. Um dem entgegen zu wirken, kündigten die Koalitionäre an, für die Beamten „den strafrechtlichen Schutz – insbesondere durch eine Neufassung des § 113 Abs. 2 StGB – verbessern“ zu wollen.[1]
Der § 113 Strafgesetzbuch (StGB) stellt den „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ unter Strafe. Bereits im Februar 2010 hatte die CDU-FDP-geführte Regierung des Freistaates Sachsen einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht. Demnach soll die Höchststrafe bei „Widerstand“ von zwei auf drei Jahre steigen. Zudem soll der Tatbestand der „besonders schweren“ Widerstandshandlung mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe nicht mehr nur das Mitführen von Waffen, sondern zusätzlich auch von „anderen gefährlichen Gegenständen“ erfassen. Am 7. Mai beschloss der Bundesrat den leicht erweiterten Entwurf. In den Schutzbereich der Vorschrift wurden auch Feuerwehrleute und Rettungskräfte im Einsatz aufgenommen.[2]
Ende Mai wurde ein Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums bekannt. Er nahm die beiden Erweiterungen des § 113 StGB auf, schlug die Gleichsetzung von Waffen und „anderen gefährlichen Werkzeugen“ auch in anderen Bestimmungen des Strafgesetzbuches vor und erweiterte die in § 305a StGB besonders unter Strafe gestellte „Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel“ von Polizei und Bundeswehr um die von Feuerwehr, Katastrophenschutz und Rettungskräften. Das parlamentarische Schicksal der Entwürfe ist gegenwärtig ungewiss.
Schon im Herbst 2009 hatte die Gewerkschaft der Polizei (GdP) ihren eigenen Vorschlag unterbreitet. Sie will das Strafgesetzbuch um einen neuen Paragrafen 115 „Tätlicher Angriff auf einen Vollstreckungsbeamten“ erweitern; der bisherige Widerstandsparagraf soll unverändert bleiben. Vom sächsischen Modell unterscheidet sich die GdP-Variante in drei Punkten: Erstens werden „Widerstand“ und „tätliches Angreifen“ strafrechtlich auf zwei Bestimmungen aufgeteilt. Zweitens wird – im Unterschied zur bestehenden Widerstandsregelung – die Strafbarkeit eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte von der „Vornahme einer … Diensthandlung“ auf alle Situationen ausgeweitet, die „eine Beziehung auf seinen Dienst“ haben. Und drittens wird die Mindeststrafe auf drei Monate Freiheitsstrafe erhöht (nach § 113 StGB kann auch eine Geldstrafe verhängt werden); im besonders schweren Fall, der – ebenfalls eine Ausweitung gegenwärtigen Rechts – auch dann vorliegen soll, wenn die Tat „mit einem anderen gemeinschaftlich“ begangen worden ist, soll die Höchststrafe von fünf auf zehn Jahre verdoppelt werden.[3] Da der Koalitionsvertrag den Weg über die Novellierung von § 113 StGB nur als eine Möglichkeit benennt („insbesondere“), ist der GdP-Vorschlag noch keineswegs erledigt.
Anstieg des „Widerstands“ – Anstieg der Gewalt?
In der Diskussion über Gewalt gegen PolizistInnen spielt die gestiegene Zahl der von der Polizei registrierten Widerstandshandlungen eine prominente Rolle. Von der wachsenden Zahl der Fälle in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird auf ein erhöhtes Maß an Gewalt gegen PolizistInnen geschlossen. Der Blick in die PKS des Bundes zeigt in der Tat einen erheblichen Anstieg in den letzten Jahren: von 22.914 registrierten Widerstandshandlungen im Jahre 2002 auf 28.272 Fälle im Jahre 2008; dies entspricht einer Steigerung von 20,7 % in sieben Jahren. Die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen (bei einer Aufklärungsquote um die 99 %!)nahm um 4.799 Personen zu. Die PKS gibt auch an, ob die Tatverdächtigen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss standen. Die Zahl der Widerstandshandlungen unter Alkohol stieg im genannten Zeitraum um 4.677, die des Widerstands unter sonstigen Drogen um 361 Fälle. Dies bedeutet, dass das gestiegene „Widerstandsproblem“ der Polizei in Wirklichkeit ein Alkohol- und Drogenproblem ist. Der „Widerstand“ der nicht betrunkenen oder berauschten Bevölkerung hat nach diesen Zahlen sogar abgenommen. Abgenommen hat auch die Gefährlichkeit des Widerstands: Die Fälle, in denen Schusswaffen mitgeführt wurden, sanken von 187 auf 111, die, in denen mit der Schusswaffe gedroht wurde, von 73 auf 39 und jene, in denen geschossen wurde, von 15 auf neun.[4]
Entgegen seiner Verwendung in der öffentlichen Diskussion ist der „Widerstand“ jedoch ein ungeeigneter Indikator für die Gewalt gegen PolizistInnen. Zum einen schützt der § 113 StGB nicht allein PolizistInnen, sondern alle „Amtsträger oder Soldaten“, die mit Vollstreckungsaufgaben betraut sind, und darunter fallen auch JustizbeamtInnen oder GerichtsvollzieherInnen. Die PKS gibt keine Auskunft darüber, gegen welche Gruppe von Amtsträgern Widerstand geleistet wurde. Zum anderen sorgen die Erfassungsregeln der PKS dafür, dass gerade die Gewalt gegen VollstreckungsbeamtInnen in diesen Zahlen nicht enthalten ist. Nach den Grundsätzen für die PKS-Registrierung wird bei Handlungen, durch die unterschiedliche Delikte zugleich begangen werden, in der PKS nur das „höherwertige“ Delikt berücksichtigt. Kommt es also bei Widerstandshandlungen z.B. zu einer Körperverletzung des Beamten, so wird der Fall in der PKS als Körperverletzung erfasst, aber nicht als „Widerstand“.[5] Angesichts dieses Umstandes ist es erstens wahrscheinlich, dass die tatsächliche Zahl der Widerstandshandlungen erheblich höher ist als die in der PKS ausgewiesenen Fälle. Zweitens handelt es sich bei den gestiegenen Widerstandszahlen der PKS um solche Handlungen, in denen die BürgerInnen der Polizei gerade nichts anderes „antun“, als „Widerstand“ zu leisten. Bedenkt man, dass der juristische Widerstandsbegriff nicht allein das aktive Widersetzen (etwa losreißen aus dem Polizeigriff), sondern auch das Nichtbefolgen einer Weisung oder das Erschweren einer polizeilichen Handlung (etwa die Weigerung auszusteigen bei einer Verkehrskontrolle) umfasst,[6] so wird nicht nur deutlich, dass mehr Widerstand nicht gleichbedeutend mit „mehr Gewalt“ (gegen die Polizei) ist. Gleichzeitig wird auch plausibel, warum die Widerstandshandlungen unter Alkohol und Drogen gestiegen sind: In diesen Zuständen nimmt die Bereitschaft zum Widerwort zu und die zur Folgsamkeit ab.
Auch andere Kategorien der Kriminalstatistik geben keinen Aufschluss darüber, ob die Gewalt gegenüber der Polizei steigt, da etwa bei Körperverletzung, Mord oder Totschlag nicht nach dem Beruf des Opfers oder dem Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit unterschieden wird. Insgesamt ist die Datenlage zu dieser Frage ausgesprochen schlecht. (Das erklärt, warum in der öffentlichen Debatte so gern auf die Zahlen zum „Widerstand“ zurück gegriffen wird.) Seit den 70er Jahren erfasst die Polizei-Führungsakademie, die heutige „Hochschule der deutschen Polizei“, im Auftrag der Innenministerkonferenz die Zahl im Dienst verletzter PolizistInnen. Gezählt werden dort nur Verletzungen, die zu wenigstens sieben Tagen Krankschreibung führen. Die Zahlen werden nur zurückhaltend veröffentlicht und spielen in der aktuellen Debatte keine Rolle. Die Dienstherren, die Länder- und der Bundesinnenminister, verfügen über die entsprechenden Angaben, aber sie werden offenkundig nicht systematisch aufbereitet und/oder nicht veröffentlicht.[7] Erst in jüngster Zeit unternehmen einige Länder den Versuch einer Bestandsaufnahme. Einstweilen beschreibt das Fazit von J. Sonnemann den Kenntnisstand zutreffend:
„Letztlich lässt sich z. Zt. die Frage nach der tatsächlichen Gefährdung von Polizeibediensteten durch Angriffshandlungen während der Dienstausübung anhand der vorhandenen Datenquellen nicht annähernd, geschweige denn präzise beantworten.“[8]
Übergriff und Widerstand
Man könnte das Thema Widerstand nach dem Gesagten für die „Gewaltfrage“ beiseite legen, wenn es nicht noch einen weiteren wichtigen Zusammenhang gäbe. Der Sinn des Straftatbestandes „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ besteht darin, den Anweisungen des staatlichen Personals Nachdruck zu verleihen: Wer sich der Polizei widersetzt, soll bestraft werden. In den Widerstandszahlen der PKS tauchen nur diejenigen auf, die sich in diesem Sinne widersetzen, nicht die, die zurückschlagen oder einen Festgenommenen befreien wollen etc. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für „Widerstand“ sind also gering. Mit einer Anzeige gegen Widerstand zu drohen oder sie zu erstatten, ist das polizeiliche Mittel, Folgsamkeit beim Gegenüber zu erzwingen. Die Widerstandsanzeige ist aber auch das Mittel, um polizeiliche Gewaltanwendung rechtlich zu rechtfertigen. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Gewaltanwendung durch die Polizei.
Ein aktuelles Beispiel illustriert die Beziehung zwischen Polizeigewalt und Widerstand: Am 11. Oktober 2009 findet in Berlin die Demonstration „Freiheit statt Angst“ statt. Eine Familie aus Bad Kreuznach ist in der Hauptstadt zu Besuch. Sie geht zum Potsdamer Platz, in dessen Nähe auch die Demonstrationsroute verläuft. Ein Polizist verwehrt der Familie das Überqueren einer Straße. Während der Mann ihn nach dem Grund der Absperrung fragt, versucht seine Frau bückend durch das Gitter zu steigen. Der Polizist fasst die Frau an Hals und Schulter und drückt sie mit dem Knie nach unten. Sie strampelt sich schließlich frei. Der Polizist weigert sich, seine Dienstnummer zu nennen. Zurück in Bad Kreuznach geht die unter starken Schmerzen leidende Frau zum Arzt. Er diagnostiziert eine Verstauchung der Halswirbelsäule sowie Prellungen der Lendenwirbelsäule, an Ellbogen und Oberarm. Die Familie schickt daraufhin einen Brief an den Berliner Innensenator, in dem sie den Fall schildert. Nach einiger Zeit bekommt sie eine Nachricht der Berliner Staatsanwaltschaft (wie in diesen Fällen üblich hatte die Innenverwaltung ein Verfahren von Amts wegen eingeleitet, die Frau hatte keine Strafanzeige gestellt), in der ihr mitgeteilt wurde, das Verfahren gegen den Polizisten sei eingestellt. Zwei Monate nach dem Vorfall erhält die Familie erneut Post aus Berlin: Eine Anzeige: Sie hätten den Beamten beleidigt („Sie Arsch“) und „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ geleistet. Der Mann wird im Februar 2010 zu 600 Euro Strafe und 1.200 Euro Gerichtskosten verurteilt; die Frau Anfang März zu einer Strafe von 400 Euro. Zwar räumt die Richterin ein, dass der Polizist sie „härter angefasst“ habe, aber sie hätte sich über die Polizeimaßnahme nicht hinwegsetzen dürfen.[9]
Der Fall verdeutlicht drei generelle Sachverhalte. Erstens: Widerstandsanzeigen sind ein strafrechtliches Instrument, mit dem polizeiliche Gewaltanwendung legitimiert werden kann. Sie kommen immer dann ins Spiel, wenn PolizistInnen körperliche Gewalt eingesetzt haben, ein anderer Grund für die Gewaltanwendung (Angriff auf den Polizisten oder auf andere, Fluchtversuch, Gefährdung Dritter etc.) aber nicht ersichtlich ist. Eine Anzeige wegen Widerstands ist eine Methode, aus einem Übergriff, einer ungerechtfertigten körperlichen Misshandlung, eine legale, weil verhältnismäßige Amtshandlung zu machen.[10] Mit anderen Worten: Die steigenden registrierten Widerstandshandlungen könnte man als Folge zunehmender ungerechtfertigter Polizeigewalt lesen. Die Zahlen steigen, weil die Polizei gewaltsamer, brachialer, ruppiger vorgeht, und sie dafür eine nachträgliche rechtliche Rechtfertigung braucht.[11] Ob dem so ist, kann auf Grund der vorliegenden Daten nicht entschieden werden. Kennzeichnend ist jedoch, dass diese Lesart im herrschenden Diskurs keinen Platz findet.
Zweitens gibt das geschilderte Beispiel auch einen Hinweis auf das, was wir über das Ausmaß polizeilicher Gewalt wissen. In diesem Feld gibt die PKS noch rudimentärere Hinweise. Zwar existiert die Kategorie „Körperverletzung im Amt“, aber damit sind alle Amtsträger (von LehrerInnen bis BeamtInnen aus dem Grundstücksamt) erfasst. Die Zahl der registrierten Delikte ist in den letzten Jahren gestiegen (2002 wurden 2.114 Körperverletzungen im Amt registriert, 2008 waren es 2.314 Fälle). Bereits die im Vergleich zu den Widerstandshandlungen deutlich geringere – und sinkende – Aufklärungsquote (2002: 77,2 %, 2008: 70,6 %) weist auf einen Unterschied hin. Noch bedeutsamer ist, dass die PKS nur das Hellfeld der bekannten Delikte erfasst. Da die Opfer bei Widerstandshandlungen Staatsdiener sind, dürfte die Zahl der nicht registrierten Delikte hier gegen Null gehen. Für die „Körperverletzung im Amt“ muss hingegen ein erhebliches Dunkelfeld angenommen werden. Wer den Zusammenhang von Übergriffen und Widerstandsanzeigen kennt, muss jedes Opfer von Polizeigewalt ausdrücklich auf die Gefahren hinweisen, denen man sich aussetzt, wenn man versucht, sein Recht gegenüber der Polizei einzuklagen. Hätte die o.g. Familie keinen Brief geschrieben, wäre sie unbehelligt geblieben, da der Polizist noch nicht einmal ihre Personalien erfasst hatte. Der Widerstandsparagraf verhindert somit, dass Polizeigewalt öffentlich gemacht werden kann. Aus dieser Perspektive steht nicht sein Ausbau, sondern seine Abschaffung auf der Tagesordnung.
Drittens zeigt das Beispiel exemplarisch, wie die Polizei mit den beiden Seiten der Gewalt umgeht:[12] Das Verfahren gegen den Polizisten wird eingestellt, die Familie wird bestraft. Wir wissen nicht, warum die Einstellung erfolgte. Dass der Polizist jedoch die Herausgabe seiner Dienstnummer verweigerte, verweist auf einen weiteren Zusammenhang der Gewaltfrage. Wem an weniger Gewalt zwischen Polizei und BürgerInnen gelegen ist, und wer glaubt, dass das Strafrecht dazu einen Beitrag leisten könnte, der müsste darauf hinwirken, dass die Sanktionsdrohungen des Strafrechts für beide Seiten gleichermaßen gelten. Dass die Gewerkschaft der Polizei (wie auch die beiden anderen Polizeigewerkschaften) die Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen jedoch vehement ablehnt, zeigt, wie scheinheilig die gegenwärtige Kampagne gegen „Gewalt gegen Polizisten“ geführt wird.
Gewalt: mehr, brutaler, gefährlicher?
Anfang des Jahrzehnts untersuchte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) im Auftrag der Innenministerkonferenz (und finanziert von der Gewerkschaft der Polizei) das Berufsrisiko von PolizistInnen. Das KFN berücksichtigte schwere Angriffe auf PolizistInnen, d.h. für die Jahre von 1985 bis 2000 solche, die zum Tode führten oder mit der Absicht zu töten begangen wurden und für die Jahre von 1995 bis 2000 nur Angriffe, die zu einer Dienstunfähigkeit von mindestens sieben Tagen geführt hatten. In quantitativer Hinsicht konnte die Studie keine Zunahme der Gewalt nachweisen: Sowohl die Zahl der getöteten wie die der schwer angegriffenen PolizistInnen hatte in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eher ab- als zugenommen. Auch die Zahl der nach Angriffen krankgeschriebenen BeamtInnen war Ende der 90er geringer als in den 70er oder 80er Jahren. Im Hinblick auf die Tatumstände kam die Studie zu folgenden Ergebnissen: Angriffe auf Polizisten geschehen überwiegend bei Dunkelheit, im öffentlichen Raum und in eher bürgerlichen Vierteln. Die Angreifer waren fast ausschließlich männlich, zu drei Vierteln deutscher Nationalität, überwiegend alkoholisiert und zur Hälfte polizeibekannt. Bei schwerwiegenden Angriffen (mit Tötungsabsicht) war die Alkoholisierungsrate geringer. Sie ereigneten sich überproportional häufig bei Fahrzeugkontrollen, Identitätsfeststellungen und aus Situationen ohne vorherigen Körperkontakt. Zwar war das Risiko, mit Tötungsabsicht angegriffen zu werden, in den 90er Jahren für PolizistInnen größer als für NormalbürgerInnen. Umgekehrt sah es jedoch bei der Gefahr aus, bei einem Angriff tatsächlich getötet zu werden. Gegenüber dem vorangegangenen Jahrzehnt hatte sich in den 90er Jahren das Tötungsrisiko für PolizistInnen deutlich verringert.[13]
Die KFN-AutorInnen hielten sich mit Empfehlungen zurück. Die aus Interviews und schriftlichen Stellungnahmen wiedergegebenen Auffassungen der PolizistInnen weisen aber deutlich in eine Richtung: Ausstattung und Ausbildung sollten verbessert werden, u.a. wurden Konflikttraining und psychologische Schulung auf der einen, weniger restriktive Bestimmungen zum Schusswaffeneinsatz und eine verbesserte Eigensicherung auf der anderen Seite gefordert. Der Horizont der Studie blieb damit auf die angemessenere polizeiliche Vorbereitung auf konfliktträchtige Situationen beschränkt. Mit der Erhöhung der Eigensicherung hatten die Innenminister bereits vorher auf einige spektakuläre Tötungen von Polizisten im Jahr 2000 reagiert.
Das empirisch wenig fundierte Wissen über die Konstellationen, in denen in Deutschland Gewalt gegen PolizistInnen ausgeübt wird, kann man im Hinblick auf die Motive der Täter folgendermaßen zusammenfassen:[14]
- Der überwiegende Teil der Angriffe geht von alkoholisierten Personen aus. Der Alkohol setzt die Hemmschwelle gegenüber den Staatsvertretern herab; man(n) wird gewalttätig – auch gegenüber der Polizei.
- Das Einschreiten der Polizei wird als rechtswidrig empfunden: Gemessen an den eigenen Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, angemessenem Verhalten, Ehre etc. erscheint das polizeiliche Handeln willkürlich, unangemessen oder ungerecht. Im Namen des eigenen Rechts muss die Polizei aktiv gehindert werden, „Unrecht“ zu schützen/durchzusetzen.
- Gewalt wird gegen die Polizei angewandt, weil man sich der Strafverfolgung entziehen will.
Sofern diese Täterprofile zutreffend sein sollten, lassen sie die gegenwärtigen Gesetzesinitiativen als besonders hilflos erscheinen. Die erhofften präventiven Wirkungen des Strafrechts setzen einen rational handelnden Täter voraus, der Entdeckungsrisiko, Sanktionswahrscheinlichkeit und -höhe gegen den erwarteten „Gewinn“ der Straftat in Beziehung abwägt. Bei Gewalt gegen PolizistInnen sind Entdeckungsrisiko und Sanktionswahrscheinlichkeit nicht mehr zu steigern: So gut wie jede Tat wird zur Anzeige gebracht, die Aufklärungsquote ist sehr hoch (bei Widerstand 99 %). Also will man die Sanktionshöhe heraufsetzen. Allerdings handelt es sich weder bei den Alkoholisierten noch bei denjenigen, die nach eigenem Rechtsempfinden handeln, um rational abwägende Täter. Und für die gesuchten Straftäter wird der Strafzuschlag, den die Gewalt gegen PolizistInnen einbringt, die Gesamtbilanz nur wenig verändern. Der Griff zum Strafrecht erweist sich deshalb einmal mehr als „symbolische Politik“: er inszeniert eine Absicht, ohne auch nur die Chance zu haben, sie realisieren zu können.
Gewalt und Gewaltmonopol
Niemand zweifelt daran, dass es Gewalt gegen PolizistInnen gibt. Allerdings sollte auch niemand darüber überrascht sein. Der moderne Staat ist nicht mit dem Versprechen angetreten, physische Gewalt aus der Welt zu schaffen. Sein Sicherheitsversprechen, mit dem er schon früh legitimiert wurde, fußt auf der Monopolisierung der Gewalt. Für die Angelegenheiten im Innern der Staaten ist die Polizei das Instrument, die im Staat monopolisierte Gewalt umzusetzen. In modernen Gesellschaften scheint der prinzipielle Gewaltcharakter der Institution Polizei häufig hinter den vor- und nebengelagerten Formen polizeilicher Eingriffe zu verschwinden: Wer Telefone abhört, DNA-Profile sammelt und abgleicht, Verdeckte Ermittler in Milieus einschleust, Verdächtige „ausrastert“ etc. tritt nicht gewalthaft in Erscheinung. Aber am Ende jedes polizeilichen Vorgehens steht die legitime Gewalthaftigkeit. Ohne diese wäre die Polizei keine Polizei mehr. Wer diesen Zusammenhang nicht betrachtet, sondern allein bei den Situationen verweilt, in denen Gewalt (gegen die Polizei) sichtbar wird, der kann dem Gewaltphänomen nicht gerecht werden.
Mit Gewalt konfrontiert zu sein, ist das Organisationsmerkmal jeder Polizei. Obwohl Polizeiarbeit viele Facetten aufweist und nicht wenige polizeiliche Anstrengungen darauf verwendet werden, Gewalt nicht anwenden zu müssen, bleibt diese Ressource das polizeiliche Spezifikum. Auch die Gewalt, die sich gegen die Polizei richtet, muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden, und erscheint so nicht als eine Reaktion auf unmittelbar erlebte physische Gewalt durch die Polizei, sondern als Ausbruch aus Ohnmachtserfahrungen. Angesichts der polizeilichen Strategien gegenüber Fußballfans und DemonstrantInnen lassen sich derartige Entwicklungen beobachten: Die weiträumigen Anreisekontrollen, die Auflagen, die dauerhafte Videoüberwachung, die räumliche Begleitung und Einschließung halten die staatliche Gewaltdrohung überall präsent. Dagegen gibt es kein vernünftiges Aufbegehren, aber diese Art von „Engführung“ nährt die Gewaltoption der „Polizierten“, die sich aus meist nichtigem Anlass mit eruptiver Kraft gerade gegen diejenigen wendet, die die staatliche Ordnung repräsentieren.
Den Zusammenhang zwischen den sublimen, aber immer auf die Gewaltoption gestützten Kontrollarrangements zu betonen, heißt nicht, Gewalt gegen Polizisten als Heldentat der Befreiung zu adeln. Jeder, dem die Polizei in hilfloser Lage durch ihr Erscheinen und Einschreiten geholfen hat, wird das von ihr repräsentierte Gewaltpotential begrüßen. Allerdings wird auch jeder, der einer Polizeikette, einem Wasserwerfer, Identitätsüberprüfungen oder Betretungsverboten gegenüberstand das Ausmaß an Ohnmacht und mitunter Wut nachempfinden können, das der starke Staat bei BürgerInnen hervorruft. Gegen die Polizei kann man eben nicht die Polizei zu Hilfe rufen; und wohin der Weg nachträglicher Beschwerde führt, hat das Beispiel der Berlin-Touristen deutlich vor Augen geführt. „Gewalt“ erscheint in diesen Konstellationen als Ausweg. Freilich als einer, der das Kontrollregime nicht lockert, sondern auf mittlere Frist zu seiner Verschärfung führt. Siehe die aktuelle Debatte.
In der Polizei, ihren perfektionierten Einsatzstrategien und ihrer immer wieder auftretenden Willkür, die Ursache für die gegen sie gerichtete Gewalt auszumachen, stellt nur einen Teil der Antwort dar. Denn die Situationen, in denen Polizei und BürgerIn in Kontakt treten, sind ohne ihren politischen und gesellschaftlichen Kontext nicht denkbar. Zum relevanten politischen Kontext gehört der Mangel an demokratischen Verfahren, der die herrschende Politik kennzeichnet. „Politikverdrossenheit“ ist dessen direkte Folge. Dass ein Krieg geführt wird, den die Bevölkerung nicht will, dass zwar eine Regierung wegen „Hartz IV“ abgewählt wird, ihre Nachfolgerin die abgewählte Politik unbeirrt fortsetzt, dass Deregulierung, Privatisierung und Ökonomisierung weiterer Lebensbereiche weiter betrieben werden, die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich politisch forciert wird, am „Atomkompromiss“ beharrlich gesägt wird – all dies führt den politisch interessierten BürgerInnen ihre Ohnmacht vor Augen. Die Polizei ist die Instanz, die den formal-demokratisch zustande gekommenen, aber real undemokratischen Staatswillen durchsetzen muss. Konflikte sind in dieser Konstellation vorprogrammiert.
Auch dass die gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik einen Anteil an der Gewalt gegen PolizistInnen haben, ist plausibel. Das Land ist in einer wirtschaftlichen Dauerkrise. Die registrierte Sockelarbeitslosigkeit liegt bei über 4 Mio. Erwerbslosen – die meisten ohne jede Perspektive wieder durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Zahl der schlecht bezahlten Arbeitsplätze steigt; die wirtschaftliche Unsicherheit nimmt zu. Beruflich erzwungene Mobilität bedroht die Reste stabiler Sozialbeziehungen. Gleichzeitig hat sich der Leistungsfetisch (PISA und die Folgen) verschärft. Während Konsum mehr denn je als Weg zum persönlichen Glück propagiert wird, werden ganze Bevölkerungsschichten und Regionen von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt. Die Einzelnen müssen sich in dieser rapide wandelnden Welt zurecht finden. Sie müssen die Kluft zwischen den Ansprüchen der „Normalität“ und ihren eigenen Möglichkeiten überbrücken. Angesichts dieser Grundkonstellation ist eher erklärungsbedürftig, dass die registrierte Gewalt in Deutschland in den letzten Jahren zurückgeht, und nicht, dass sie gegenüber denjenigen steigt, die die Zwänge „des Systems“ beruflich durchsetzen müssen.
Ist der Staat in Gefahr?
Allzu durchschaubar sind die Motive der aktuellen Debatte: Der Polizeigewerkschaft ist an der Gesundheit und dem Wohlergehen ihrer (potenziellen) Mitglieder gelegen. Vielleicht verspricht man sich auf diesem Gebiet einen Erfolg, der bei Bezahlung, Arbeitsbedingungen und Neueinstellungen auf sich warten lässt. Dass eine Gewerkschaft den Weg über die Schärfung des Strafrechts sucht, also über mehr Sanktionsdrohung und mehr Sanktionen, deutet weder auf viel Phantasie, noch auf eine liberale Grundstimmung hin. Bedeutsamer dürfte jedoch sein, dass die geforderten Maßnahmen keine oder allenfalls gegenteilige Wirkungen entfalten werden: Wenn Angreifer überhaupt die Bestimmungen des Strafgesetzbuches kennen, dann wird der Reiz, es „den Bullen“ mal zu zeigen, noch größer sein, wenn die Mindeststrafe bereits in einer Freiheitsstrafe besteht.
Die politisch Verantwortlichen schließen sich der Gewerkschaftskampagne an, sind aber ansonsten vor allem untätig. Zwar beschwört der Hamburger Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) angesichts der Gewalt gegen PolizistInnen: „Der Staat gerät in Gefahr“. Jenseits von schärferen Strafen, Einschränkungen des Alkoholverkaufs an Jugendliche und einem allgemeinen Appell zu mehr „Werteerziehung“[15] haben er und eine Kollegen aber wenig zu bieten. Dass keine deutsche Innenverwaltung seriöse Zahlen über Umfang und Ausmaß des Berufsrisikos von PolizistInnen liefert, zeigt dass hinter der zur Schau getragenen Sorge um die BeamtInnen wenig substanzielles Interesse steckt. Die genannte Studie des KFN musste mit Mitteln der GdP finanziert werden. Seit Februar läuft in ähnlicher Konstellation eine erneute Studie dieses Instituts. Entgegen der ursprünglichen Absicht der Innenministerkonferenz beteiligen sich der Bund und sechs Bundesländer nicht daran – unter anderem weil man Verwendung und Interpretation der Erhebung nicht den Kriminologen überlassen will. Statt dessen haben einige Länder nun eigene Untersuchungen angekündigt – man möchte offenkundig nicht mit unangenehmen Befunden konfrontiert werden.
Niemand bestreitet, dass es „Gewalt gegen PolizistInnen“ gibt. Aber gegenwärtig sind wir Zeugen einer Kampagne, in der ein Symptom zum eigentlichen Problem stilisiert wird. Wer Gewalt gegen die Polizei nicht auch als die Frage nach einer weniger gewalthaften Polizei, einer weniger gewalthaften Polizeipolitik und nach einer weniger gewalthaften Gesellschaft thematisiert, der wird weder der Polizei noch den BürgerInnen helfen können.