von Heiner Busch
Die Polizisten seien „schnurstracks“ auf sie zugekommen und hätten ihn und seinen minderjährigen Sohn kontrolliert. Der Junge habe gefragt, warum die Beamten in dem vollbesetzten Waggon nur sie beide nach den Papieren gefragt haben. „Kann die Antwort darauf sein: Wir sehen viel gefährlicher aus? Wir sehen illegaler aus? Ich habe gesagt, das ist vielleicht nur Zufall, die Polizei macht nur Stichproben. Aber ich weiß, dass es keine Stichprobe ist.“ Der grüne Bundestagsabgeordnete Memet Kiliç erzählt diese Episode in dem Film „ID without colours“ von Riccardo Valsecchi.[1]
Dass sie und nur sie herausgepickt und kontrolliert werden, ist eine Alltagserfahrung, die dunkelhäutige oder „fremd“ aussehende Menschen immer wieder machen. Es ist eine erniedrigende Erfahrung, denn der unausgesprochene Begleittext zur Kontrolle lautet: „Egal, was in eurem Pass steht; egal, ob eure Papiere in Ordnung sind; egal, warum ihr hier seid und ob ihr seit Ewigkeiten hier lebt – ihr seht anders aus, ihr seid immer verdächtig und eigentlich gehört ihr nicht hierher.“ Die Reaktion der Betroffenen bewegt sich je nach Tagesform und individueller Disposition zwischen Angst, Resignation, Ärger und Wut. Die Hilflosigkeit ist umso größer, als die PolizistInnen bei der Kontrolle am längeren Hebel sitzen. Diskussionen mit den BeamtInnen taugen allenfalls dazu, diesen selbst, aber vor allem den Mitreisenden oder den PassantInnen die Diskriminierung vor Augen zu führen. Die Kontrolle kann jedoch nicht verweigert werden. Und vor allem kann die scheinbar harmlose Überprüfung der Papiere schnell in einen handfesten Konflikt, in eine Festnahme oder gar in eine Anzeige wegen Widerstandes oder Beleidigung ausarten.
Das musste auch ein schwarzer Architekturstudent (deutscher Staatsangehörigkeit) erleben, dessen Fall in den vergangenen Jahren für einiges Aufsehen gesorgt hat. Im Oktober 2010 kontrollierte ihn die Bundespolizei im Regionalzug von Kassel nach Frankfurt am Main. Ein Vergleich mit der NS-Zeit hatte die üblichen Folgen. Die Polizisten wähnten sich beleidigt und erstatteten Anzeige. Vor dem Amtsgericht Kassel waren sie im Juni 2011 zunächst erfolgreich; erst in der Sprungrevision vor dem hessischen Oberlandesgericht konnte im März 2012 eine Verurteilung abgewehrt werden.[2]
Die Klage des Studenten auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Kontrolle schmetterte das Verwaltungsgericht Koblenz Ende Februar 2012 ab. Die Identitätsfeststellung sei eine „nur geringfügige Grundrechtseinschränkung“ und sie sei außerdem durch den § 22 Abs. 1a des Bundespolizeigesetzes (BPolG) gedeckt. Der erlaubt der Bundespolizei auf Bahnhöfen und in Zügen das kurzfristige Anhalten, Befragen und die Überprüfung von Identitätsdokumenten, „soweit auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung“ anzunehmen sei, dass die betreffende Bahnstrecke zur „unerlaubten Einreise genutzt“ werde. Die Bundespolizei habe die Lageerkenntnisse hinsichtlich der Strecke Kassel-Frankfurt/M. hinreichend dargelegt. Dass einer der Beamten bereits im Strafverfahren gegen den Kontrollierten dargelegt hatte, dass die Hautfarbe für ihn durchaus ein Kriterium für die Auswahl der zu überprüfenden Personen sei, spielte für das Verwaltungsgericht keine Rolle.
Vor dem Oberverwaltungsgericht sah die Sache dann anders aus: Nach der mündlichen Verhandlung am 29. Oktober 2012 stellte dieses in seinem Beschluss fest, dass die Kontrolle diskriminierend und damit rechtswidrig war. Der Fall war nun – juristisch – ad acta gelegt, denn die Bundespolizei hatte sich entschuldigt. Für sie handelte es sich um einen Einzelfall, wie deren Pressesprecher festhielt: „Eine Sachentscheidung hat das Gericht nicht getroffen, vielmehr wurde der Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt.“[3]
Die politische Diskussion steht allerdings erst am Anfang. Geht es nach der Polizei und ihrer politischen Führung, dann soll sie darüber auch nicht herauskommen: Die Gewerkschaft der Polizei (GdP), konkret ihr Bezirksvorsitzender für die Bundespolizei, kommentierte den OVG-Beschluss folgendermaßen: „Ein Mensch darf nie ausschließlich wegen seiner Hautfarbe kontrolliert werden – und das macht die Bundespolizei grundsätzlich auch nicht.“[4] Anders ausgedrückt: Racial Profiling ist eine verfassungswidrige Diskriminierung; und weil diese Praxis verfassungswidrig ist, kann es sie auch nicht geben, denn die PolizistInnen halten sich ans Grundgesetz. Das war bereits die Linie, die die Bundesregierung in ihren Antworten auf zwei dem OVG-Beschluss vorausgehende Anfragen von Bündnis 90/Die Grünen vertreten hatte. 2011 erklärte sie: „Eine unterschiedliche Behandlung von Personen in Abhängigkeit von Rasse, Herkunft und Religion ist im Bundespolizeigesetz … schon allein deshalb nicht enthalten, weil solche Methoden unvereinbar mit dem Verständnis von Polizeiarbeit in einem demokratischen Rechtsstaat sind.“ Und 2012: Die Kriterien Rasse, Herkunft und Religion spielten bei den Kontrollen keine Rolle. „Stattdessen werden polizeiliche Erfahrungswerte und aktuelle Lageerkenntnisse herangezogen. Somit kann grundsätzlich jeder Reisende Adressat dieser Maßnahmen sein.“ Zudem hätten rund 7.600 BPol-BeamtInnen seit 2008 an „zentralen und dienststelleninternen“ Fortbildungen zu „Menschenrechten, Grundrechten und Diskriminierungsverbot“ teilgenommen.[5]
„Polizeiliche Erfahrung“
Rassistische Diskriminierung ist aus diesem Blickwinkel nur vorstellbar als Ergebnis einer falschen individuellen Einstellung, die man – von Einzelfällen abgesehen – mit entsprechender Aus- und Fortbildung erfolgreich aus der Welt geschafft habe oder zumindest schaffen könne. Das Problem ist jedoch, dass es für diskriminierende Kontrollen einer rassistischen Einstellung der kontrollierenden PolizistInnen nicht bedarf. Sie resultieren vielmehr aus der Logik des Auftrags und der Befugnisse, die der Polizei sowohl per Gesetz als auch durch politische Vorgaben erteilt wurden.
Sie soll „anlass- und verdachtsunabhängige“ Kontrollen vornehmen. Seit einigen Jahren ist von „Lagebild-abhängigen“ Kontrollen die Rede, was in der Sache keinen Unterschied macht. Die Befugnisse zur Identitätsfeststellung waren der erste Bereich des Polizeirechts, an dem sich die Ablösung vom tradierten Begriff der konkreten Gefahr vollzog. Dieser begrenzte den Kreis der AdressatInnen polizeilicher Kontrollen zumindest theoretisch auf Störer, also auf die VerursacherInnen von Gefahren, oder auf Personen, die einer Straftat verdächtigt bzw. beschuldigt wurden. Praktisch standen bestimmte Gruppen der Bevölkerung (Prostituierte, „Landfahrer“, Obdachlose und selbstverständlich auch Fremde) schon immer unter besonderem Augenmerk der Polizei. Die seit den 70er Jahren eingeführten neuen Regelungen stellen jedoch die Logik des Verdachts und der Gefahr vollends auf den Kopf: An Kontrollstellen oder in bestimmten Räumen kann nun jede und jeder einer Identitätsfeststellung unterzogen werden. Der Verdacht oder die Störereigenschaft sind nicht mehr Voraussetzung des polizeilichen Eingriffs; im Gegenteil: erst die Überprüfung entscheidet darüber, ob die Betroffenen als verdächtig oder unverdächtig gelten.
Die „anlass- und verdachtsunabhängige Kontrolle“ kann zwar theoretisch jedeN treffen, praktisch findet jedoch eine doppelte Auswahl statt. Weil eine Überprüfung sämtlicher Reisender oder sämtlicher PassantInnen nicht möglich und auch für die Polizei nicht wünschenswert ist, müssen zum einen die PolizistInnen vor Ort ihre Kontrollobjekte aussuchen. Geradezu „natürlich“ geben dabei äußerliche Merkmale den Ausschlag. Die „Erfahrung“ der BeamtInnen konzentriert sich nicht auf die DurchschnittsbürgerInnen, denen Gesetzestreue und Ungefährlichkeit unterstellt wird, sondern auf diejenigen, die sich vom Durchschnitt abheben, die „sichtbaren Minderheiten“, die durch ihre Kleidung, ihr Auftreten oder eben ihre Hautfarbe auffallen.
Die zweite Auswahl treffen nicht die individuellen PolizistInnen, sondern die Einsatzleitungen oder Polizeiführungen. Sie entscheiden über den Ort der Kontrolle. Die Polizeigesetze bestimmen den Rahmen für diese Auswahl und die Zwecke der Identitätsfeststellung. Dazu gehört insbesondere die Kontrolle der (irregulären) Migration – mit der Konsequenz, dass geradezu automatisch auch jene ins Visier der Polizei geraten, die aufgrund ihrer Hautfarbe oder anderer äußerer Merkmale in dieses Raster fallen.
Das Bundespolizeigesetz erlaubt Identitätsfeststellungen einerseits „im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern“ (§ 23 Abs. 1 Nr. 3), andererseits in Zügen sowie auf Bahnhöfen und internationalen Flughäfen (§ 22 Abs. 1a) – beides mit dem Ziel „Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise“. Für die Auswahl des Ortes der Kontrolle sollen dabei „Lageerkenntnisse“ oder die „grenzpolizeiliche Erfahrung“ entscheidend sein, dass beispielsweise die betreffende Bahnstrecke „zur unerlaubten Einreise genutzt“ wird.
Eine ähnliche Orientierung auf die Suche nach „illegalen“ ImmigrantInnen prägt auch die Landespolizeigesetze: Hier finden sich einerseits ebenfalls Schleierfahndungsparagraphen, die verdachtsunabhängige Kontrollen im „Grenzgebiet“ sowie „in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs sowie auf Durchgangsstraßen“ zulassen – „zum Zwecke der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität“ oder ausdrücklich auch „zur Verhütung oder Unterbindung der unerlaubten Überschreitung der Landesgrenze oder des unerlaubten Aufenthalts“. Bayern war 1994 das erste Bundesland, das eine solche Bestimmung in sein Polizeiaufgabengesetz aufnahm (§ 13 Abs. 1 Nr. 5).
Andererseits erlauben die Landespolizeigesetze – in den westlichen Bundesländern seit den 80er Jahren – verdachtsunabhängige Kontrollen zudem an „gefährlichen Orten“. Ähnlich wie das Bundespolizeigesetz verweisen auch die Landesgesetze dabei auf die polizeiliche „Erfahrung“ oder auf „Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen …“ Bei den ausgewählten Straßen oder Plätzen soll es sich entweder um Treffpunkte von Straftätern oder Prostituierten handeln oder um Orte, an denen sich Personen treffen, die nicht über den „erforderlichen Aufenthaltstitel“ oder eine „ausländerrechtliche Duldung“ verfügen bzw. die „gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen“.[6]
Sieben Bundesländer haben in ihren Polizeigesetzen sowohl eine Schleierfahndungsregelung als auch den Verweis auf das Ausländerrecht verankert. In fünf Landespolizeigesetzen findet sich nur die aufenthaltsrechtliche Klausel, in zweien nur die Schleierfahndung. Nur Bremen und Sachsen-Anhalt verzichten auf beides.
Was polizeiliche Erfahrung und Lageerkenntnisse hergeben, zeigen exemplarisch die Ausführungen der Bundespolizei im Falle des schwarzen deutschen Studenten, die das VG Koblenz in seinem Urteil referiert: „Aus den Lagebildern der Bundespolizei sei erkennbar, dass sich die irregulären Migrationsströme in West-Ost- sowie in Nord-Süd-Richtung über das relevante Schienennetz in Hessen bewegten. Hierbei würden Regionalverbindungen bevorzugt, da dort mit einem geringeren Fahndungsdruck gerechnet werde.“ Als „örtlichen Kriminalitätsschwerpunkt für aufenthaltsrechtliche Delikte“ bezeichnet die Bundespolizei den „Raum in und um Gießen mit der dort befindlichen Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung“, der Frankfurter Flughafen sei das „Einfallstor“.[7] Anders ausgedrückt: die Bundespolizei geht systematisch auf Leute los, die sie für Asylsuchende hält. Für die steht mit der „Residenzpflicht“ auch eine reibungslos funktionierende Normfalle bereit.
Dennoch sind die Kontrollerfolge ziemlich mager: Im dritten Quartal 2010 führte die Bundespolizei auf der Strecke Kassel-Frankfurt 8.345 „Befragungen“ durch und stellte dabei 330 „Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz“ fest.[8] Nur gerade vier Prozent der Kontrollen waren also erfolgreich. „Man könnte sagen, dass in 96 Prozent der Fälle Unverdächtige von der Maßnahme betroffen waren“, kommentierte Rechtsanwalt Sven Adam, der den Studenten vertrat.[9]
„Traditionell nomadische Natur“
Racial Profiling bei verdachtsunabhängigen Kontrollen ist also nicht (nur) Ergebnis rassistischer Einstellungen der ausführenden PolizistInnen. Es ist vielmehr politisch gesetzt, dadurch dass die Polizei auch per Gesetz zum Instrument der Migrationskontrolle gemacht wird.
Racial Profiling findet aber nicht nur bei Identitätskontrollen statt. Immer wieder wurde und wird bestimmten ethnischen Minderheiten oder ImmigrantInnengruppen eine besondere Gefährlichkeit zugeschrieben. Die polizeiliche „Bekämpfung des Landfahrerunwesens“ – sprich: der Sinti und Roma – auch in der Bundesrepublik ist mittlerweile auch innerhalb der Polizei als dunkler Fleck in der eigenen Geschichte anerkannt. Noch bis 1982 führte man im Informationssystem INPOL ein Suchmerkmal „Zigeunername – ZN“. Und es brauchte weitere zwei Jahrzehnte, bis die versteckte Sondererfassung unter der Rubrik „Häufig wechselnder Aufenthaltsort – HWAO“ verschwand.[10]
Am historischen Beispiel hat die deutsche Polizei inzwischen begriffen, dass die strafrechtliche Verfolgung von einzelnen Mitgliedern einer ethnischen Minderheit nicht zu einer Sondererfassung und Sonderbehandlung dieser Gruppe führen darf. Dieses Wissen greift jedoch offenbar nicht, wenn es um neuere Formen der Kriminalität geht und es sich bei den Minderheiten um Eingewanderte handelt. Nicht nur die Bundesrepublik erlebt regelmäßig Kampagnen gegen „kriminelle Ausländer“, bei denen (rechts-)populistische Sicherheitspolitik und polizeiliche Lagebilder ein gefährliches Gemisch eingehen und durchaus habhafte Folgen für die Betroffenen haben können.
Das beginnt auf der lokalen Ebene, wo immer wieder Sondereinheiten gebildet werden, die sich mit Gruppen von MigrantInnen und „ihrer“ Kriminalität befassen: Die Polizeidirektion Leipzig bildete 1995 eine „Einsatzgruppe Innenstadt“, die Front machen sollte gegen Kfz-Delikte, Taschendiebstähle und die offene Drogenszene, die – so der Einsatzbefehl – „das Sicherheitsgefühl der Anwohner, Besucher und der in der Innenstadt ansässigen Geschäftsleute“ beeinträchtigte. „Bei den Tatverdächtigen handelt es sich vorrangig um Ausländer aus Nordafrika, dem südosteuropäischen und vorderasiatischen Raum.“[11] Berlin richtete 1997 eine „Ermittlungsgruppe Schwarzafrikaner“ ein, die für „Tätergruppierungen aus einem Teil Afrikas, hier vor allem der sogenannten Nigeria-Connection, der Kamerun-Connection und Zaire-Connection“ zuständig war und im Jahre 2000 ins Landeskriminalamt überführt wurde.[12]
Dass die großen Bedrohungen aus dem Ausland kommen und von AusländerInnen ausgehen, ist der Subtext, der auch immer wieder polizeilichen Lagebildern zugrunde liegt. Wie diese Konstruktion funktioniert, führt auch das Bundeskriminalamt vor. Der zentrale und mit Abstand längste Teil der Ausführungen in seinem Bundeslagebild zur Organisierten Kriminalität (OK) für 2011 bezieht sich auf die Zuordnung der OK-Gruppierungen zu Nationalitäten oder Herkunftsregionen. Die Begründung lautet: „Die Kenntnisse aus Ermittlungen, Auswertungen und Forschungen zu OK-Gruppierungen belegen, dass sich deren Angehörige oft aufgrund soziokultureller und sprachlicher Gemeinsamkeiten zusammenschließen.“ Die Zuordnung einer Gruppierung erfolge anhand der Staatsangehörigkeit der sie dominierenden Personen. Seitenweise liefert das BKA Statistiken und bunte Diagramme über Deutsch-, Türkisch-, Italienisch-, Vietnamesisch-, Albanisch- etc. dominierte Gruppen, ihr „durchschnittliches OK-Potenzial“, ihre Tätigkeitsfelder und die Zahl der Tatverdächtigen. Die Rede von den „sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten“ wird aber spätestens dann absurd, wenn im Lagebild selbst konstatiert wird, dass die Nationalität der Führungsfiguren einer Gruppe „nicht zwingend die Mehrheit innerhalb der Gruppierung darstellen“ müsse und man es zu 70,8 Prozent mit „heterogenen Täterstrukturen“ zu tun habe.[13]
Ähnliche Zuschreibungen finden sich auch auf EU-Ebene: „Die meisten Gefahren für die innere Sicherheit werden außerhalb der EU erzeugt“, proklamierten Frontex, Europol und Eurojust im Mai 2010 in einem gemeinsamen Bericht. „Afrika, Südasien, die ehemalige Sowjetunion und der westliche Balkan sind dabei von erheblicher Bedeutung. Organisierte Kriminalität und terroristische Gruppen sind in wachsendem Maße mobil, nutzen existierende Transport-Infrastrukturen und etablieren neue Routen, um die innere Sicherheit der EU zu durchbrechen.“[14] Im OK-Lagebild Europols von 2011 hatten sich die Bedrohungen geographisch verlagert: Neben nigerianischen und chinesischen Gruppen stellten nun „bulgarische und rumänische (zumeist ethnische Roma) … vermutlich die schlimmste Gefahr für die Gesellschaft als Ganze dar. Organisierte kriminelle Roma-Gruppen sind extrem mobil und nutzen ihre traditionell nomadische Natur bestens.“[15] Die im Jahre 2010 von Belgien und Frankreich angestoßene Debatte um „mobile kriminelle Gruppen“ lieferte eine implizite Rechtfertigung für die Räumung von Roma-Lagern, aber auch für die stärkere Nutzung des Europol-Informationssystems als Instrument der Erfassung.
Solche ethnischen Zuschreibungen und Spekulationen über die „Natur“ bestimmter Nationalitäten mögen einfach nur beliebig und opportunistisch erscheinen. Dass sie sehr wohl gefährliche Auswirkungen haben können, zeigt spätestens der Blick auf die Ermittlungen zu den „Döner-Morden“, die sich im November 2011 als das Werk des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ entpuppten. Bis zur (Selbst-)Aufdeckung des NSU gingen die ErmittlerInnen und FallanalystInnen bis auf wenige Ausnahmen davon aus, es mit einer irgendwie gearteten OK-Gruppierung zu tun zu haben, in die die türkisch- und das griechisch-stämmige Opfer selbst verwickelt gewesen seien.
Der Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages zitiert ausführlich aus der Fallanalyse des Landeskriminalamts Baden-Württemberg von 2007: „Alle neun Opfer hatten Kontakt zu einer Gruppierung, die ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Aktivitäten bestreitet und innerhalb derer zudem ein rigider Ehrenkodex … besteht.“ Nach dieser „Organisationstheorie“ hätten die Opfer „im Laufe der Zusammenarbeit“ mit dieser mafiösen Gruppierung allesamt irgendeinen „Fehler“, eine Verletzung des „Ehrenkodexes“ begangen, den die Organisation mit einem „Todesurteil“ gerächt habe. Unter dem Titel „kultureller-ethischer Hintergrund“ vermerkten die Fall-AnalystInnen weiter: Der „die Gruppe prägende rigide Ehrenkodex“ spreche „eher für eine Gruppierung im ost- bzw. südosteuropäischen Raum (nicht europäisch westlicher Hintergrund).“[16]
[1] Trailer s. http://idwithoutcolors.com; der halbstündige Film wurde produziert von der Kampagne für die Opfer rassistischer Polizeigewalt und vom Migrationsrat Berlin-Brandenburg. Die DVD kann beim Migrationsrat, Oranienstr. 34, 10999 Berlin bestellt werden. Mehr zu den Initiativen gegen Racial Profiling unter „Aus dem Netz“ auf S. 103 ff.
[2] sämtliche Dokumente zum Fall auf der Homepage von Rechtsanwalt Sven Adam, www.anwaltskanzlei-adam.de/index.php?sonderseite-vg-koblenz-dokumente
[3] telepolis v. 1.11.2012
[4] Frankfurter Rundschau v. 30.10.2012; für Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) war der Beschluss eine Bestätigung für die „schöngeistige Rechtspflege“ der Gerichte, die sich nicht an der Praxis ausrichte, ebd.
[5] BT-Drs. 17/10007 v. 14.6.2012 und zuvor 17/6778 v. 9.8.2011
[6] so die Formulierungen in § 21 Abs. 2 Nr. 1 Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz, ASOG Berlin bzw. § 26 Abs. 1 Nr. 2 Polizeigesetz Baden-Württemberg
[7] VG Koblenz: Urteil v. 28.2.2012; s. Fn. 2
[8] ebd.
[9] zit. n. telepolis v. 1.11.2012
[10] Stephan, A.: Umgang des BKA mit Minderheiten unter besonderer Berücksichtigung der Sinti und Roma, Vortrag v. 6.4.2011 im Rahmen des Projekts BKA-Historie, www.bka.de/nn_233244/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/BKAHistorie/110406VortragStephan,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/110406VortragStephan.pdf
[11] Auszug in Müller, R.: Pilotprojekt zur Videoüberwachung von Kriminalitätsschwerpunkten in der Leipziger Innenstadt, in: Die Polizei 1997, H. 3, S. 77-82 (78 f.)
[12] Antwort auf die Kleine Anfrage der Abg. Canan Bayram (B90/Die Grünen), Abgeordnetenhaus Berlin Drs. 13/791 v. 5.11.2009
[13] Bundeskriminalamt: Organisierte Kriminalität – Bundeslagebild, Wiesbaden 2012, S. 7, 17, 28; www.bka.de/nn_193360/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/OrganisierteKriminalitaet/organisierteKriminalitaet__node.html?__nnn=true
[14] Ratsdok. 9359/10 v. 7.5.2010, S. 7
[15] EU Organised Crime Threat Assessment 2011, Ratsdok. 8709/11 v. 6.4.2011, S. 12 f.
[16] BT-Drs. 17/14600 v. 22.8.2013, S. 576; weitere Beispiele finden sich im Sondervotum der Linksfraktion auf den S. 988-993.
Bibliographische Angaben: Busch, Heiner: Institutionalisierter Rassismus. Racial Profiling – nicht nur bei Kontrollen, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 104 (Dezember 2013), S. 3-11