Schlagwort-Archive: NSU

Die ungeklärte Rolle des Verfassungsschutzes beim Keupstraßen-Anschlag

Von Hendrik Puls

Vor 15 Jahren, am 9. Juni 2004, explodierte auf der Keupstraße in Köln-Mülheim eine mit 800 Zimmermannsnägeln gefüllte Bombe. Dreiundzwanzig Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass keine Todesopfer zu beklagen waren. Denn die vor einem gut besuchten Frisörsalon platzierte Bombe sollte töten: Im Umkreis vom mindestens 50 Metern um den Explosionsort bestand die konkrete Gefahr getötet oder lebensgefährlich verletzt zu werden. Dies stellte ein Sprengstoffsachverständiger später fest.[1] Auf der Straße hinterließ die Bombe eine Spur der Verwüstung. Bei keiner anderen NSU-Tat drängte sich aufgrund der Bomben- und Tatortswahl schon auf den ersten Blick ein rechtsterroristischer Hintergrund so stark auf wie bei dem Nagelbombenanschlag in der von türkischem Gewerbe geprägten Keupstraße. Die ungeklärte Rolle des Verfassungsschutzes beim Keupstraßen-Anschlag weiterlesen

Spuren der Reid-Methode: Erzwungene Geständnisse und institutioneller Rassismus

von Heike Kleffner

Anfang der Nullerjahre absolvierten über hundert bayerische KriminalbeamtInnen Fortbildungskurse in der aus den USA importierten Reid-Vernehmungsmethode. Deren Gefahren zeigen sich u.a. in den Ermittlungen zur NSU-Mordserie und im Fall der ermordeten neunjährigen Peggy K. aus Oberfranken.

Die auf die Angehörigen der neun migrantischen Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und Betroffenen der rassistischen Anschläge fokussierten Ermittlungen geraten in der medialen und parlamentarischen Aufarbeitung zunehmend in Vergessenheit. Auch in dem seit fünf Jahren andauernden Prozess vor dem Oberlandesgericht München gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten mussten NebenklagevertreterInnen hart darum kämpfen, dass die Ermittlungsführung überhaupt thematisiert werden konnte. Spuren der Reid-Methode: Erzwungene Geständnisse und institutioneller Rassismus weiterlesen

Die Krise nutzen: Zur Umsetzung der Empfehlungen des 1. NSU-Unter­suchungs­ausschusses des Bundestages

von Gerd Wiegel

Im dritten Teil der ARD-Trilogie zum NSU sagt der smarte junge Verfassungsschützer zum aufrechten Thüringer Ermittler: „Ich bin überzeugt, die Ämter werden gestärkt aus dieser Sache hervorgehen.“[1] Sicher, das ist Fiktion. Allerdings ist es durchaus wahrscheinlich, dass bereits im Winter 2011 und Frühjahr 2012 die Überzeugung im Sicherheitsapparat vorherrschte, man werde die Krise für sich zu nutzen wissen.

Viereinhalb Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU muss man jedenfalls feststellen, dass sich die Prognose des fiktiven Verfassungsschützers bewahrheitet hat. Die Ämter, die im Zentrum der Kritik standen und stehen – allen vorweg der Verfassungsschutz –, gehen deutlich gestärkt aus dem NSU-Skandal hervor. Dies gilt in jedem Fall für die materielle Ebene, d.h. die Frage von finanzieller Ausstattung und Ausweitung der Befugnisse. Beobachten lässt sich ein völliges Auseinanderfallen von öffentlichem Ansehen des Verfassungsschutzes und dem realen Einflussgewinn des Bundesamtes bei gleichzeitigem finanziellen und personellen Aufwuchs. Nicht nur die erwähnte ARD-Trilogie, sondern auch die zahlreichen Dokumentationen, Hintergrundartikel und Recherchen zum NSU-Komplex zeigen, dass dem Verfassungsschutz in der Öffentlichkeit so ziemlich jedes Verbrechen in diesem Zusammenhang zugetraut wird – von der bewussten Verhinderung der Festnahme des Trios, über die Kenntnisse des Aufenthaltes der drei und wahlweise auch ihrer Taten bis hin zur Liquidierung von ZeugInnen, die zur Aussage bereit sind. Die hierfür gesammelten und präsentierten Indizien, die sich bisher jedoch nicht handfest beweisen lassen, perlen am Amt ohne jede sichtbare Folge ab. Die Krise nutzen: Zur Umsetzung der Empfehlungen des 1. NSU-Unter­suchungs­ausschusses des Bundestages weiterlesen

Der NSU-Prozess: Wahrheitsfindung mit angezogener Handbremse

Interview mit Rechtsanwältin Antonia von der Behrens

Antonia von der Behrens ist eine der NebenklagevertreterInnen im Prozess vor dem Oberlandesgericht München. „Die Hoffnung unserer MandantInnen, dass der Prozess eine weitere Aufklärung bringen würde, wurden enttäuscht“, sagt die Berliner Anwältin im Gespräch mit Martin Beck und Heiner Busch.

Ende Mai 2016 wird der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Unterstützer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ bei 286 Hauptverhandlungstagen angekommen sein. Mit einem Abschluss wird im Herbst dieses Jahres gerechnet. Sicher sei das aber nicht, sagt Antonia von der Behrens. Das Gericht mache keine Ansagen, was aus seiner Sicht an Beweisaufnahmen noch offen ist. Der NSU-Prozess: Wahrheitsfindung mit angezogener Handbremse weiterlesen

Staatsräson versus Aufklärung: Der 2. Bundestags-Untersuchungsausschuss zum NSU

von Heike Kleffner

Seit November 2015 tagt der zweite Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex im Bundestag. Die Erwartungen und die Fülle der Themen, mit denen sich das Gremium befassen sollte, waren und sind hoch. Denn im Mittelpunkt der offenen Fragen steht das Bundesamt für Verfassungsschutz.

Die mediale und öffentliche Anteilnahme an der Arbeit der acht Abgeordneten unter dem Vorsitz von Clemens Binninger (CDU) und seiner Stellvertreterin Susann Rüthrich (SPD) ist bislang weitgehend ausgeblieben – ganz im Gegensatz zum ersten NSU-Untersuchungsaus­schuss des Bundestages, dessen Arbeit von Anfang an Gegenstand intensiver politischer, medialer und öffentlicher Debatten war.

Dabei zweifelt kaum jemand an der Notwendigkeit eines zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Der Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten vor dem Oberlandesgericht (OLG) München läuft zwar seit nunmehr drei Jahren und ist inzwischen weit fortgeschritten. Fünf parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUA) im Bund und in den Ländern sind abgeschlossen, und derzeit laufen sechs weitere.[1] Dennoch fehlen noch immer schlüssige Antworten auf die zentralen Fragen im NSU-Komplex: Staatsräson versus Aufklärung: Der 2. Bundestags-Untersuchungsausschuss zum NSU weiterlesen

Der V-Mann Johann H.: Eine Spur führte zum Verfassungsschutz-Spitzel

von Kim Finke (LOTTA Magazin)

Mehr als zwei Jahrzehnte stand Johann H. auf der Gehaltsliste des Staates und mischte in zahlreichen Neonazi-Gruppen mit, teils in führender Position. Im Februar 2012 fiel dem Bundesamt für Verfassungsschutz seine Ähnlichkeit mit dem Phantombild des Bombenlegers aus der Kölner Probsteigasse auf.

Am 19. Januar 2001 war dort eine mit Schwarzpulver gefüllte Bombe explodiert, nachdem die Tochter der Inhaberfamilie eines Lebensmittelgeschäfts den Deckel einer im Laden zurückgelassenen Dose angehoben hatte. Die junge Frau wurde schwer verletzt. Wer die Sprengfalle in dem Laden deponierte, konnte mehr als zehn Jahre lang nicht ermittelt werden. Für die Kölner Polizei kam ein rassistisches Tatmotiv damals nicht in Betracht. Ebenso wenig wurden frühere gegen ausländische Familien gerichtete Sprengstoffanschläge in Köln in die Ermittlungen einbezogen – wie die am 22. Dezember 1992 vor der Wohnungstür einer türkischen Familie in Köln-Ehrenfeld deponierte Sprengfalle oder die beiden in Werkzeugen und Haushaltsgeräten versteckten TNT-Bomben im Frühjahr 1993.[1] Die Hintergründe des Probsteigassen-Anschlags blieben bis November 2011 unbekannt, erst dann bekannte sich der NSU in seinem „Paulchen-Panther“-Video zu der Tat. Zwei Monate später geriet der V-Mann Johann H. ins Visier. Ein Untersuchungsaus­schuss (PUA) des nordrhein-westfälischen Landtags versucht seit Sommer letzten Jahres die Hintergründe des Anschlags und die mögliche Beteiligung lokaler HelferInnen aufzuklären. Der V-Mann Johann H.: Eine Spur führte zum Verfassungsschutz-Spitzel weiterlesen

Gestärkt nach dem NSU-Skandal: BfV erhält mehr Kompetenzen

von Martina Kant

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte einen erheblichen Anteil am Skandal um den Nationalsozialistischen Untergrund. Nun soll ihm die Aufarbeitung des Skandals insbesondere eine gewichtigere Rolle im „Verfassungsschutzverbund“ bescheren.

Wegen der Affäre um die Vernichtung von V-Mann-Akten war BfVPräsident Heinz Fromm am 31. Juli 2012 auf eigenen Wunsch in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Nur fünf Wochen später, am 3. September, gab sein Nachfolger Hans-Georg Maaßen den Startschuss für eine „Reform“ des Amtes. Man hielt es offenbar für unnötig, die Ergebnisse der gemeinsam von Innenministerkonferenz (IMK) und Bundesinnenministerium (BMI) eingerichteten Bund-Länder-Kommission Rechtsterrorismus sowie der NSU-Untersuchungsausschüsse in verschiedenen Parlamenten abzuwarten. Eine innerhalb des BfV gebildete und beim Vizepräsidenten als „Gesamtprojektleiter“ angesiedelte Projektgruppe begann mit der Konzeption des Reformprozesses. Am 1. Februar 2013 billigte das BMI das Vorhaben.[1] Noch im selben Monat startete die Umsetzung. Dabei zeigt sich mittlerweile, dass sich die Länder an neuralgischen Punkten, die ihre eigenen Kompetenzen und die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt betreffen, den Vorschlägen des BMI und BfV widersetzen. Neben einer Reform „für den Verfassungsschutzverbund“ sieht das BfV-Konzept auch die interne Reform des Bundesamtes vor. Dabei gehe es nicht allein darum, „Lehren aus dem NSU-Komplex inkl. Aktenvernichtung“ zu ziehen, sondern um eine „zukunftssichere Neuausrichtung des Amtes“ und darum, „verlorengegangenes Vertrauen zurück(zu)gewinnen,“ so das BfV.[2] Gestärkt nach dem NSU-Skandal: BfV erhält mehr Kompetenzen weiterlesen

Wer schützt die Innere Sicherheit? Der Untersuchungsausschuss und die Geheimdienste

NSU und NSA: zwei Abkürzungen zum verwechseln, zwei „Skandale“. In dem einen geht es um Morde, die wie plötzlich (un-)aufgeklärt an diversen Orten ruchbar wurden. In dem anderen um Staaten- und personeneindringliche Informationen, geliefert durch einen gerade noch geheimdienstlich tätigen Mann, der zur global schrillenden Pfeife gegriffen hat. Wer also schützt die Innere Sicherheit und wer schützt uns vor den „Beschützern“?

NSU und NSA haben nichts miteinander zu tun. Oder doch? Nichts, insofern im Falle des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und seiner TäterInnen bundesdeutsche Innenpolitik und handelnd explodierende Vorurteile gegen Andere und Andersartigkeiten kundgeworden sind. Sie haben sich entwickelt und sind mörderisch geworden mitten in einem Land, das sich wenigstens halboffiziell als „Bündnis der Toleranz“ wähnt. Seit 1950 rühmt es sich seiner in Bund und Ländern offen und geheim tätigen Ämter für Verfassungsschutz, die „sichere“ und „unsichere“ Bürger, Vereine und Parteien an Hand des 1952 und 1956 vom Bundesverfassungsgericht gekerbten Maßstabs der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ sortieren. Wer schützt die Innere Sicherheit? Der Untersuchungsausschuss und die Geheimdienste weiterlesen

Geheimdienste besser kontrollieren? Zwischen Illusionen und bewusster Täuschung

Dass angesichts des NSU die Polizeien und die Geheimdienste in Deutschland versagt haben, ist offenkundig. Die Dienste, deren Aufgabe es sein soll, gegen die Verfassung gerichtete Bestrebungen frühzeitig zu entdecken, haben vom NSU keine Ahnung gehabt. Gleichzeitig haben sich diverse V-Leute der Ämter um Umfeld des NSU bewegt. Weil all dies auch den politischen Kontrolleuren der Dienste nicht auffiel, ist der Schluss naheliegend, dass die Kontrolle unzureichend ist und alsbald verbessert werden muss.

Auf die Vorschläge des NSU-Untersuchungsausschusses nimmt der Koalitionsvertrag der erneuten Großen Koaliation positiv Bezug. Sofern die Bundesebene betroffen sei, mache man sich die Empfehlungen „für die Bereiche Polizei, Justiz und Verfassungsschutz, zur parlamentarischen Kontrolle der Tätigkeit der Nachrichtendienste sowie zur Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ „zu Eigen“. Die Koalition wolle sie „zügig umsetzen“. Wenig später heißt es: Geheimdienste besser kontrollieren? Zwischen Illusionen und bewusster Täuschung weiterlesen

Der blinde Fleck: Der polizeiliche Staatsschutz und die rechte Gewalt

von Mark Holzberger

Warum tut sich der polizeiliche Staatsschutz so schwer, rechte Gewalt sachgerecht zu erkennen und zu bewerten?

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum NSU (PUA-NSU) kam in seinem Abschlussbericht zu einem nieder schmetternden Ergebnis: Nicht nur die Kriminalpolizei, die die Mordserie des NSU an ImmigrantInnen untersuchte, hatte diese als Racheakte einer ominösen kriminellen Organisation bewertet und damit die Opfer für ihren eigenen Tod mitverantwortlich gemacht. „Nach den Feststellungen des Ausschusses wurde die Gefahr des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus auch vom polizeilichen Staatsschutz völlig falsch eingeschätzt. Die polizeiliche Analyse rechtsextremistischer Gewalt war fehlerhaft, das Lagebild dadurch unzutreffend.“[1] Der blinde Fleck: Der polizeiliche Staatsschutz und die rechte Gewalt weiterlesen