Literatur

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Was macht den modernen Staat aus? Nach der klassischen Definition ist es die Einheit von Staatsvolk, -territorium und -macht. Bekanntlich erfüllt die Europäische Union diese Bedingungen nach wie vor nur bedingt: Die öffentliche Gewalt ist zwischen ihr und den Mitgliedstaaten geteilt, die Völker verstehen sich noch immer mehr als Deutsche, Franzosen, Briten etc. denn als Europäer, nur mit den Grenzen, da versucht Europa seit einigen Jahren ernst zu machen. Allerdings nur in dem Maße, wie es den eigenen Vorteilen dient. Waren und Dienst­leistungen – Stichwort TTIP – sollen ungehindert „migrieren“ können; selbst für Arbeitskräfte, sofern volkswirtschaftlicher Bedarf besteht – Stichwort „Blue Card“ –, werden die Grenzen staatsoffiziell passierbar. Wer jedoch nicht in das Nützlichkeitskalkül der Union passt, wer den „Wohlstand“ zu bedrohen scheint, wer nur im Wortsinne seine Haut retten will, für den oder die wird das EU-Grenzregime zu einer tödlichen Bedrohung.

Amnesty International: Lives Adrift. Refugees and Migrants in Peril in the Central Mediterranean, London 2014, www.amnesty.org/en/documents/EUR05/006/2014/en

Amnesty International: Europe’s Borderlands. Violation against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary. London 2015, www.amnesty.org/en/documents/eur70/1579/2015/en

Die Veröffentlichung vom September 2014 steht unter dem Eindruck der Katastrophe vor Lampedusa. Sie beschäftigt sich ausführlich mit den seerechtlichen Zuständigkeit und Verpflichtungen und berichtet von der italienischen Hilfsoperation Mare Nostrum. Amnesty formuliert Empfehlungen an Italien und Malta, vor allem aber an die EU und dabei an erster Stelle: Schaffung von sicheren regulären Wegen, Zugang zu Schutz in der Union zu erlangen. Der Veröffentlichung von 2015 liegen Reisen und Interviews (mit 100 Flüchtlingen) in den drei genannten Ländern zugrunde. Nach den Feststellungen von Amnesty wird der Zugang zum Asyl in allen drei Staaten erschwert. In unterschiedlichem Ausmaß werden die Flüchtlinge interniert, teilweise unter unmenschlichen Bedingungen und immer der Gefahr der Misshandlung ausgesetzt. Dies gelte auch bei Rücküberstellungen, gleich ob sie durch Abkommen gedeckt oder als rechtswidrige pushbacks stattfinden. Neben der dringenden Aufforderung an die drei Staaten, Flüchtlingen Schutz zu gewähren, sieht Amnesty die EU in der Pflicht, denn ihre Abschottung mache den Balkan zur quasi natürlichen Fluchtroute. Nötig sei deshalb ein gerechtes, Rechte gewährleistendes Migrations-Managementsystem der Union.

Human Rights Council: Banking on mobility over a generation: follow up to the regional study on the management of the external borders of the European Union and its impact on the human rights of migrants, New York 2015. United Nations General Assembly A/HRC/29/36, www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/
RegularSessions/Session29/documents/A_HRC_29_36_ENG.doc

Der jüngste Bericht des Sonderberichterstatters der UN für die Menschenrechte von MigrantInnen kritisiert die Migrationspolitik der Union auf nahezu allen Ebenen. Angesichts des materiellen Wohlstands und der offiziellen Anerkennung der Menschenrechte, müssten die Toten im Mit­telmeer und die Verletzung der Rechte von MigrantInnen „als Folge des kol­lektiven politischen Willens und bewusster politischer Entscheidungen“ betrachtet werden. Dementsprechend ruft der Bericht zu einem grundsätzlichen Wandel europäischer Migrationspolitik auf: von der In­tensivierung akuter Hilfsmaßnahmen über die Gewährleistung von Rechts­ansprüchen für alle Menschen, der Abschaffung des Dublin-Sys­tems und der Gewährung von Freizügigkeit bis zur Entwicklung einer mittelfristigen kohärenten, menschenrechtliche Standards respektierenden Strategie.

Gerson, Oliver: Frontex und die europäischen Außengrenzen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2014, H. 25, S. 43-49

Der Artikel stellt zunächst die Europäische Grenzschutzagentur kurz vor (Etat, Personal, ausgewählte Operationen). Ihr Verhältnis zu Europol wird aufgezeigt, wobei – da das Außengrenzregime zum vergemeinschafteten Bereich gehört – ihr mehr Einfluss als Europol attestiert wird. Nach der Wiedergabe der Kritik an Frontex (Beteiligung an pushbacks, anfänglich Abdrängen von Booten…) werden die Rechtsgrundlagen referiert, an die sich die Agentur eigentlich halten müsste. „Zumindest theoretisch“, so der Autor, bestehe „ein lückenloser Schutzraum für alle Menschen an allen Orten“. Praktisch müsse es darum gehen, „die Vollzugsbehörden strenger an bestehende Menschenrechtsstandards (zu) binden.“ Die enge Zusammenarbeit an den Außengrenzen sei jedoch „zwingend notwendig, um die Sicherheit auf dem Kontinent zu gewährleisten.“

Rijpma, Jorrit; Vermeulen, Mathias: EUROSUR. Saving lives or building borders?, in: European Security 2015, No. 3, pp. 454-472

2003 behauptete die EU-Kommission, EUROSUR leiste einen wichtigen Beitrag, um das Leben von Flüchtlingen zu retten. Wer das nicht bereits damals als eine offenkundige rhetorische Vertuschung seiner wirklichen Bestimmung erkannte, der/dem sei die Lektüre dieses Artikels empfohlen. Bereits in der EUROSUR-Vorgeschichte wird klar, dass die Rettung von Menschenleben allenfalls ein Nebeneffekt des Bemühens war und ist, die europäischen Außengrenzen migrationsfest zu machen.

Peers, Steve: The EU’s Planned War on Smugglers, London 2015 (Statewatch Analysis 268), http://www.statewatch.org/analyses/no-268-eu-war-on-smugglers.pdf

Ein Beispiel für die Militarisierung der Flüchtlingsabwehr. Der kurze Text kritisiert die Pläne der EU, mit militärischen Mitteln gegen „Schleuser” vorzugehen, indem letztlich deren Schiffe präventiv versenkt werden.

Bigo, Didier: The (in)securitization practices of the three universes of EU border control: Military/Navy – border guards/police – database analysts, in: Security Dialoge 2014, No. 3, pp. 209-225

Fußend auf Interviews mit den Akteuren der Grenzsicherung unterscheidet Bigo drei unterschiedliche Orientierungen („dispositions”): die militärische, die polizeiliche und „datenbezogene“. Während die Militärs (selbstredend, dass man sich nicht im Krieg gegen Flüchtlinge sieht) die Sicherung des Territoriums und die „Polizisten“ die Abwehr von Sicherheitsgefahren als Aufgabe des Grenzschutzes ansehen, verschwindet die Grenze als geografischer Ort für die IT-orientierten Kontrolleure. Überwachung, Datensammlung, -vernetzung und -auswertung erlauben zwischen generell auszuschließenden, unverdächtigen und zu überwachenden Individuen zu unterscheiden. Die „Grenze“ wird damit flexibel und ubiquitär. Freilich bleibt offen, wie weit diese Selbststilisierungen die Praxis bestimmen und wie die unterschiedlichen Dispositionen zusammenwirken. Denn gegenseitig ausschließen tun sie sich nicht.

Aus dem Netz

http://w2eu.info

„Welcome to Europe“ liefert in vier Sprachen (Englisch, Französisch, Ara­bisch und Farsi) „unabhängige Informationen für Flüchtlinge und Migranten, die auf dem Weg nach Europa sind“. Die Seite versteht sich als Service- und Hilfsangebot. Sie bietet Zugang über verschiedene Themen, von „Contact“ (Adressen von Flüchtlingsgruppen und Hilfseinrichtungen) bis „Work“ (rechtliche und faktische Arbeitsmöglichkeiten). Angaben über 33 Länder sind abrufbar, von Island bis zur Ukraine und von Finnland bis Tunesien. Auch wenn Art und Umfang der Informationen zwischen den Ländern erheblich variieren und nicht immer aktuell sind, listet w2eu.info nicht nur viele Anlaufstellen für MigrantInnen auf, sondern vermittelt zugleich wichtige Informationen über das, was Flüchtlinge in den einzelnen Ländern erwartet.

www.migrantsatsea.org

Herausgegeben von dem kalifornischen Rechtsprofessor Niels W. Frenzen liefert dieser Blog seit 2009 Informationen über die Migration über das Mittelmeer nach Europa. Die Einträge reichen von Zusammenfassungen von Artikeln aus der New York Times über die jüngsten Wiki­leaks-Veröffentlichungen bis zu den Beratungen des Sicherheitsrats. Die Seite kann nach Monatseinträgen und im Volltext durchsucht werden. Die Meldungen sind in der Regel mit den Bezugsdokumenten verlinkt.

www.migrantreport.org

Die Seite wird von einer maltesischen NGO unterstützt. Die HerausgeberInnen wollen durch die Sammlung, Überprüfung und Veröffentlichung von Informationen ExpertInnen und EntscheidungsträgerInnen in die Lage versetzen, schnellen Zugang zu kritischen Daten zu erlangen. Dabei ist der Seitenaufbau wenig transparent, weil die Zuordnung zu Kategorien wie „Media Watch“ oder „Security Beat“ nicht nachvollziehbar ist. Die gesamte Seite kann im Volltext durchsucht werden. Exemplarische Recherchen zur inhaltlichen Ausrichtung des Blogs ergaben, für die Suche „Eurodac“ nur einen, nach „Frontex“ nur zwölf Treffer.

www.fortesseurope.blogspot.de

Dieser von Gabriele de Grande gegründete Blog zur „Festung Europa“ kommt aus Italien (nur die Startseite wird in Deutsch angeboten). Der letzte Eintrag stammt vom Oktober 2013, in dem auf Presseberichte verwiesen wird, nach denen seit 1988 19.144 Personen an den europäischen Grenzen bzw. auf dem Weg nach Europa gestorben sind. Die Nachrichten beziehen sich schwerpunktmäßig auf Italien und Libyen.

www.themigrantsfiles.com

„The migrants‘ files“ ist ein Kooperationsprojekt von JournalistInnen aus über 15 Ländern. Neben einem viermal jährlich erscheinenden Newsletter (der über die Seite abonniert, aber nicht gelesen werden kann), werden zwei Projekte dargestellt: Unter „Counting the dead“ werden die Toten an den europäischen Grenzen aufgelistet. Eine nordafrikanisch-europäische Landkarte zeigt in großen und kleinen blutroten Kreisen, wo mehr oder weniger Tote gefunden wurden. Ein Klick auf den Punkt zeigt die Zahl der Toten. In eigentlichen Beitrag wird das Zählverfahren dargestellt und auf eine Tabelle verwiesen, in der Einzelheiten zu den Fällen aufgelistet sind: von der Zahl der Toten über deren Fundort bis zur Quelle der Nachricht.

Das zweite Projekt „The money trails“ untersucht, was die EU sich die Sicherung ihrer Grenzen kosten lässt. In einer ersten Datensammlung sind Projekte aufgelistet, die im Rahmen der EU-Forschungs-förderung finanziert wurden. Das reicht von der Entwicklung von Drohnen zur Identifikation von Flüchtlingen in Kraftfahrzeugen (3,5 Millionen Euro) bis zu Robotern zur Kontrolle der Landgrenzen (13 Millionen Euro) – insgesamt eine Summe von 225 Millionen Euro in den Jahren von 2002 bis 2013.

Ähnliche Aufschlüsselungen folgen für die anderen Posten. In der Gesamtbilanz entfällt der größte Ausgabeposten auf Abschiebungen (11,3 Milliarden Euro), gefolgt von 670 Millionen für Frontex; zu den „kleineren“ Ausgaben zählt die Grenzsicherung von Melilla (47 Millionen), die Lager in Libyen und der Ukraine (46 Millionen) oder die 75 Millionen für die „technische Unterstützung“, die einigen nordafrikanischen Ländern (von Ägypten bis Mauretanien) zur Flüchtlingskontrolle gezahlt wurden.

www.statewatch.org

Unter der Überschrift „EU: MED-CRISIS“ veröffentlicht Statewatch in seinen „News online“ dauerhaft Nachrichten zur europäischen Migrationskontrolle und zur Diskussion über Flüchtlingspolitik (mit vergleichsweise vielen Hinweisen auf Deutschland). Wegen der Vielzahl der kurz annotierten und verlinkten Informationen ist die Rubrik wenig übersichtlich. Sinnvoller ist, sich in der E-Mail-Liste anzumelden, um nahezu täglich benachrichtigt zu werden. So erhält man – um nur einige Beispiele zu nennen – Zugang zu einer kriminologischen Analyse der Flüchtlingslager in Griechenland (auf Englisch in einer italienischen Zeitschrift erschienen), zu einem Bericht für das britische Unterhaus „Migration pressures in Europe“, zu den jüngsten Berichten von Frontex, den Beratungen der EU-Gremien oder auch den Links zu der Wikileaks-Veröffentlichung vom Mai 2015, in der Pläne der EU-Militärs offenbart wurden, „Schleusernetzwerke“ im südlichen zentralen Mittelmeer mit militärischen Mitteln zu zerstören.

www.proasyl.de

Auf der Homepage von Pro Asyl finden sich unter Themen/EU-Politik viele Berichte über die Situation an den südlichen Außengrenzen der Union (allerdings nur bis August 2014; jüngere Artikel finden sich unter „News“). Eine spezielle Veröffentlichung zu den Außengrenzen – im Volltext auf der Seite – ist schon etwas älter: Zum „Tag des Flüchtlings 2011“ erschien „Mauern verletzen Flüchtlingsrechte“. Die kurzen Beiträge der Broschüre beleuchten die Situation der Flüchtlinge in der südlichen und östlichen Peripherie der Union: Italien, Griechenland, Türkei, Ukraine, Serbien. Dass die Politik der Abschottung gegenüber Flüchtlingen ein „moralischer Bankrott“ war und ist, war damals offenkundig. Angesichts der 2015 deutlich gestiegenen Zahl der Flüchtlinge muss man heute feststellen, dass sie auch ihren faktischen Bankrott erlebt.

www.ffm-online.org

www.borderline-europe.de

Beide Seiten liefern aktuelle Meldungen zur Lage der Flüchtlinge an den Außengrenzen, aber nur indirekte Informationen über das staatliche Grenzregime.

Sonstige Neuerscheinungen

Narr, Wolf-Dieter: Niemands-Herrschaft. Eine Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen. Herausgegeben von Uta v. Winterfeld, Hamburg (VSA: Verlag) 2015, 316 S., 26,80 EUR

Keine leichte Lektüre. Kein Text zum schnellen Überfliegen. Auch keiner, der sich explizit mit der Polizei und den Diensten beschäftigt. Gleichwohl: Über 300 dicht bedruckte Seiten, die den Raum auszuleuchten versuchen, in denen (auch) die Apparate der Inneren Sicherheit zuhause sind. Genauer: Einen Raum, ohne dessen Wahrnehmung jene Apparate und das, was sie tun, nicht verstanden werden können. „Niemands-Herrschaft“ – von Hannah Arendt übernommen, Bezug nehmend auf den listenreichen Odysseus – meint das Gegenteil eines vielleicht naheliegenden Missverständnisses: keine Herrschaft. Vielmehr resultiert der Titel, so der Autor, aus der Schwierigkeit, „ein passendes Wort zu finden, das die Omnipräsenz von Herrschaftlichem annähernd erfasste“ (S. 290).

Wenn der Text wenig später davon spricht, er habe lediglich „ein nicht greifbares Unding umkreist“, so ist das gleichzeitig zutreffend und doch ein wenig tiefgestapelt. Zutreffend ist die Selbstbeschreibung, weil die zehn Kapitel des Buches und die beiden von der Herausgeberin eingestreuten Intermezzi in der Tat einer kreisenden Bewegung ähneln. Dazu mag der Umstand beitragen, dass der Ursprung des Buches in Wolf-Dieter Narrs Vorlesungen aus dem Jahr 1989 liegt, die er mit Unterstützung der Herausgeberin 2013/14 überarbeitete, aktualisierte und erweiterte. Die in immer wieder neuen Anläufen unternommene Annäherung an „Herrschaft“ ist aber mehr noch dem Gegenstand selbst geschuldet. Ihrer Vielschichtigkeit, ihrer Totalität (ein Begriff, der im Buch nicht auftaucht) kann man nur durch ein Verfahren gerecht werden, in dem sich ihr aus verschiedenen Perspektiven genähert wird.

Unmöglich, in einer kurzen Besprechung den Inhalt des Buches anzugeben. In den ersten drei Kapiteln werden die Kriterien einer kritischen politischen Theorie entwickelt. Das vierte beschäftigte sich mit den Elementen und der Bedeutung einer „Herrschaftstheorie“. Kapitel fünf thematisiert den Staat, im sechsten werden „Instrumente der Herrschaft“ analysiert, im siebten (Welt-)Markt und Politik betrachtet, das achte betreibt „Herrschaftspsychologie“, im neunten wird die „(Liberale) Demokratie als Herrschaftsform“ thematisiert, und im Schlusskapitel werden einige Elemente von Herrschaft (nochmals) benannt: Bürokratie und Sachzwang, Globalisierung und Individualisierung, Besitzindividualismus und Indolenz – bevor dann fast ganz zum Ende hin doch noch ein „An-archischer Ausblick“ gewagt wird.

Das Material, aus dem das Buch schöpft, ist reichhaltig und weit gestreut: Weber, Marx oder Habermas, Adorno, Foucault, Bourdieu – um nur wenige der Zitierten zu nennen; Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit, Kolonialismus, Faschismus – Herrschaft wird in Kontinuität und Wandel untersucht; Soziologie, Anthropologie, Ethnologie, Rechtswissenschaft oder politische Theorie – Disziplinen und ihre Grenzen werden in diesem Text bewusst ignoriert. Der kreisenden Annäherung an den Gegenstand entspricht, dass keineswegs lehrbuchartig definiert würde, was Herrschaft denn ausmache. Auf Seite 116 (!) findet sich eine Annäherung: „Überall dort, wo Ungleichheit institutionalisiert wird, überall dort, wo Menschen über Menschen, und sei’s auf dem ‚Umweg‘ über materielle und symbolische Mittel auf einige Dauer bestimmen, sind Elemente von Herrschaft zu vermuten.“

Einige Grundkonstellationen des Herrschaftsproblems durchziehen das Buch: Zum einen gilt dies für die Beziehungen von kapitalistischer Ökonomie und Staat: Zwei Einheiten, einerseits selbständig, nach eigenen Regeln funktionierend, andererseits lebenswichtig voneinander abhängig. Zum anderen die Dichotomie zwischen dem vermeintlich Privaten und dem Öffentlichen: Die Entpolitisierung des Privaten wird begleitet von der Privatisierung des Öffentlichen. Und schließlich die anthropologischen Setzungen seit Hobbes und Kant, die Ausdruck und Basis besitzindividualistischer Ideologie samt ihrer ideologischen und habituellen Prägungen sind. Diese Topoi machen schnell deutlich, dass „Herrschaft“ eine aktuelle und weithin unverstandene Tatsache bleibt.

Konsequent, dass das Buch mehr Fragen aufwirft und sich einfachen Antworten verweigert. Das ist ein Versuch, sich der eigenen Verwendung in Herrschaftszusammenhängen zu entziehen. Denn auch der herrschaftliche Ge- und Missbrauch von Wissenschaft und Theorie werden kritisch reflektiert. Vielleicht ist die kritisch-fragende Haltung die einzig angemessene gegenüber der allgegenwärtigen Herrschaft des Niemands; eine Haltung, die zum „Widerständigen“ führt, „zu den vielen kleinen widerständigen Praktiken – und zum Blochschen utopischen Gedanken“, zu denen es den Autor und die Herausgeberin nach 316 Seiten Herrschaftsanalyse zieht. (alle: Norbert Pütter)

Glocke, Nicole; Winters, Peter Jochen: Im geheimen Krieg der Spionage. Hans-Georg Wieck (BND) und Markus Wolf (MfS). Zwei biografische Porträts, Essen (Mitteldeutscher Verlag) 2014, 544 S., 19,95 Euro

Machen wir es kurz: Irgendwie klingt der Buchtitel nicht nur falsch, er ist es auch. In einem Kampf miteinander liegen gegnerische Geheimdienste sicherlich – ein Krieg jedoch hat ganz andere Dimensionen. Auch die Wahl der Protagonisten ist alles andere als glücklich gewählt, denn deren jeweilige Amtszeit (Wieck: 1985-1990; Wolf: 1952-1986) überschneidet sich nur für wenige Monate. In solch kurzer Zeit lässt sich nicht allzu viel miteinander kämpfen. Die Auswahl ist denn auch allein darin begründet, dass die AutorInnen zu Beiden einen gewissen persönlicheren Kontakt gefunden hatten. Und so mögen die zwei Porträts jeweils für sich betrachtet für daran Interessierte einen gewissen Nährwert haben; einen darüber hinaus gehenden Erkenntnisgewinn liefern sie nicht. Letztlich somit ein Buch, das man nicht wirklich braucht.

 Peci, Irfan; Gunst, Johannes; Schröm, Oliver: Der Dschihadist. Terror made in Germany – Bericht aus einer dunklen Welt, München (Heyne Verlag) 2015, 400 S., 19,99 Euro

Als Kind serbischer Flüchtlinge kam Irfan Peci in die Bundesrepublik. Als Jugendlicher radikalisierte er sich zum Dschihadisten, lud als selbsternannter Chef der „Globalen Islamischen Medienfront“ (GIMF) Propaganda-Videos ins Internet und träumte vom Märtyrertod im Heiligen Krieg. Er geriet ins Visier der Polizei und landete schließlich im Knast. Um dort wieder heraus zu kommen, ließ er sich mit Hilfe seines Anwaltes und nicht ganz ohne behördlichen Druck vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zum V-Mann anwerben. Plötzlich waren seine Straftaten Makulatur, und Geld hatte er nun auch. Bis zu 3.000 Euro monatlich sollen es am Ende gewesen sein. Und auch das gefiel Pecis Ego – zumal auf der anderen Seite immer noch offene Strafverfahren lauerten.

In dem Buch erzählt Peci nun seine Geschichte, die von seinen Mit­autoren – zwei Journalisten – mit Hintergrundinformationen, reichlichen Quellenangaben und Dokumenten ergänzt werden. Und dabei kommen insbesondere das BfV und seine Methoden nicht besonders gut weg. Unterdessen haben Pecis Äußerungen ein juristisches Nachspiel gefunden, indem die Berliner Staatsanwaltschaft sowohl gegen ihn als auch seinen früheren V-Mann-Führer beim BfV ein Ermittlungsverfahren eröffnet hat. Es geht um den Vorwurf der Verdunkelung und Straf­vereitelung im Amt – und auch die Berliner Polizei steht dabei nicht gut da. Dabei handelt es sich um einen Vorfall aus dem Jahr 2010. In seinem Buch beschreibt Peci, wie er mit Freunden auf einem S-Bahnhof einen Mann angegriffen und „wie besessen“ auf den am Boden Liegenden eingetreten habe. Sein V-Mann-Führer habe den Fall dann weggebügelt.

Auf den ersten Blick wirkt das Buch mit seinen kurzseitigen Kapiteln zunächst nicht sonderlich attraktiv. Insbesondere bleiben etwa die journalistischen Rückblenden auf frühere Verfassungsschutz-Skandale wie etwa das sogenannte „Celler Loch“ unverständlich – sie haben mit dem Dschihadismus wahrlich nichts zu tun. Doch abgesehen von solchen Abseitigkeiten täuscht der erste Eindruck und löst sich spätestens nach den ersten 100 Seiten gänzlich auf. Das Buch hat doch etwas zu sagen.

Mohagheghi, Hamideh (Hg.): Frauen für den Dschihad. Das Manifest der IS-Kämpferinnen, Freiburg (Herder Verlag) 2015, 144 S., 14,99 Euro

Dieses Buch ging verdammt schnell: Im Januar 2015 übersetzte die Londoner „Quilliam Foundation“ als erste das Manifest der Al-Khansaa-Brigade und kaum ein halbes Jahr später liegt es auch in Deutsch vor. Die Al-Khansaa-Brigade ist eine rein weibliche Einheit die als Sittenwächterinnen gilt, die als unislamistisches Verhalten Deklariertes weitermeldet oder gleich selbst sanktioniert. Kommentiert wird das Ganze von der in Paderborn lebenden islamischen Theologin Hamideh Mohagheghi. Anfänglich war sie von diesem Gedanken gar nicht angetan, wie sie in ihrem Vorwort schreibt, habe sich dann aber doch dafür entschieden, als ihr klar wurde, „dass Zurückhaltung nicht mehr möglich ist (…). Muslimische Stimmen hierzu seien wichtig und müssten wahr- und ernstgenommen werden“, meint Mohagheghi zu Recht.

Im ersten Teil enthält das Buch das Manifest in Original und deutscher Übersetzung. Im zweiten Teil räumt Mohagheghi dann mit den kruden Parolen auf und setzt ihnen die Deutung des modernen Islam entgegen. Sie zeigt die (z.T. bewusst) falsche Auslegung des Korans mit der die Parolen oder gar die Gräueltaten des IS legitimiert werden. Insgesamt kein einfach zu lesendes, aber lesenswertes Buch. Dass es darin stellenweise von Schreib- und Satzfehlern nur so wimmelt, dürfte vermutlich der Geschwindigkeit der Herausgabe geschuldet sein. Schade, ein gutes Lektorat hätte hier gut getan. (alle: Otto Diederichs)

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