Renaissance der Reizstoffe: Mehr Pfefferspray und Tränengas bei Demonstrationen

Die Einführung von Pfefferspray sollte vor 17 Jahren das bis dahin bei Protesten übliche Tränengas ersetzen. Der in großen Mengen gesprühte Wirkstoff Capsaicin ist jedoch für die Betroffenen gefährlich. Nun nimmt der Abschuss von Tränengas wieder auffällig zu.

Das Bild jener Frau in Rot-Blau, die auf einen grünen Sonderwagen der Polizei klettert und dort von zwei Beamten mit Pfefferspray besprüht wird, grub sich ins Protestbewusstsein des G20-Gipfel in Hamburg. Es hätte vermutlich mildere Mittel gegeben, um die Aktivistin zum Herunterklettern zu bewegen. Das Gleiche gilt für den Polizisten, der im April im thüringischen Sonneberg eine Sitzblockade gegen einen Thügida-Umzug lässig mit Pfefferspray eindeckte.

Die Länderpolizeien sind erst zur Jahrtausendwende auf Pfefferspray als „Hilfsmittel der körperlichen Gewalt“ umgestiegen. 1999 hatte die Innenministerkonferenz empfohlen, Reizstoffsprühgeräte mit dem Reizstoff Capsaicin einzuführen. Vorausgegangen war ein sechsmonatiger Modellversuch in Bayern, das bei der Beschaffung durch alle Bundesländer den Anfang machte. Zuletzt folgten der damalige Bundesgrenzschutz und in 2001 auch Berlin.

Bundestagsgutachten empfiehlt anschließende ärztliche Untersuchung

Pfefferspray ist wie der Wasserwerfer, Gummigeschosse, Flashballs, Schockgranaten oder Tränengas eine Distanzwaffe für Demonstrationslagen. Der Reizstoff wird entweder aus den Früchten von Chilli oder Cayenne-Pfeffer gelöst oder synthetisch (PAVA) hergestellt. Über eine Sprühdose als Strahl oder Nebel freigesetzt wirkt er auf Haut, Augen und Atemwege. Die gesundheitlichen Gefahren des Capsaicin hatte der Wissenschaftliche Dienst im Bundestag vor sieben Jahren in einem Gutachten zusammengefasst. Krämpfe im Bereich des Oberkörpers lassen die Betroffenen nach vorne krümmen. Die Lider verschließen sich wegen heftigem Schmerz sofort, die Person erblindet für einige Zeit und wird orientierungslos. Die Haut rötet sich und brennt, die Atemwege werden von Hustenanfällen, Atemnot und Sprechschwierigkeiten geplagt. Es können auch psychische Konsequenzen folgen.

Gegenmittel gibt es nicht, empfohlen wird die mindestens zehn Minuten lange Spülung betroffener Hautpartien mit fließendem Wasser und Seife. Bei Augenkontakt muss ebenfalls schnell gespült werden, die WissenschaftlerInnen des Bundestags empfehlen die anschließende fachärztliche Untersuchung. Die Inhalation oder das Verschlucken des Reizstoffes kann weitere Komplikationen auslösen, nach einer Überdosierung drohen Magenentzündungen sowie Nieren- und Leberschädigungen. Erfolgt der Abschuss aus kurzer Distanz, drohen bleibende Schädigungen der Hornhaut. Besonders gefährdet sind Personen mit Asthma und Allergien oder Störungen des Blutdrucks, als Risikogruppen gelten außerdem Personen unter Drogeneinfluss. Weil sich ein Reizstoffdepot bilden kann, können TrägerInnen von Kontaktlinsen erweiterte Reaktionen zeigen.

Einsätze können tödlich verlaufen

Im Jahr 2000 wies das Europäische Parlament in einem Bericht für die Technikfolgenabschätzung auf erhebliche gesundheitliche Gefahren hin. Die deutschen Behörden setzten sich darüber hinweg, mit womöglich tödlichen Folgen. Nach der Einführung von Pfefferspray in Hamburg kollabierte 2002 eine betroffene Person und starb kurz darauf. Spiegel Online berichtete 2009 über mindestens drei Todesfälle nach Polizeieinsätzen mit Pfefferspray. Berichten aus den USA zufolge wird der Einsatz von Pfefferspray mit vielen Todesfällen in Verbindung gebracht.

Polizisten beim G8 2007 in Rostock mit „Reizstoffsprühgerät 8“ (Marek Peters/ marek-peters.com, GNU-Lizenz für freie Dokumentation 1.2)

Pfefferspray ist ein Mittel des „unmittelbaren Zwangs“ und fällt damit unter die entsprechenden Bestimmungen der Landespolizeigesetze. In den meisten Bundesländern fehlen weitere gesetzliche Bestimmungen, auch für die Polizeikräfte des Bundes existieren keine spezifischen Verordnungen. Die Einführung des Reizstoffes und der Sprühgeräte der Firma Hoernecke wurde den Polizeieinheiten durch Erlasse, Rundschreiben und die „Technische Richtlinie Reizstoff-Sprühgeräte“ bekannt gemacht. Maßnahmen zur Erstversorgung und zur ärztlichen Behandlung von Betroffenen sind nicht in allen Bundesländern aufgeführt. In manchen Vorschriften werden jedoch Hinweise zur Nachsorge bei den Polizeikräften genannt.

Ersatz für Tränengas

Der damalige grüne Justizsenator in Berlin nannte die die Einführung von Pfefferspray eine „Ökologisierung der Nahkampfstoffe“. Es sollte das bis dahin übliche Tränengas ersetzen, das sich bei Protesten als schwer handhabbar erwies und bei ungünstiger Windrichtung eine Schutzausrüstung der Polizeikräfte erfordert. Die Wirkstoffe des Tränengases sind Chloracetophenon (CN) oder Ortho-Chlorbenzylidenmalonitril (CS), sie wirken ebenfalls auf die Haut, die Augen und die oberen Atemwege. Eigentlich handelt es sich bei den Reizstoffen nicht um Gase, sondern gelöste Aerosole.

Von den Polizeien in Deutschland werden die CS-Reizstoffe genutzt, die als weniger schädlich gelten. Sie werden mit der Mehrzweckpistole (MZP 1) der Firma Heckler & Koch als 40mm-Kartuschen („Reizstoffpatrone“) abgeschossen. Außerdem werden in Polizeibeständen „Reizwurfkörper“ mit CS vorgehalten. In den 80er Jahren wurden sie mitunter von Hubschraubern abgeworfen. Möglich ist auch die Beimengung in Wasserwerfern, wobei die Zumischraten regulierbar sind. Das Verfahren ist jedoch auch für die Polizei nicht ungefährlich und sorgte bei den G8-Protesten 2007 in Heiligendamm für Hunderte als verletzt gemeldete BeamtInnen, nachdem diese in den Nebel der Wasserwerfer gerieten. Der Gesamteinsatzleiter des Hamburger G20-Gipfels hatte die Beimischung in Wasserwerfer laut seiner Auskunft im Innenausschuss des Bürgerschaft zu keinem Zeitpunkt erwogen.

Repertoire für Distanzwaffen wird größer

Tatsächlich nahm der Abschuss von Tränengas mit der Einführung von Pfefferspray zunächst deutlich ab, über mehrere Jahre sind uns bis 2011 lediglich CS-Beimischungen in Wasserwerfer bekannt geworden. Das änderte sich mit den Protesten gegen die damals noch jährliche Nazi-Demonstration in Dresden. Als neues Einsatzmittel hatte die sächsische Polizei vor sechs Jahren nicht nur mit Pepperball-Munition experimentiert, sondern auch wieder Tränengas gegen Demonstrierende eingesetzt. Seitdem ist die Distanzwaffe nicht nur in Sachsen, wo sogar Munition mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum verschossen wurde, wieder populär. Einsätze erfolgten auch bei Blockupy-Protesten und zuletzt in Hamburg. Dort wurde neben den bekannten Kartuschen auch Tränengasmunition eingesetzt, die in der Luft in kleinere Einheiten zerfiel.

Pfefferspray hat Tränengas also nicht ersetzt, sondern ergänzt. Capsaicin wird von der Polizei inzwischen wie ein Spray gegen lästiges Ungeziefer eingesetzt. Die Webseite „G 20 Doku“ meldet eine ganze Reihe von Fällen, in denen PolizeibeamtInnen auf Demonstrierende, Umstehende oder auch AnwohnerInnen gesprüht haben. Einsätze erfolgten vor dem Wasserwerfer, bei Sitzblockaden, zur Räumung eines Camps, zusammen mit Schlagstock und Fausthieben. Sogar JournalistInnen wurden attackiert, auch wenn diese deutlich als solche zu erkennen waren.

Gummigeschosse im Schanzenviertel?

Zu befürchten ist, dass auch die Einsätze mit Tränengas wieder ausufern. Vielleicht wird es dabei auch nicht bleiben. Anders als beispielsweise Schweizer Polizeikräfte dürfen Polizeieinheiten in Deutschland keine Gummigeschosse einsetzen. Reflexhaft forderte der Bundesvorsitzende der „Deutschen Polizeigewerkschaft“ nach dem G20-Gipfel, über die Ausrüstung mit Gummigeschossen müsse „nachgedacht werden“.

Erst in der Sondersitzung des Hamburger Innenausschusses kam heraus, dass diese beim Gipfel sogar zur Anwendung kamen. Laut dem Leiter der Bundespolizei in Hamburg seien Personen auf Dächern im Schanzenviertel mit Gummigeschossen traktiert worden, bevor Sondereinsatzkommandos die Häuser schließlich stürmten.

Beitragsbild: Polizei attackiert die Demonstration „Welcome to Hell“ beim G20-Gipfel in Hamburg. (CC-BY 2.0, Thorsten Schröder)

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