von Steve Wright
In den 90er Jahren haben mehrere europäische Staaten – u.a. Belgien, Luxemburg und die Schweiz – den Reizstoff Oleoresin Capsicum (OC) zur Polizeiwaffe erkoren. Herstellerfirmen preisen den aus scharfem Pfeffer gewonnenen Stoff – daher Pfefferspray – als „ideale nicht-tödliche Waffe“. Seit kurzem ist sie auch in deutschen Polizeiarsenalen zu finden.
Temporäre Blindheit bis zu 30 Minuten; ein brennendes Gefühl auf der Haut, das bis zu einer Stunde anhalten kann; Krämpfe im Oberkörper, die die Betroffenen zwingen, sich nach vorne zu krümmen; unkontrollierbarer Husten; Sprech- und Atemschwierigkeiten bis zu einer Viertelstunde – die Wirkungen von OC sind erheblich stärker als die anderer sogenannter Tränengase. Als pflanzliches Gift ist OC zwar durch das Abkommen über biologische Waffen von 1972 für den Kriegseinsatz verboten, nicht jedoch für den Einsatz im Inneren.
Von 1990 bis 1995 – so die „Los Angeles Times“ – gab es allein in den USA 61 Todesfälle im Zusammenhang mit Pfefferspray-Einsätzen.[1] Amnesty International (AI) fordert daher ein Moratorium für den internationalen Transfer von OC-Waffen. Ein Bericht für die Technologiefolgen-Abschätzungseinheit des Europa-Parlaments (STOA-Bericht) drängte letztes Jahr die EU-Staaten, den Verkauf, die Anschaffung und den Einsatz von Pfefferspray zu stoppen und weitere unabhängige medizinische Gutachten abzuwarten. Solche Untersuchungen sind in den Niederlanden, Großbritannien und Schweden angelaufen.[2]
Porton Down
Bereits im Ersten Weltkrieg waren Extrakte des ’spanischen Pfeffers‘ (u.a. das Nervengas VAN) als militärische Kampfstoffe eingesetzt worden. In den USA begann man ab 1921 beim Edgewood Arsenal die physiologischen Wirkungen von Capsaicin, dem in OC enthaltenen Gift, mit Versuchen am Menschen zu testen. In den 50er Jahren schätzte auch das damalige British War Office OC als ein wirkungsvolles Aufstandsbekämpfungsmittel ein, entschied sich dann aber für CS-Gas.[3]
Die eigentliche Geschichte des Pfeffergases beginnt in Porton Down, ehemals Regierungseinrichtung für die Chemische Verteidigung (Government Chemical Defence Establishment) des Vereinigten Königreichs, wo man seit den 60er Jahren auf der Suche nach einem Ersatz für das ‚Tränengas‘ CN war.[4] In den 70er Jahren finanzierte ‚Porton‘ Studien über die Neurophysiologie des Schmerzes, bei denen mit OC experimentiert wurde.[5] Informationen über Pfeffer-Derivate als mögliche Aufstandsbekämpfungsmittel wurden jedoch schon damals im Rahmen des Quadrapartite Agreement, eines 1963 ins Leben gerufenen Verbundes der USA, Australiens, Kanadas und Großbritanniens ausgetauscht (heute bezeichnet als Technical Cooperation Programme). In den USA führten die Edgewood Arsenals 1968 entsprechende Tierversuche durch.
Zu einer Waffe entwickelt wurde Pfeffergas zunächst 1973 in den USA durch Aerko International und kurz darauf durch die in Fort Lauderdale angesiedelte Firma Luckey Police Products, die unter dem Markennamen Capstun ein Hand-Spray auf den Markt brachte. Für das Spray entschied sich zunächst die FBI-Akademie in Quantico, die 1987 Special Agent Thomas Ward zum Direktor ihres Programms für „weniger-tödliche“ Waffen ernannte.
Im Mai 1989 erlaubte das FBI allen seinen Agenten offiziell den Einsatz von Capstun. Wards neunseitiges Papier „Chemical Agent Research: Oleoresin Capsicum“ wurde als eine Art OC-Bibel an alle Polizeien in den USA versandt. Kurz danach machte auch das Nationale Institut für Strafvollzug Capstun zu seiner bevorzugten Marke.[6] Pfefferspray sei nunmehr bei fast allen US-Amerikanischen Strafverfolgungsbehörden im Einsatz, hielt 1997 eine Arbeitsgruppe des US National Institute of Justice fest. Es sei die „am weitesten verbreitete weniger-tödliche Waffentechnologie“.[7]
Die Pfeffer-Gas Industrie
Hersteller- und Handelsfirmen für chemische Aufstandsbekämpfungsmittel sind in den 90er Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Im Archiv der Omega-Stiftung finden sich Details über mehr als 300. Zu den Pfeffergas-Händlern in Europa gehören u.a. Equipol und SAE Alsetex in Frankreich, Def-Tec und IDC Chemie Handels GmbH in Deutschland, die Real Guarrnicionería SA in Spanien, IDC System in der Schweiz sowie Civil Defence Supply und Safeguard Technology in Großbritannien.[8] Die weitaus größte Ansammlung von OC-Herstellern und -Händlern findet sich jedoch in den USA. Unter den 61 im STOA-Bericht genannten US-Firmen sind einige von internationalem Rang (Zarc International, Mace Security International, JAYCOR, Federal Laboratories, Def-tec, Armor Holdings und AAI corporation).
OC ist in vielen Formaten erhältlich. Als organischer Stoff wird es zum Versprühen mit einer Trägersubstanz gemischt (Öl, Alkohol, Glycol, Kerosin o.ä.). Der Anteil des Wirkstoffs Capsaicin liegt für Handsprays üblicherweise bei 1,3-2%. Das FBI forderte jedoch für den polizeilichen Einsatz eine Dosierung von 5%.
Erhältlich sind auch Sprays mit mehr Inhalt und größerer Reichweite. So behauptet Zarc für eines seiner Produkte eine Reichweite von 300 Metern. Andere Aufstandsbekämpfungsmittel – Schlagstöcke, Wasserwerfer, Gummischrotgranaten etc. – können durch OC-Beimischung aufgerüstet werden. Darüber hinaus wurden Helikopter, polizeiliche Einsatzwagen u.a. Fahrzeuge mit Vorrichtungen zur Abgabe von Pfeffergas ausgestattet. Neu auf dem Markt ist ein Pfeffer-Ball-System: In viele Teile explodierende Pfeffergas-Projektile können von einem speziell angepassten Gewehr aus abgeschossen werden. Dieses System wurde 1999 gegen die Anti-WTO-DemonstrantInnen in Seattle eingesetzt.
Einige technische Probleme bleiben bei der Standardisierung eines organischen Stoffs wie OC, dessen Wirkung je nach der extrahierten Frucht variiert. Verschiedene Firmen (wie Carl Hoernecke Chemie und IDC Chemie Handel in Deutschland und CDS in Großbritannien) vermarkten mittlerweile eine synthetische Form von OC namens PAVA.
Angeblich harmlos
Die frühen Behauptungen der Harmlosigkeit von Pfeffergas beruhten nicht zufällig auf den Arbeiten des FBI. Dessen OC-Programmchef Ward wurde 1996 verurteilt, weil er 57.000 Dollar Provisionen von Luckey Police Products angenommen hatte. Er akzeptierte einen Deal, der den vollständigen Verlust seiner Aufgaben beim FBI beinhaltete, und konnte damit sich und seine Frau – zufällig die Besitzerin der Firma – vor weiterer Strafverfolgung schützen. Die Aufdeckung dieses Interessenkonfliktes konnte den weltweiten Siegeszug von Pfefferspray-Produkten bei Polizeien, Strafvollzugsbehörden und Militärs aber nicht mehr stoppen. Behauptungen über die Sicherheit und Harmlosigkeit von OC wurden nach Wards Verurteilung immerhin mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen. Zwar wies z.B. die US-Marine weiterhin alle Warnungen zurück, dass OC Erbgutschäden hervorrufe und ein Nervengift sei. Selbst die Marine beschränkte jedoch in den späten 90er Jahren ihre Feldversuche mit dem Reizstoff.
Besonders gefährlich ist OC für Personen, die unter Atemproblemen und Asthma leiden bzw. Medikamente oder Drogen nehmen. Schweden begründet seine Ablehnung des Pfeffersprays mit möglichen schweren Schädigungen der Hornhaut des Auges. Der STOA-Bericht beruft sich insbesondere auf die Ergebnisse einer Forschergruppe aus North Carolina (USA), wonach OC zu Schädigungen des Erbgutes, zu Degenerationen der Nervenfasern der Augenhornhaut und nervenlähmenden Hornhautentzündungen (die sich durch ein Hornhautödem manifestiert), Schädigungen von Gehirn, Leber und Nieren sowie Magengeschwüren führen kann. Dr. Stopford und seine KollegInnen nannten eine ganze Serie weiterer gesundheitlicher Risiken in Zusammenhang mit Pfefferspray: Augenschäden, Hautkrankheiten (Allergien, Blasen), Schädigungen von Atmungsorganen (Kehlkopfkrämpfe, Bronchialkrämpfe, Atemstillstand, Lungenödem), akuter Bluthochdruck und Unterkühlung.[9]
Gesundheit und Sicherheit für ‚Cops and Rebels‘
Die britischen Polizeien erwogen die Einführung von Pfeffergas, bis ein höherer Polizeibeamter sich zur besten Fernseh-Sendezeit life besprühen ließ, um zu beweisen, wie harmlos der Stoff sei. Die laufenden Kameras dokumentierten seine allergischen Reaktionen und die Panik, die ihn befiel. Die Tatsache, dass der Mann mehrere Wochen krankheitshalber dem Dienst fernbleiben musste, mag das Nachdenken über die gesundheitlichen Risiken von Pfefferspray beschleunigt haben. Dazu beigetragen hat wohl auch die Furcht vor möglichen Schadensersatzklagen von Polizeibeamten, die im Laufe ihres Berufslebens unweigerlich eine Dosis von Pfefferspray abbekämen.
Generell sind die Langzeiteffekte von chemischen Aufstandsbekämpfungsmitteln zu wenig untersucht. Das gilt insbesondere für den zusammenhängenden Einsatz verschiedener Stoffe, wie das etwa 1999 in Seattle der Fall war, wo CS, CN und Pfefferspray gegen die Protestierenden versprüht wurden. Die Tatsache, dass einige der Opfer unter Würgekrämpfen litten, ließ viele der Betroffenen glauben, hier sei ein neuartiges Nervengas eingesetzt worden. Auch Hersteller warnen vor Synergie-Effekten verschiedener Stoffe. Zarc International z.B. gibt zu bedenken, dass Fälle „belegt“ seien, wo eine Mischung von CS und OC in Pfeffersprays zu „Augenverletzungen und Blindheit“ führten.[10] Solche Mischsysteme sind jedoch heute allgemein erhältlich.
Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) warnte schon 1975, dass die toxischen Effekte chemischer Kampfstoffe – inkl. Tränengasen – häufig erst Jahre nach dem Einsatz zu Tage treten.[11] Belege hierfür ergaben sich letztes Jahr in Nordirland. In diesem Fall handelte es sich um CR-Gas, eine Waffe für Spezialeinheiten. Ehemalige Republikanische Gefangene in Long Kesh gaben an, die britische Armee habe beim Brand des Gefängnisses im Oktober 1974 aus Helikoptern Kanister mit der Aufschrift MoD CR abgeworfen. Die Behörden hätten später von allen Beteiligten Blutproben nehmen lassen. „Wenn unsere Zahlen stimmen,“ so der ehemalige Long Kesh-Häftling Jim McGann, „ist ein Fünftel der Männer, die vor 26 Jahren in Long Kesh einsaßen, an Krebs gestorben.“[12] Die britische Regierung hat CR-Einsätze stets abgestritten. Sicher ist aber, dass CR-Handsprays in Long Kesh auf Lager waren.
Die Beteuerungen der britischen Regierung über die Ungefährlichkeit von CR gleichen denen anderer Regierungen in Bezug auf Pfefferspray. „Sowohl über chronische Krankheiten, die von CR ausgelöst werden, als auch über seine karzinogene Wirkung ist derzeit kaum etwas bekannt“, heißt es in einem bezeichnenderweise internen ‚Porton‘-Bericht von 1994.[13] In Bezug auf OC kommt der Bericht „zu der Schlussfolgerung, dass der Stoff zu Genmutationen und Krebs führen, Überempfindlichkeiten hervorrufen sowie Schädigungen von Nervensystem, Lunge, Herz und Kreislauf auslösen kann.“
Gefahren ergeben sich jedoch nicht nur aus dem OC selbst, sondern auch aus den Lösungsmitteln und Treibstoffen in Pfeffersprays. So ist z.B. der Isopropyl-Alkohol, der seinerzeit für Capstun benutzt wurde, brennbar. New Yorker Polizeibeamte gingen 1990 mit Capstun gegen einen verwirrten Jungen vor, der sich mit einem Hammer und zwei Messern im Badezimmer einer Wohnung verbarrikadiert hatte. Nachdem das Pfefferspray seine Wirkung verfehlte, setzten die Beamten einen Taser, eine Elektroschock-Pistole, ein. Der Alkohol entzündete sich, das Feuer brachte dem Jungen Verbrennungen zweiten Grades bei.[14]
Missbrauch – Lehren aus den USA
Typischerweise geht die Einführung starker Reizstoffe wie OC mit Beteuerungen einher, dass diese Waffen nur zurückhaltend und nur im Rahmen enger Richtlinien eingesetzt würden. Solche Erklärungen sollen Befürchtungen zerstreuen, dass OC-Waffen ihrer Natur nach zu Missbräuchen führen. Fälle aus den USA, dem Land mit der längsten Geschichte des OC-Einsatzes, belegen jedoch, dass diese Waffe allen Richtlinien zum Trotz systematisch für grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen eingesetzt wird.[15]
Chemische Waffen, so Amnesty International, begünstigen die unterschiedlichsten Formen von Menschenrechtsverletzungen u.a. Sofort-„Bestrafungen“ auf der Straße. In diversen Fällen sei OC auf bewusst grausame Art gegen bereits flucht- und bewegungsunfähige Verdächtige eingesetzt worden. Im Oktober 1997 beispielsweise spritzte die Polizei in Humboldt County (Kalifornien) TeilnehmerInnen einer gewaltfreien Sitzdemonstration flüssiges OC direkt in die Augen. Amnesty kommentierte diese Form der „chemischen Bestrafung“ als „gleichbedeutend mit Folter“. Auf die gleiche Weise war die Polizei in Illinois im Juni 1994 gegen Gewerkschafter vorgegangen.[16]
Im Mai 2000 urteilte das Bundesberufungsgericht in San Francisco, dass der Einsatz von OC „in bestimmten Fällen verfassungswidrig und unverhältnismäßig sein kann.“[17] Das Urteil aus San Francisco, so Amnesty, „sollte ein klares Signal an Polizeibeamte sein“. Der „bewusste Einsatz von Pfefferspray mit dem Ziel, Schmerzen zuzufügen, um auf diese Weise ungefährliche DemonstrantInnen zu unterwerfen“, sei nicht länger hinzunehmen. Amnesty kritisierte darüber hinaus die fehlende Kontrolle der Polizei. Viele kleinere Polizeibehörden verfügten über keinerlei Richtlinien für die Erfassung von Verletzungen und Todesfällen im Zusammenhang mit Pfefferspray-Einsätzen. So habe das Justizdepartement von Kalifornien der Organisation im Februar 1998 mitgeteilt, seit Juni 1996 würden solche Informationen nicht mehr angefordert und auch nicht mehr erfasst.[18]
Missbräuche ergeben sich aber auch aus dem Fehlen von Vorschriften und Kontrollen über die Menge des versprühten OC. In einigen Fällen – z.B. in Philadelphia – existieren klare Anweisungen, dass die Zielperson mindestens zwei Meter entfernt sein muss und ihr höchstens zweimal hintereinander eine halbe Sekunde lang ins Gesicht gesprayt werden darf.[19] Allerdings erweisen sich häufig DrogenkonsumentInnen als resistent gegen solche kurzen Einsätze, was Polizeibeamte verleitet, weitere Spraystöße abzugeben. An diesem Punkt können sich polizeiliche Vorschriften und Richtlinien der Herstellerfirmen widersprechen.
Ein solcher Widerspruch führte zum Tod eines Mannes, der in Novato (Kalifornien) mit OC besprüht wurde. Gemäß den Richtlinien der örtlichen Polizei „soll Oleoresin Capsicum (Pfefferspray) nur so lange gegen Verdächtige eingesetzt werden, wie es unbedingt notwendig ist, um sie unter Kontrolle zu bringen.“ Diese Regel, so John Crew, der für Polizeifragen zuständige Direktor der American Civil Liberties Union in Nordkalifornien, „widerspricht den Gebrauchsanweisungen der Hersteller. Sie bedeutet nämlich, dass man solange sprüht, bis der Verdächtige eben tatsächlich unter Kontrolle ist … Wenn man einmal sprüht und es wirkt nicht, so raten dagegen die Hersteller, wird es auch nach mehrfachem Sprayen nicht wirken. Unsachgemäßes lang anhaltendes Sprühen setzt die Betroffenen jedoch einem erhöhten Gesundheitsrisiko aus.“[20]
Die schlimmsten Fälle von OC-Missbrauch ereigneten sich in Gefängnissen. Mehrere Fälle sind bekannt, wo gefesselte Gefangene mit OC besprüht wurden und erstickten. Bestimmte Formen des Missbrauchs sind in US-Gefängnissen institutionalisiert, wobei Amnesty vor allem von Misshandlungen in Oregon und Kalifornien berichtet. Offiziell dokumentiert ist der institutionalisierte OC-Missbrauch in den Gefängnissen von Maricopa-County (Arizona).
Im Oktober 1995 inspizierte ein Strafvollzugsexperte die sechs Anstalten des Bezirks. In seinem Bericht heißt es: „Ich war ehrlich gesagt verblüfft, dass nahezu jeder Gefängnisbeamte, den ich sah, nicht-tödliche Waffen bei sich trug – Betäubungspistolen (stun-gun) und Pfeffersprays. Ich habe über 700 Anstalten in den ganzen USA und in zwölf weiteren Staaten besucht, darunter einige Hochsicherheitsgefängnisse, aber so etwas habe ich bisher noch nicht gesehen.“ Das sei „nicht überraschend“, schreiben die Gefängnisbeamten in ihrer Antwort. „Das Maricopa County Sheriffs Office wurde von der National Sheriffs Association als Objekt eines Pilotversuchs des National Institute of Justice (NIJ), einer Evaluation nicht-tödlicher Waffen im Gefängnisbereich, ausgewählt.“[21] Die Gefangenen dienten also als Versuchskaninchen eines größeren Experiments.
„Ich bin der festen Überzeugung,“ so schrieb auch der von der Gefängnisbehörde aufgebotene zweite Gutachter George Sullivan, „dass jede Gefängnisverwaltung, die diesen Bericht liest, sofort OC Pfefferspray oder -schaum aus ihrem Arsenal aussondern und dem Personal den Einsatz dieser Mittel verbieten wird.“[22] Sullivan empfahl dem Sheriff und seinen führenden Beamten, einen Bericht von Mike Doubet über die medizinischen Implikationen von OC-Sprays zu lesen.[23]
Proliferation
Pfeffergas wird weltweit aggressiv vermarktet. In den 90er Jahren etwa wurden Einsätze von El Salvador über Chile bis Hong Kong berichtet. Die Hersteller des Pepperballs rühmen sich potentieller Kunden in Indonesien und Südamerika. Diese Verbreitung nachzuvollziehen, bleibt schwierig, da die Medien oft alle Reizstoffe schlicht als „Tränengas“ bezeichnen. Noch schwieriger gestaltet sich die Dokumentation gesundheitlicher Schäden, da diverse Staaten solche Meldungen als politisch inkorrekt einstufen. Trotz massiven Gebrauchs chemischer Aufruhrbekämpfungsmittel gibt es in Südkorea keine einzige Studie. Die Todesursache „Tränengas“ ist auf israelischen Totenscheinen nicht erlaubt.
Der STOA-Bericht empfahl, den Gesundheitszustand von OC-Besprühten zu dokumentieren und Daten über Exportlizenzen offenzulegen, um eine genauere Überprüfung der Ausbreitung dieser Waffen zu ermöglichen. Trotz der Moratoriumsforderung sind OC-Sprays mittlerweile auch in Deutschland angekommen. Bis zu einer wirklichen Evaluation sind diejenigen, die von einem OC-Einsatz betroffen werden, nichts anderes als Versuchskaninchen.
Steve Wright ist Direktor der Omega-Stiftung in Manchester.
[1] Los Angeles Times v. 18.6.1995
[2] STOA-Bericht: www.europarl.eu.int/dg4/stoa/en/publi/default.htm (An Assesment of Crowd Control Technologies, May 2000); AI: Stopping The Torture Trade, London 2001
[3] Cookson, J.: Survey of Chemical and Biological Warfare, London 1969
[4] SIPRI: The Problem of Chemical and Biological Warfare, Vol. I, Stockholm 1971, p. 64
[5] z.B. an der Universität von Manchester: Foster, R.W.; Ramage, A.G.: Observations on the Effects of Dibenzoxazepine (CR) und Nonoyl-Vanillyamide (VAN) on Sensory Nerves, in: The British Journal of Pharmacology, March 1975, pp. 436-437
[6] Rhodes, N.: Capstun Kickbacks, in: Policing by Consent 1996, no. 4, pp. 10-11
[7] zit.n. Seaskate Inc.: The Evolution and Development of Police Technology. A Technical Report prepared for the NIJ, July 1 1998, App. 8
[8] Außerhalb Europas und der USA: SWAT Deftac (Südafrika); Great Cathay Products (Saftron Group), Ramdon Chemicals, Sang Min International Co and Taichi Roc Industrial Corp (Taiwan); Tecnoboss SA de CV (Mexiko); Geisler Defence, ISPRA and TAR Ideal Concepts (Israel); Northern Ordnance, R. Nicholls Inc. Distributers (Kanada)
[9] Stopford, W.: Statement concerning patho-physiology of Capsicum and risks associated with Oleo-resin capsicum exposure. Division of Occupational and Environmental Medicine, Duke University Medical Centre, Durham, North Carolina, July 1996
[10] Zarc International: Cap Stun Weapons – Aerosol product Line, Law Enforcement & Military, Technical Information, 1993, p. 44
[11] SIPRI: Delayed Toxic Effects of Chemical Warfare Agents, Stockholm 1975, pp. 15-17
[12] Andersonstown news v. 14.10.2000
[13] Rice, P.; Jugg B.: A review of the Toxicology of the Riot Control Agent O-Chlorobenzylidene Malononitrile (CS Gas). A Report compiled for the UK Police Scientific Development Branch by Medical Countermeasures (Biology) CBDE Porton Down, December 1994
[14] Cincinnati Police Division Chemical Aerosol Report 1992
[15] Solche Fälle gibt es auch in Europa. Das Anti-Folter-Komitee der UNO berichtet von einem rassistischen Polizeiübergriff aus Österreich, bei dem Pfefferspray eingesetzt wurde; AI Index EUR 13/07/00, 24.3.2000
[16] AI: Presseerklärung v. 7.11.2000
[17] AI Index AMR 51/72/2000, 17.5.2000
[18] AI: United States of America – Rights For All, London 1998
[19] Philadelphia Police Department, Directive 43
[20] San Francisco Chronicle v. 22.10.1997
[21] Response and Outline To Expert Penologists Report (Gene Miller), Use of Force in Maricopa County Jail System, 1996
[22] Sullivan, G.: Report of Corrections Consultant On Use of Force on the Maricopa County Jails, Phoenix, Arizona, May 14 1996
[23] Doubet, M.: The Medical Implications of OC Sprays, PPCT Management Systems Inc., South Illinois, USA 1997
Gepfefferte Einsätze auch bei der deutschen PolizeiIm Juni 1999 empfahl die Innenministerkonferenz aufgrund einer Vorlage des Polizeitechnischen Institutes der Polizei-Führungsakademie die Einführung von Reizstoffsprühgeräten mit Capsaicin (Pfefferspray) bei den Polizeien des Bundes und der Länder. Bayern startete daraufhin als erstes Land einen sechsmonatigen Versuch mit 1.000 BeamtInnen und setzt seit Februar 2000 bei der gesamten Polizei Pfefferspray ein. Alle übrigen Bundesländer mit Ausnahme Berlins folgten diesem Beispiel entweder noch im Laufe des Jahres 2000 oder – wie das Saarland und Sachsen-Anhalt – Anfang 2001. In Berlin wird Pfefferspray erst ab dem 1.1.2002 eingesetzt. Hier war eine Änderung des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges (UZwG) notwendig, da das Gesetz bisher nur Tränengas als Reizstoff zuließ. Trotz der bekannten Risiken befürworteten auch Bündnis 90/Die Grünen die Einführung von Pfefferspray „als Ökologisierung der Nahkampfstoffe“, so Berlins Justizsenator Wolfgang Wieland. Bedingung war, Pfefferspray nicht zusätzlich, sondern alternativ zu CN- und CS-Gas einzuführen. Herkömmliches Tränengas darf nach dem geänderten UZwG nur noch dann eingesetzt werden, wenn dies „zwingend erforderlich ist“, z.B. bei größeren Menschenansammlungen. Alle anderen Länderpolizeien haben die Wahl, Pfefferspray oder Tränengas zu verwenden. Die vollständige Umrüstung auf Pfefferspray wird sich jedoch hinauszögern, da nur leere oder verfallene CN- oder CS-Gas-Patronen sukzessive ausgetauscht werden. Per Erlass von März 2001 hat das Bundesinnenministerium Pfefferspray für den Bundesgrenzschutz zugelassen. Einen genauen Einführungstermin konnte die Grenzschutzdirektion aufgrund des Ausschreibungsverfahrens noch nicht nennen. Für den Einsatz von Pfefferspray bestimmen bspw. die niedersächsischen Dienstvorschriften, dass es wegen des erhöhten Verletzungsrisikos nicht aus unter 1 m Entfernung eingesetzt werden darf, und nur max. drei Sprühstöße in das Gesicht (nicht in die Augen!) abgegeben werden dürfen. Wegen der starken Wirkung sollen die BeamtInnen Erste-Hilfe-Maßnahmen einleiten (Augenspülungen, frische Luft) und auf Handfesselungen auf dem Rücken verzichten. (Martina Kant) |