von Les Levidow
Das PREVENT-Programm hat mit der Verpflichtung öffentlicher Einrichtungen, mutmaßliche „ExtremistInnen“ zu melden, ein System der kollektiven Schnüffelei und Denunziation geschaffen. Das Ergebnis ist ein Klima der Angst und Stigmatisierung. Trotz erheblichen Protestes plant die Regierung eine weitere Verschärfung.
Bereits unter Premierminister Gordon Brown von der Labour Party hatte sich die britische Regierung von der martialischen Rhetorik des „Krieges gegen den Terror“ verabschiedet. Dennoch verlängerte sie dessen antidemokratische Ziele durch eine neue Agenda der „Extremismusbekämpfung“. Im Rahmen der Terrorismusbekämpfungsstrategie CONTEST entwickelte die Regierung in den Jahren 2006/07 das Programm „Preventing Violent Extremism“ (PREVENT).[1]Deklariertes Ziel war, die Gefahren terroristischer Anschläge im Vereinigten Königreich zu reduzieren, „indem Menschen daran gehindert werden, Terroristen zu werden oder gewalttätigen Extremismus zu unterstützen“. Man wolle „tief verwurzelten Ideen“ etwas entgegensetzen.[2] Im Ergebnis wurden und werden jene ins Visier genommen, von denen man annimmt, dass sie solches Gedankengut fördern. Das Programm richtete sich praktisch gegen politische Meinungen, die als staatsgefährdend betrachtet werden. 2009 erklärte Charles Farr, der Terrorabwehrchef des Home Office, die Maßnahmen der Regierung richteten sich gegen eine größere Gruppe nicht gewalttätiger Personen, die „eine Umgebung schaffen, in der Terroristen operieren können“.
Sanktionen gegen „gewaltlosen Extremismus“
Diese Logik der Gefahrenvorsorge rechtfertigt die Bekämpfung des „gewaltlosen Extremismus“ durch Abschreckung, Prävention und Überwachung. Während Gewaltakte und ihre Androhung bereits vor der Verabschiedung des Terrorism Act 2000 illegal waren, haben die neuen britischen Anti-Terror-Gesetze zur Stigmatisierung und sogar Kriminalisierung von gewaltlosen Aktivitäten geführt. Sie stellen ein breites Instrumentarium an Befugnissen bereit, die euphemistisch „nicht-strafverfolgende Aktionen“ genannt werden und Grundlage für die Verhängung von Sanktionen ohne Gerichtsverfahren sind.[3] Diese Verwaltungsanordnungen umfassen Schikanen wegen des Zeigens der Symbole verbotener Organisationen, den Entzug von Pässen, die Verhängung von Reiseverboten, längere Präventivhaft und sogar den Entzug der Staatsbürgerschaft – was in den extremsten Fällen der vergangenen Jahre das Vorspiel für die Tötung der Abgeschobenen durch bewaffnete Drohnen war.[4] Außerdem kann die Charity Commission, die Behörde zur Registrierung und Kontrolle gemeinnütziger Organisationen, entsprechend ihres 2006 erweiterten gesetzlichen Auftrags Sanktionen verhängen, etwa durch die Disqualifizierung von Personal oder durch die Suspendierung der Aktivitäten einer Organisation während längerer Ermittlungen – was betroffene Organisationen dem Risiko aussetzt, dass ihnen die Eröffnung eines Bankkontos verweigert oder ihr Konto gelöscht wird.
Im Mai 2015 – und erneut ein Jahr später – kündigte die neue konservative Regierung Pläne für ein neues Gesetz zur Extremismusbekämpfung (Extremism Bill bzw. Counter-Extremism and Safeguarding Bill) an, das im Namen des Schutzes verführbarer Personen oder Gruppen die exekutiven Befugnisse zur Bekämpfung von „extremistischen” Meinungsäußerungen oder Handlungen deutlich gestärkt hätte. Geplant waren drei neue Arten administrativer Sanktionen: Verbote „extremistischer“ Gruppen, Anordnungen, um Personen daran zu hindern, sich an „extremistischen“ Aktivitäten zu beteiligen, und Verfügungen zur Schließung von Einrichtungen, die genutzt werden, um „Extremismus“ zu unterstützen. Jeder Verstoß gegen solche Anordnungen sollte als Straftat gelten, so dass die Anklagebehörde keine Beweise präsentieren müsste, die den üblichen Standards eines Strafprozesses entsprächen. Außerdem sollte ein neues Verfahren gewährleisten, dass Hinweise auf „Extremismus“ vollumfänglich durch die Polizei und die Lokalbehörden geprüft würden. Geplant war auch, die Aufgaben des Disclosure und Barring Service auszuweiten, der für staatliche Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personal, das mit Kindern und anderen vulnerablen Gruppen arbeitet, zuständig ist: ArbeitgeberInnen sollten über Personen informiert werden, gegen die Verwaltungsanordnungen wegen „extremistischer“ Aktivitäten verhängt wurden. Zwar wurden die Pläne angesichts deutlicher Kritik vorerst auf Eis gelegt, allerdings haben die Anschläge von London und Manchester das Thema erneut auf die politische Tagesordnung gesetzt. Ende Juni 2017 kündigte die Regierung an, eine Kommission zur Extremismusbekämpfung einzusetzen und stärker gegen „extremistische“ Internetinhalte vorzugehen.[5]
In der Praxis werden Menschen, die des „Extremismus” verdächtigt werden, inzwischen wie Terrorverdächtige behandelt. Mit ihrem Fokus auf „Pre-Crime“ sanktionieren die Sondermaßnahmen potenzielle Straftaten als wären sie bereits begangene Straftaten. Die Autorisierung von Sanktionen ohne rechtsstaatliches Verfahren wird jedoch nicht nur als ungerechtfertigt kritisiert, sondern auch als kontraproduktiv im Sinne der Terrorabwehr. So forderte der gemeinsame Menschenrechtsausschuss von Unter- und Oberhaus in einem Bericht vom Sommer 2016, dass jede neue Gesetzgebung daraufhin zu prüfen sei, „was funktioniert und was einfach nur einen Keil zwischen die Behörden und die Communities treibt“.[6]
Bereits vor Veröffentlichung des Berichts verurteilte der damalige innenpolitische Sprecher der Labour Party, der Abgeordnete Andy Burnham, das PREVENT-Programm und kündigte an, dass seine Partei dem Regierungsentwurf für das neue Extremismusbekämpfungsgesetz nicht zustimmen werde:
„Ich habe das Gefühl, dass der Markenname PREVENT inzwischen so giftig ist, dass das Programm verschwinden sollte. Die PREVENT-Pflicht, extremistisches Verhalten zu melden, ist das heutige Äquivalent zur Internierung während des Nordirland-Konflikts – eine Politik, die von einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe als diskriminierend wahrgenommen wird.“[7]
Die Konstruktion der „extremistischen“ Bedrohung
Das PREVENT-Programm war schon früher auf breiten Widerstand gestoßen, insbesondere als die bereits zuvor eingeführte Verpflichtung öffentlicher Einrichtungen, „extremistisches“ Verhalten zu melden, 2015 durch den Counter Terrorism and Security Act auf eine gesetzliche Grundlage gestellt wurde. Die Kritik richtet sich gegen den zentralen Begriff des „Extremismus”. PREVENT definiert „Extremismus“ als Feindseligkeit gegenüber „britischen Werten“, die charakterisiert werden durch „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Chancengleichheit, Meinungsfreiheit und das Recht aller Männer und Frauen frei von Verfolgung jeglicher Art zu leben“.[8] Die Definition setzt britische Werte mit universellen Menschenrechten gleich, während die britische Außenpolitik diese regelmäßig infrage stellt.
In der öffentlichen Wahrnehmung des PREVENT-Programms sind „Extremisten“ Muslime, insbesondere jene, die auf die eben genannten Widersprüche aufmerksam machen oder Einzelaspekte der britischen Außenpolitik – allen voran die Unterstützung für die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete – kritisieren. Zudem wird „Extremismus“ in der Praxis häufig festgemacht an einem sich ausweitenden Set von Indikatoren, etwa zurückhaltender Kleidung, Einhaltung religiöser Gebote und politische Stellungnahmen. Die schwammige Definition des Begriffs führt dazu, dass immer mehr Menschen aufgrund von Ansichten, die bislang als Teil der normalen politischen Debatte verstanden wurden, ins Visier der Behörden geraten.
Einer lokalen Behörde geriet die Darstellung ihrer anti-extremistischen Aktivitäten zur unfreiwilligen Parodie des Programms: „Als zentrale Risiken für York gelten im lokalen Terrorismusbekämpfungsprofil für York und Nord-Yorkshire Hinweise auf Aktivitäten mit Bezug zu Syrien, die Präsenz der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), anti-israelische/pro-palästinensische Aktivitäten, die Sabotage von Treibjagden sowie Aktivitäten von Tierrechtlern, Anti-Fracking-Proteste und rechtsextremistische Aktivitäten … Seit 2010 beobachten die lokalen Behörden alle Aktivitäten, die das Potenzial für Spannungen zwischen verschiedenen Communities haben.“[9] Unerwähnt bleibt, dass das genannte „Potenzial“ aufgrund von präventiven Maßnahmen und der Angst vor Stigmatisierung leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird.
Praktische Auswirkungen
Trotz der wachsenden Widerstände gegen PREVENT wurde das Programm der Überwachung und „Deradikalisierung“ kontinuierlich ausgeweitet, angeblich um verführbare, „vulnerable“ Personen zu schützen. Was es treibt, erschließt sich nur aus der alltäglichen Praxis. Statistiken über die operative Wirksamkeit des Programms liefern widersprüchliche Interpretationen: Von den Meldungen wegen „Extremismusverdachts“ führen 80 Prozent zu keiner polizeilichen Folgemaßnahme. Das bedeutet, so KritikerInnen, ein fünffaches „Overreporting“. Die BefürworterInnen des Programms, allen voran das britische Innenministerium, argumentieren hingegen, die Zahlen zeigten, dass das System in der Lage sei, Falschmeldungen auszusortieren und daher gut funktioniere. Was nicht in diesem Streit auftaucht, ist der enorme Schaden, der angerichtet wird, wenn Familien fürchten, dass ihnen ihre Kinder weggenommen werden, Minderjährige eingeschüchtert werden, ganze muslimische Gemeinden ins Visier geraten und die Bereitschaft zur Kooperation mit den Behörden bei der Terrorismusbekämpfung erodiert.[10]
Wie kommt es zu den zahlreichen Falschmeldungen? Erklären lässt sich dies durch verschiedene Faktoren: Das PREVENT-Programm übt Druck auf das professionelle Personal öffentlicher Einrichtungen und insbesondere auf dessen Vorgesetzte aus, die regelmäßige Meldungen verdächtiger Personen erwarten. Das Programm basiert auf kollektiver Selbstkontrolle: Die Furcht vor Strafe bei Verstößen gegen die Meldepflicht ist die Voraussetzung des Funktionierens. Auf diese Weise hat sich die Meldepraxis zu einem zusätzlichen bürokratischen Leistungsindikator entwickelt, durch den demonstriert werden soll, dass eine Institution das Programm auch tatsächlich umsetzt und jene schützt, die als anfällig gegenüber „extremistischem“ Einfluss gelten. Damit werden potenziell alle zu PolizistInnen und gegebenenfalls gleichzeitig zu Polizierten. Eine unzureichende Befolgung der Vorgaben kann professionelle Karrieren oder das Ansehen einer Institution gegenüber ihren GeldgeberInnen gefährden. Beim Personal staatlicher Schulen sind Inspektionen durch das Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills (Ofsted) generell sehr gefürchtet.
Die PREVENT-Meldepflicht wurde zwar erst 2015 explizit verrechtlicht. Sie wirkte aber bereits vorher, weil sie sich mit den Regelungen des Gesetzes zum Schutz verletzlicher Gruppen (Safeguarding Vulnerable Groups Act 2006) überschnitt. Aufgrund dieses Gesetzes sind staatliche Zuverlässigkeitsüberprüfungen selbst für banale Tätigkeiten zwingend. Was ursprünglich Kinder vor Missbrauch schützen sollte, löste aggressive PREVENT-Maßnahmen aus, die zur Schikanierung sowohl von Kindern als auch Erwachsenen führten. So entpuppt sich der vorgeblich wohlmeinende „Schutz“, den das Gesetz bieten soll, als Schnüffelei, Bespitzelung und Denunziation. Er kulminiert in Maßnahmen, die nur sehr unscharf bestimmt sind, aber einer Art „Umerziehung“ gleichkommen.[11]
Zusätzlich speist sich das Meldewesen zu verdächtigen „Extremisten“ aus islamophoben Stereotypen und verstärkt diese. Das gesamte Verfahren schafft ein Klima der Angst – Angst, dass Menschen gemeldet werden könnten für irgendwelche Dinge, die sie sagen, dass Studierende diszipliniert werden für ihre Weigerung sich „deradikalisieren“ zu lassen, dass Menschen über längere Zeit stigmatisiert werden, dass Eltern ihre Kinder weggenommen werden etc. Angesichts der Tatsache, dass viele SchülerInnen und Studierende sich eingeschüchtert fühlen, besteht die Gefahr, dass Menschen nicht länger Hilfe suchen, wenn sie Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit haben, oder dass Hilfesuchende ins Raster der Überwachung geraten oder sanktioniert werden.[12]
Der Widerstand braucht Solidarität
Das flächendeckende Melden von „Extremismusverdächtigen” schafft seine eigene Beweisgrundlage, die im Umkehrschluss das Programm rechtfertigt. Diese zirkuläre Logik ist integraler Teil des gesamten „Krieges gegen den Terror“. Als JournalistInnen fragen, ob Präsident George W. Bush wirklich reale terroristische Bedrohungen bekämpfe, erklärte sein Berater Karl Rove ihnen, dass sie in einer „reality-based community“ lebten, während er zu einem Imperium gehöre, das sich seine eigene Realität schaffe.[13] Ein sich solchermaßen selbst bestätigendes Programm umgeht skeptische Fragen zur Tragfähigkeit und Geeignetheit von Maßnahmen zur Bekämpfung von „Extremismus“, der eine beliebig erweiterbare Kategorie darstellt.
Die Kontrolle und Überwachung von „Extremismus“ und „Radikalisierung“ hat neue Indikatoren für die Leistung und Effizienz staatlicher Organisationen etabliert und gleichzeitig den Begriff „radikal“ diskreditiert. Während das Wort ursprünglich für das kritische Hinterfragen der Ursachen sozialer Probleme stand, erhält es nun eine verächtliche Note. Der Publizist Arun Kundnani schreibt: „Das Konzept der Radikalisierung hat sich zum beherrschenden Thema des späten ‚Krieges gegen den Terror‘ entwickelt.“[14] Potenziell jedeR wird mobilisiert zur gegenseitigen Überwachung und Kontrolle. Diskussionen oder andere Anlässe, die einen Verdacht „auslösen“ könnten, werden vermieden.
Andere argumentieren, dass sich dahinter eine umfassendere Agenda verbirgt, die Konformität im Erziehungssystem durchsetzen soll: Wenn „Radikalisierung“ an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen ausdrücklich auf die gleiche Stufe gestellt wird wie sexuelle Ausbeutung, Kriminalität, Drogenmissbrauch oder Kindesvernachlässigung und auch so kontrolliert wird, dann überrascht es nicht, dass sowohl akademische Studien als auch Medienrecherchen festhalten, dass Studierende ängstlich geworden sind, ihre Meinung zu sagen und als „radikal“ abgestempelt zu werden.[15]
Bislang gab es kaum offizielle Reaktionen auf solche Kritik. Wie William Davies allgemeiner über den Neoliberalismus notiert, haben strafende Maßnahmen „eine unbarmherzige Form“ angenommen. Sie sind an die Stelle „begründeter Diskurse getreten und ersetzen damit die Notwendigkeit der hegemonialen Formierung eines Konsenses.“ Leere Bestätigungen der guten Absichten werden ritualisiert wiederholt. „Macht versucht heute die öffentliche Sphäre zu umgehen, um die Beschränkungen durch kritische Nachfragen zu vermeiden.“[16] Die staatlichen Absichten lassen sich nicht offen rechtfertigen, da namentlich die Agenda der Extremismusbekämpfung demokratische Rechte unterminiert, öffentliche Debatten über die britische Außenpolitik unterdrückt und von der eigenen Schuld ablenkt.
Viele KritikerInnen des PREVENT-Programms suchen nach Alternativen für eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus und Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Personen. Zahlreiche muslimische Gruppen haben hierzu Vorschläge gemacht. Allerdings werden ihre Bemühungen durch die staatliche Politik unterminiert. Die behördliche „Extremismusbekämpfung“ kooptiert nur wenige Organisationen, wie etwa die umstrittene Quilliam Foundation, ein von AussteigerInnen aus der islamistischen Szene gegründeter „anti-extremistischer“ Think Tank. Diese wirken als Echokammern der Regierungspolitik, während andere Stimmen ausgeschlossen bleiben.
Als die Regierung ihre Pläne ankündigte, Meldepflichten im Rahmen von PREVENT einzuführen, artikulierten Protestkampagnen ihre Kritik mit Slogans wie „LehrerInnen und AusbilderInnen, nicht InformantInnen!“ oder „Studierende, nicht Verdächtige!“.[17] Sie hoffen, Unterstützung zu mobilisieren für Menschen, die die Kooperation mit den Behörden verweigern und das ganze Verfahren infrage stellen. Ihr Widerstand braucht Schutz durch sichtbare und stetige Solidarität. Sie kann auch einen Beitrag gegen die routinemäßige Bestrafung und Sanktionierung leisten, welche das gesamte „Antiterror“-Regime antreibt.